Für Alice

Einleitung

Liebe Leserinnen und Leser,

gehören auch Sie zu den Menschen, die ihren persönlichen und / oder beruflichen Weg aus den Augen verloren haben? Haben Sie das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken? Vielleicht sind Sie unzufrieden und drehen sich im Kreis; wissen nicht, ob Sie gehen oder bleiben sollen und ob die Entscheidung, zu der Sie tendieren, tatsächlich die richtige ist. Sie empfinden Leidensdruck aufgrund der aktuellen Situation und haben dennoch Angst vor einer Veränderung? Sie können nicht genau sagen, was Ihnen fehlt oder woher Ihre Unzufriedenheit rührt? Sie sind unsicher und wissen nicht, was Sie wollen – oder gar können – und wie Sie eine Veränderung initiieren sollen? – Dann begeben Sie sich mithilfe dieses Buches auf eine ganz persönliche Zeitreise und lassen Sie sich überraschen, was in Ihnen steckt!

Den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, über welche Möglichkeiten sie verfügen. Unsere frühen Prägungen haben oftmals unsere Potenziale untergraben. Sie wurden verdrängt oder abgespalten, weil sie nicht gefragt, nicht erlaubt oder nicht erwünscht waren. „Kinder mit einem Willen kriegen was auf die Brillen!“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ oder „Sei sittsam und bescheiden, das ist die schönste Zier, dann kann dich jeder leiden, und dieses wünsch ich dir“ sind möglicherweise früh übernommene Glaubenssätze, die uns noch heute beeinflussen und boykottieren können. Wir wissen nicht mehr, was wir wollen, weil wir den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen und Impulsen verloren haben. Wir zeigen keine Gefühle, weil diese uns selbst fremd geworden sind, und verhalten uns anspruchslos und angepasst. So bewegen wir uns jedoch mit angezogener Handbremse durchs Leben. Unsere in uns schlummernden Talente liegen brach. Dabei geht es im Leben doch darum, Veränderungen kraftvoll und selbstbestimmt zu gestalten, gute Entscheidungen zu treffen und neue Pfade zu gehen, zu sich zu stehen, mit Rückschlägen konstruktiv umzugehen, mit unliebsamen Gewohnheiten zu brechen oder gesetzte Ziele zu verfolgen.

Es muss also etwas anders werden, damit sich die Unzufriedenheit in Zufriedenheit und innere Ruhe verwandelt.

Seit über drei Jahrzehnten beschäftige ich mich mit persönlicher und beruflicher Entwicklung. In meiner Arbeit als Beraterin und Ausbilderin begegnen mir viele Menschen, die in Sackgassen feststecken und wieder Vertrauen in ihre eigene Selbstwirksamkeit gewinnen möchten, die sich fragen: „Wer bin ich eigentlich?“ und „Wohin möchte ich mich verändern?“. Sie wünschen sich Gewissheit, all ihre Potenziale und Talente im Leben auszuschöpfen.

Talent bezeichnet hier die Fähigkeit und generelle Anlage eines Menschen, sein Leben autonom und stimmig zu gestalten.

Talent meint im Volksmund in der Regel eine besondere Begabung mit hervorstechenden Merkmalen, die nicht selten geldwerte Vorteile bringt. Es herrscht dabei heute noch der Mythos eines begnadeten Genies vor, dem alles ohne Mühen zufliegt. Wenn ich in diesem Buch von Talenten spreche, verbinde ich damit allerdings keine außerordentliche Begabung oder besondere Leistungsvoraussetzung einer Person auf einem bestimmten Gebiet. Es geht nicht um Talente, die sich mit genetischer und sozialisationsbedingter Unterstützung als überdurchschnittliche Fähigkeiten zeigen, die dann durch Übung weiter gefördert werden. So möchte ich Talente an dieser Stelle nicht verstanden wissen, sondern vielmehr als generelle Anlage und die Befähigung eines Menschen, sein Leben mit all seinen Herausforderungen zu meistern und dabei seine Fähigkeit zu denken, zu fühlen und zu handeln zu nutzen, um stimmige Lösungen zu kreieren.

Latente Talente sind ungenutzte und im Verborgenen liegende Potenziale des Denkens, Fühlens und Handelns.

Ich gehe davon aus, dass in jedem von uns von Geburt an ein unverwechselbares Wesensmuster angelegt ist. Wir reifen heran zu dem, was den Kern unserer Identität ausmacht, sofern uns die Gelegenheiten dazu gegeben sind und wir die Chancen nutzen, die uns das Leben bietet. Wir sind nicht nur ein von außen determiniertes Wesen, und wir sind nicht nur abhängig von Genetik und soziokulturellen Faktoren. Wir haben die Wahl, den Spuren unseres Wesens und unserer Talente zu folgen. Dabei muss unsere Talententwicklung nicht zu etwas Spektakulärem führen, wie etwa zu bahnbrechenden physikalischen Erkenntnissen im Ausmaß der Relativitätstheorie oder zu grandiosen Kompositionen wie die von Mozart. Talente auszuleben und sich zu etwas berufen zu fühlen kann auch bedeuten, dass Sie Ihren kreativen oder mathematischen Begabungen nachgeben, dass Sie verantwortungsvoll für Ihre Großmutter sorgen oder eine Familie gründen. Vielleicht entspricht es Ihrem Wesensmuster, eine bestimmte Lebensart zu pflegen oder einem bestimmten Hobby nachzugehen. Um seelisch und körperlich gesund zu bleiben, gilt es, unser Wesen zu respektieren und mit uns in Einklang zu bringen. Manche Prägungen drängen uns jedoch von diesem Kurs ab. Und damit geraten auch unsere Talente aus dem Fokus. Und werden zu sogenannten latenten Talenten. Unter latenten Talenten verstehe ich verdeckte, verhüllte, schlummernde, unbewusste, ungenutzte und im Verborgenen liegende Befähigungen, Anlagen und Potenziale des Denkens, Fühlens und Handelns. Um unsere Authentizität zu wahren, gilt es, unsere in uns schlummernden Talente zu entdecken, zu entwickeln und auszuschöpfen.

Die meisten Menschen tragen eine Sehnsucht in sich, ihr Leben so zu verändern, dass sie das Gefühl haben, „heil“ zu sein, wie es einmal eine Klientin ausdrückte. Dieses Buch ist ein Leitfaden und Arbeitsbuch für Menschen, die ihre eingefahrenen Sackgassen überprüfen und die ihre Blicke auf (nicht genutzte) Chancen und (nicht gelebte) Potenziale richten möchten; Menschen, die Lust auf Veränderung haben; die ihr Leben wieder in Passung mit ihrem Wesenskern bringen und es in Verbindung mit ihren äußeren Umständen gestalten wollen.

Sie werden zu einer persönlichen Zeitreise eingeladen, Ihr Leben im Heute zu reflektieren, mit Erfahrungen von gestern umzugehen und Visionen für morgen zu entwickeln. Und dabei soll die Wahrnehmung des bereits Gelungenen nicht außer Acht gelassen werden. Entdecken Sie Ihre verborgenen Talente, um mit deren Hilfe gute Entscheidungen zu treffen, Ihre persönlichen und beruflichen Herausforderungen zu meistern und stimmige und aktuelle Lösungen für unterschiedliche Problemlagen zu kreieren. Dazu spüren Sie aktuelle Störfaktoren auf und prüfen, was für Sie und Ihre Veränderungsprozesse jeglicher Art hilfreich sein könnte: die Komfortzone verlassen, sich von alten Sehnsüchten verabschieden und unsere Potenziale in den Erinnerungen entdecken. Sie entdecken den roten Faden in Ihrem Leben, der sich als Grundmuster Ihrer Persönlichkeit durch Ihre Biografie zieht und der nicht mehr passende und einschränkende Glaubenssätze zum Vorschein bringt. Sie entlarven Ihre Selbstsabotageaktionen. Das heißt, Sie werfen einen Blick auf Ihre unbewusst und selbst entwickelten „Stolpersteine“, mit denen Sie sich bisher in unterschiedlichen Lebenslagen ein Bein gestellt haben, zum Beispiel, indem Sie immer wieder an den „falschen“ Partner oder in den „falschen“ Job geraten sind. Und Sie erhalten Ideen zur Auflösung dieser Glaubenssätze. Mithilfe dieses Buches finden Sie heraus, warum Sie in bestimmten Situationen immer gleich reagieren, obwohl Sie es eigentlich anders wollen, und welche psychologischen Spiele Sie dabei immer wieder unbewusst spielen. Sie entkräften die Antreiber, die Sie im Alltag stressen, und lernen, was Sie brauchen, um stimmige persönliche und berufliche Entscheidungen treffen zu können. Zum Abschluss erfahren Sie, wie Sie sicher durch Zeiten des Umbruchs und der Veränderung kommen. Für die Übergangsphase werde ich Ihnen zur Unterstützung sechs konkrete Handlungsschritte zur inneren und äußeren Neuentscheidung zur Verfügung stellen, die Sie individuell für Ihren Prozess gestalten können.

Sie werden in diesem Buch immer wieder Ausführungen zur Transaktionsanalyse (TA) finden.

Die TA wurde von dem US-amerikanischen Psychiater und Psychotherapeuten Eric Berne (1919–1970) auf der Basis tiefenpsychologischer und verhaltenstheoretischer Ansätze entwickelt. Die TA fördert die Wahrnehmung des eigenen Erlebens, Denkens und der Emotionen und lädt zur Realitätsüberprüfung ein: Stammt mein Fühlen, Denken und Handeln aus dem Gestern oder ist es stimmig mit mir als Person und mit meiner heutigen Lebenswelt? In einfachen Worten umschrieben, bietet die TA Erklärungen für komplexe Sachverhalte in Ihrem Leben. Sie schärft den Blick für das Wesentliche.

Wenn Transaktionsanalytiker auf soziale Interaktionen oder einzelne Personen schauen, leitet sie die Überzeugung, dass Menschen von ihrem Wesen her in Ordnung sind und jeder die Fähigkeit hat zu denken. Transaktionsanalytiker gehen davon aus, dass es jedem Menschen möglich ist, durch das Nutzen seiner ihm innewohnenden Ressourcen autonome Entscheidungen für sich und andere zu fällen und die Verantwortung für diese Entscheidungen zu tragen. Damit verbunden, leitet sich die Lern- und Veränderungsfähigkeit eines jeden Menschen ab. Die Transaktionsanalyse hat das Ziel, Menschen darin zu unterstützen, ein selbst gestaltetes, selbst verantwortetes und autonomes Leben in Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt zu führen. Dazu benutzen wir unsere Fähigkeit zur Bewusstmachung der momentanen Gegebenheiten und unsere Fähigkeit, aus einer Bandbreite verschiedener energetischer Zustände auszuwählen. Diese als Spontaneität bezeichnete Fähigkeit beinhaltet eine Flexibilität, mit der wir in der Lage sind, Alternativen im Fühlen, Denken und Verhalten zu kreieren und im Hier und Jetzt zu handeln. Wir können frei auswählen und entsprechende unterschiedliche Reaktionsmuster einsetzen, ohne auf festgefahrene Erlebens- und Verhaltensmuster zurückzugreifen. Dabei sind wir bereit, uns auf einen echten emotionalen Kontakt mit anderen Menschen einzulassen. Diese Form von Intimität erlaubt es uns, Beziehungen und Begegnungen mit anderen zu gestalten, die frei von Spielen und Manipulationen sind. Wir können Nähe und Zuwendung geben und annehmen. Autonomie wird als „bezogene Autonomie“, die den Menschen in seiner Verantwortung als Teil der Welt darstellt, angesehen. Die TA bietet Instrumente zur Analyse und stellt Strategien zur Veränderung von inneren und äußeren Prozessen zur Verfügung.

Im Folgenden werden Sie die grundlegenden Konzepte der TA kennenlernen sowie Fallbeispiele, Erfolgsgeschichten, Tests und Anregungen zur Selbstreflexion erhalten, mit deren Hilfe Sie Ihre Verhaltensmuster untersuchen, verstehen und verändern können.

Ebenso kann dieses Buch auch von Beratern und Coaches in der Beratungspraxis eingesetzt und zum Thema persönliche und berufliche (Neu-)Orientierung und Entwicklung genutzt werden.

Je nachdem, an welchem Punkt Sie sich gerade befinden, können Sie das Buch chronologisch oder auch abschnittsweise lesen.

Aus Gründen der Lesefreundlichkeit verwende ich die männliche Form, wenn männliche wie weibliche Personen gemeint sind.

Zum persönlichen Schutz der Klienten sind alle Namen von Personen und Daten, die in diesem Buch als Anwendungsbeispiele verwendet werden, von mir geändert worden.

1. Alter Trott oder neue Wege? Wie Veränderung gelingt

1.1 Die Komfortzone verlassen

Sich in einer „Alles ist möglich“-Gesellschaft zurechtzufinden erfordert neue Kompetenzen im Umgang mit sich selbst.

Denken Sie gerade intensiv über Ihre aktuelle private und berufliche Lebenssituation nach? Haben Sie Lust, die Ziele, die Sie verfolgen, zu überprüfen? Glauben Sie, dass in Ihnen noch verdeckt liegende Potenziale schlummern, und möchten Sie Ihren latenten Talenten auf die Spur kommen? Dann sind Sie in guter Gesellschaft! Das Bedürfnis nach Sinnerfüllung in Beruf und Privatleben entspricht inzwischen dem Zeitgeist. Das an sich ist völlig legitim und nachvollziehbar. Im Zeitalter des „Anything goes“ haben wir jedoch fast unendlich viele Wahlmöglichkeiten und stehen vor ganz individuellen Entscheidungen, wie wir unser privates und berufliches Leben gestalten wollen. In unserer mobilen Gesellschaft sind die unterschiedlichsten Lebens- und Arbeitsformen erlaubt. Lebensläufe sind nicht mehr vorgegeben, und entscheidende Veränderungen sind in jedem Lebensalter möglich. Identitäten können frei gewählt werden und laden Menschen zu stetigen Anpassungsleistungen ein. Was ein gelungenes Leben bedeutet, steht jedem frei, selbst zu entscheiden.

In meiner Arbeit erlebe ich die Freude vieler Frauen und Männer über ihre unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten und gleichzeitig ihre damit verbundene Verunsicherung. Die große Auswahl an Lebensentwürfen bietet uns eine bisweilen verwirrende Vielfalt. Viele scheinen erschöpft zu sein ob des stetigen Entscheidungsdrucks und des empfundenen Zwangs, dauerhaft ihr Wohlgefühl zu maximieren.

Um der Dynamik um uns herum gewachsen zu sein und ihr standzuhalten, ist es hilfreich, sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen und das Leben so zu gestalten, dass wir im Einklang mit uns selbst und der Umwelt leben. Trotz oder gerade wegen der rasanten Veränderungen im Außen ist es wichtig, eine innere Stabilität zu wahren. Sonst werden wir zum Spielball der äußeren Verhältnisse. Psychische Widerstandsfähigkeit, die sogenannte Resilienz, erlangen wir unter anderem, indem wir uns mit der eigenen Biografie aussöhnen und unsere Potenziale ausschöpfen.

Resilienz

Der Begriff Resilienz leitet sich vom lateinischen Verb „resilio“ ab, was so viel bedeutet wie „zurückspringen“ (Belastbarkeit, Spannkraft, Widerstandskraft, Elastizität). Resilienz beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, Selbstbewusstsein aufzubauen und die innere Balance zu halten, um auch in und nach Krisensituationen Druck oder Stress ohne Schaden aushalten.

Resilienz wird im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion erworben. Die Wurzeln werden dabei durch sogenannte protektive Schutzfaktoren gesetzt, die die Wirkung von Risikofaktoren beeinflussen. Diese Faktoren können sowohl in der Person des Kindes als auch in seiner Lebensumwelt gesetzt sein:

Als eine der ersten Forschungen zum Thema Resilienz gelten die Untersuchungen der amerikanischen Entwicklungspsychologin Emmy Werner. Sie beobachtete die Entwicklung von Kindern der Insel Kauai (Hawaii) bis zu deren 40. Lebensjahr. Besonders interessierte sie sich für die Kinder aus sozial schwachen Familien und fand dabei heraus, dass zwei Dritteln dieser Kinder später kein geregeltes Leben gelang. Einem Drittel aber war im Erwachsenenalter die schwierige Kindheit nicht mehr anzumerken. Diese resilienten Kinder waren laut Werner flexibel, ausgeglichen und wenig ängstlich (Welter-Enderlin & Hildenbrand, 2012; Gruhl, 2014).

Das klingt zunächst recht simpel. Wie oft haben Sie schon gehört, dass Sie „einfach nur“ Sie selbst sein sollen und auf sich hören müssen, um ein authentisches Leben führen zu können? Aber so einfach ist es für viele Menschen eben nicht, da ihnen das Entscheidende fehlt: Die Erkenntnis, wer sie sind. Sie kennen ihre Potenziale nicht, und auch ihre inneren Motive sind ihnen fremd.

Um das subjektiv „Beste“ in uns zu entdecken, lohnt es sich, unsere Komfortzonen zu verlassen. Und es lohnt sich, unsere Persönlichkeit infrage zu stellen und lieb gewonnene Gewohnheiten abzulegen. Um Platz machen zu können für das Neue in uns.

„Und plötzlich weißt du: Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.“
(Meister Eckhart)

Wir können auch als Erwachsene unsere Resilienzfaktoren fördern, wenn wir sie als Kind nicht erworben haben. Beispielsweise können Sie in diesem Buch herausfinden, wie die Muster, mit denen Sie die Welt erfassen, Ihre Reaktionen auf Stress- und Entscheidungssituationen prägen. Ganz im Sinne von Aaron Antonovsky (1997), einem israelisch-amerikanische Medizinsoziologen, geht es darum, Ihr Kohärenzgefühl zu stärken. Das Kohärenzgefühl ist eine Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß Sie ein Gefühl des Vertrauens darauf haben, dass Ereignisse und Dinge, die sich im Lauf Ihres Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehbarkeit), Ihnen Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen dieser Ereignisse und Dinge zu begegnen (Bewältigbarkeit), und dass diese Anforderungen allesamt Herausforderungen sind, die Ihre Anstrengung und Ihr Engagement wert sind (Sinnhaftigkeit).

Im Zusammenhang mit Persönlichkeits- und Potenzialentwicklung ist auch die Frage interessant, ob unsere Persönlichkeit eigentlich festgelegt ist – oder in welchen Bereichen und in welchem Ausmaß wir uns oder unsere Charaktereigenschaften verändern können. Damit verbunden sehe ich auch die Frage, auf welche Weise wir Menschen an unsere Potenziale herankommen. Können wir überhaupt etwas entwickeln, das nicht da ist? Und wenn es vorhanden ist – als im Verborgenen liegende Ressource angelegt –, wie kommen wir dann an die Potenziale heran und können sie „ent-wickeln“?

Unterschiedliche Erklärungsansätze gehen heutzutage davon aus, dass unsere Persönlichkeit teilweise genetisch verwurzelt und teilweise durch Sozialisation geprägt ist. Ruhen Sie sich bitte nicht darauf aus, dass Sie dieses oder jenes vererbt bekommen haben oder dass Sie unwiderruflich durch Ihre Familie geprägt wurden. Diese Sichtweise würde uns jeglicher Freiheit berauben und uns zu Sklaven unserer Gene und Sozialisation machen. Unsere Persönlichkeit und damit auch unsere Lebensweise wären in diesem Fall durch innere (genetische) und äußere (sozialisierte) Vorgaben (vor-)bestimmt und eingeschränkt. Manche Persönlichkeitsanteile werden sicherlich immer unverändert bleiben. Sie werden als leiser Mensch nicht von heute auf morgen zu einem lauten Menschen werden. Aus einem extravertierten Menschen wird kein introvertierter Mensch. Wir haben aber die Gabe, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften flexibel und zeitlich begrenzt einzusetzen, auch wenn sie unserer Natur wiedersprechen. So mussten Sie vielleicht auch schon einmal vor einer größeren Ansammlung von Menschen eine Rede halten, obwohl Sie solche Auftritte nicht sonderlich mögen. Mir geht es jedoch nicht um solche strategisch konstruierten und zeitlich begrenzten Aktionen, die wider unsere Natur sind. Es geht darum, dass Sie sich Ihren bisherigen Prägungen entgegenstellen und diese hinterfragen. Es ist möglich, über die beiden Einflussfaktoren Gene und Umwelt hinaus unsere individuellen Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu verändern und die darin liegenden Potenziale ans Tageslicht zu bringen.

Lassen Sie uns mit einer Übung zur Potenzialentwicklung beginnen, und spüren Sie nach, ob Ihre Komfortzone dadurch berührt wird.

Bei der folgenden und allen anderen praktischen Übungen in diesem Buch sind Sie eingeladen, in Ihrem eigenen Tempo zu arbeiten und diesem entsprechend Pausen einzulegen, bevor Sie weiterlesen. Manche Fragestellungen und Anregungen benötigen vielleicht ein wenig mehr Zeit, damit das Gelesene und von Ihnen Geschriebene „sacken“ kann. Unterbrechen Sie dann gern die Aufgaben, gehen Sie spazieren oder unterhalten Sie sich mit einem lieben Menschen über Ihre Gedanken. Die Antworten auf die Fragen zur Selbstreflexion und zum Selbstanalysebogen werden Sie zu einer sehr persönlichen Zeitreise einladen. Sie identifizieren Ihre Schwachstellen und neuralgischen Punkte als auch Ihre Stärken und Ressourcen. Gehen Sie bitte nachsichtig und milde mit sich um. Alles, was Sie bisher entwickelt haben, hatte seinen Sinn und Zweck und seine Berechtigung zu seiner Zeit. Ich finde, es verdient eine Würdigung, dass Sie Ihr Leben auf Ihre eigene Art und Weise bis hierhin und heute gestaltet haben.

Die erste Anregung zur Selbstreflexion finde ich sehr wirksam, wenn es darum geht, unsere persönlichen Komfortzonen zu verlassen. Hinterfragen Sie Dinge, von denen Sie glauben, sie nicht zu können, oder von denen Sie glauben, sie tun zu müssen.

 Anregung zur Selbstreflexion 1

„Ich kann nicht“ und „Ich muss“

Schauen Sie auf Ihre derzeitige Lebenssituation und auf all das, was Sie meinen, nicht zu können. Typische Antworten wären zum Beispiel: „Ich kann diese Ungerechtigkeiten von X nicht mehr ertragen“ oder „Ich kann nicht Klavier spielen“. Lassen Sie sich Zeit und schreiben Sie so viele Sätze, wie Sie mögen, zu diesem Satzanfang auf.

Ich kann nicht …

Denken Sie nun an Dinge, von denen Sie glauben, dass Sie sie tun müssen. Zum Beispiel: „Ich muss jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen und zur Arbeit gehen“ oder „Ich muss nachgiebiger werden“. Schreiben Sie einfach alles das auf, was Ihnen spontan aus Ihrem privaten und beruflichen Bereich einfällt:

„Ich muss …“

„Ich will nicht“

Wiederholen Sie nun bitte Ihre Ich-kann-nicht-Sätze und ändern Sie sie um in Ich-will-nicht-Sätze (z. B. „Ich will diese Ungerechtigkeiten von X nicht mehr ertragen“).

„Ich entscheide mich“

Wiederholen Sie nun Ihre Ich-muss-Sätze und ändern Sie sie um in Ich-entscheide-mich-Sätze (z. B. „Ich endscheide mich, jeden Morgen um sechs Uhr aufzustehen“).

Welche Auswirkungen hat das Ersetzen der Formulierung „Ich muss …“ durch „Ich entscheide mich …“ für Sie? Was verändert sich dadurch für Sie? Warum ergeben die Änderungen für Sie einen Sinn und warum nicht?

Haben Sie gemerkt, welchen Unterscheid der Austausch von „Ich kann nicht“ durch „Ich will nicht“ macht?

Einige Sätze bleiben natürlich in ihrer Wirkung bestehen und lassen sich durch die neuen Satzanfänge kaum umwandeln (zum Beispiel: „Wir müssen alle sterben“). In meinen Seminaren kommt daher zu Recht immer wieder die Frage auf, ob es nicht auch Muss-Sätze gibt, die bleiben, weil wir keine Wahl haben. Es gibt tatsächlich einige Sätze, bei denen ein „Ich entscheide mich“ infrage zu stellen wäre. So wie in dem angegebenen Beispiel. Doch wir haben trotz aller Bedingtheit immer die Wahl. Auch in größter Eingeschränktheit können wir bis zuletzt entscheiden, wie wir den jeweiligen Situationen begegnen. Beim Thema Sterben wäre es interessant, darüber nachzudenken, wie viel leichter wir „gehen“ könnten, wenn wir uns bewusst dazu entscheiden würden.

 

Als ich die obige Übung vor vielen Jahren in einem Seminar das erste Mal anbot, formulierte eine Teilnehmerin, die selbst als Trainerin arbeitete, den Satz: „Ich kann nicht vor großen Menschenmengen reden.“ Daraus wurde dann: „Ich will nicht vor großen Menschenmengen reden.“ Ihr fiel ein Stein vom Herzen, weil sie damit eine bewusste Willensäußerung machte, dann eine Entscheidung traf und es somit nicht mehr um ein Defizit ging: Ich will nicht und ich entscheide mich, nicht vor großen Massen von Menschen zu reden, weil es nicht meinem Wesen entspricht. (Eine alternative Formulierung könnte lauten: Ich entscheide mich, wann, wie häufig und wo ich es tue, weil es zu meinem Beruf gehört.)

Ende der 90er-Jahre begannen viele Trainerinnen eine Ausbildung zum „Speaker“ und stürmten auf die großen Bühnen. Dadurch entstand bei vielen Kolleginnen und Kollegen ein großer Erfolgsdruck, es ihnen gleichzutun. So auch bei meiner Teilnehmerin. Wie eine innere Erlaubnis, es auf ihre eigene Art zu tun oder zu lassen, wurde daher die Aussage „Ich will nicht“ empfunden. Sie macht selbstbestimmter. Dieses selbstbestimmte „Ich will nicht“ lag zuvor im Verborgenen und war ein latentes Talent, bevor es zum Vorschein und zum Einsatz kam und dadurch sichtbar wurde. Eine Fähigkeit also, die bis dahin nicht genutzt wurde.

Durch die vorausgegangene Übung wird unsere Komfortzone „irritiert“, und wir werden auf die Macht der Worte aufmerksam gemacht. Durch den Austausch von nur einem Verb können Sie Haltung und Gefühl zu einer Situation oder einer Begebenheit verändern! Und damit auch Ihr Verhalten. Sie bringen sich in Kontakt mit Ihren Potenzialen. In den Sätzen, die mit „Ich will nicht“ und „Ich entscheide mich“ beginnen, zeigt sich Ihre Fähigkeit, bewusst und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Etwas nicht zu wollen entspringt einer anderen Haltung, als etwas nicht zu können. Etwas tun zu müssen beinhaltet eine andere Haltung, als sich für etwas zu entscheiden. Haben Sie bemerkt, dass die Verantwortung und die Entscheidung dafür bei Ihnen liegen? Natürlich ziehen Entscheidungen immer Folgen und Konsequenzen nach sich. Damit dürfen wir umgehen und daraus lernen. Und darum geht es!

1.2 Sich von alten Sehnsüchten trennen

Manchmal reichen kleine Kurskorrekturen aus, um wieder Zufriedenheit zu empfinden.

Befreien Sie sich bei der Suche nach Antworten auf die Frage, worin Ihre Potenziale und Talente liegen könnten und wer Sie sind oder noch werden wollen, von überhöhten Erwartungen und äußerem Druck. Sprechen wir von Veränderungen und Potenzialentwicklung, hören wir häufig von radikalen Kurswechseln, die manche Menschen vollziehen, und von außergewöhnlichen Talenten: von der weiblichen Führungskraft, die den Cut wagt und sich als Yogalehrerin selbstständig macht, vom Banker, der sich den lang ersehnten Traum vom Eventmanager erlaubt und nun Segelkurse auf den Balearen anbietet, von der Frau, die Mann und Kinder zurückgelassen hat, um als Weltenbummlerin sich selbst zu finden. Es geht nicht darum, dem allgemeinen gesellschaftlichen „Optimierungswahn“ zu folgen. Veränderungen privater oder beruflicher Art sind oft viel weniger spektakulär. Nur wenige wechseln tatsächlich ihren Beruf oder definieren ihre Lebenskonzepte komplett neu. Manchmal kann es auch sinnvoll sein, sich von alten Sehnsüchten zu trennen. Ich werde in diesem Buch daher auch von Klienten berichten, die zunächst mit dem Wunsch nach einem Jobwechsel zu mir kamen und nach wenigen Coachingsitzungen feststellten, dass es reicht, ihren alten Beruf neu zu beleben und anders auszugestalten; oder Klienten, die nach beruflichen Pausen wieder in den alten Beruf zurückgekehrt sind.

Innerer Wandel statt Flucht!

Viele setzten ihr Potenzial ein, indem sie zum Beispiel auftretende Konflikte mit den Kollegen direkt ansprachen, statt wie bisher zu schweigen oder gar zu fliehen. Damit verabschiedeten sie sich von ihrer Sehnsucht nach Harmonie. Ich hatte Klienten, die sich inzwischen im privaten Umfeld politisch oder sozial engagieren und dadurch ihre Potenziale zum Einsatz bringen. Andere verändern lediglich ihre Aufgabengebiete, reduzieren ihre Arbeitszeiten oder qualifizieren sich weiter. Bei einem großen Teil geht es um das eigene mangelnde Selbstwertgefühl und um Ängste, die sie glauben lassen, ein Wechsel des Partners oder des Wohnorts löse ihre Probleme. Sind dann Konflikte mit dem Ehepartner oder anderen nahestehenden Personen bearbeitet, erkennen viele Menschen, dass sie in ihren alten Beziehungen recht gut aufgehoben sind. Neuorientierung bedeutet manchmal auch, eine innere Wandlung vorzunehmen, statt vor den Gegebenheiten zu fliehen.

Es bedarf nicht immer einer radikalen Veränderung, um Glück zu finden und seinen Potenzialen entsprechend zu leben. Manchmal geht es schlicht und einfach darum, Wertschätzung für Vorhandenes zu entwickeln und sich mit der eigenen Biografie auszusöhnen. Es kann außerordentlich heilsam sein, sich von (alten) Sehnsüchten zu trennen, weil sie nicht mehr zu einem passen. Wenn die Bilder, die wir von uns selbst haben, alte Bilder sind, zu groß oder nicht mehr realisierbar sind, unterliegen wir stets der Anstrengung, ihnen entsprechen zu müssen. Und damit verbunden ist möglicherweise die Angst, ihnen nicht gerecht zu werden. Ein Beispiel dazu:

Beispiel

Herr Tobias N., ein jüngerer Klient, den ich mehrere Monate begleitete, ging davon aus, dass er beruflich zufriedener wäre, wenn er aus seinem Angestelltenverhältnis heraus den Schritt in die Selbstständigkeit wagen würde. Seine Sehnsucht war verbunden mit inneren Bildern von finanzieller Unabhängigkeit, autonomer Zeitgestaltung und räumlicher Flexibilität. So weit, so gut. Diese Wünsche sind in Ordnung. „Alle um mich herum folgen erfolgreich diesem Weg“, war seine Aussage. Es stellte sich im gemeinsamen Coachingprozess jedoch heraus, dass Herr N. zum einen die Selbstständigkeit recht einseitig betrachtete und Anforderungen sowie Risiken übersah. Zum anderen speisten sich seine Vorstellungen aus den Social-Media-Kanälen, in denen der Slogan „Alles ist möglich, du musst es nur wollen“ vorherrscht. Eine Realitätsprüfung hatte nie stattgefunden. Sich schlussendlich von der Idee, sich beruflich selbstständig zu machen, zu verabschieden, erleichterte ihn. Sein Beschluss beruhte auf der Erkenntnis, dass er mit seiner Persönlichkeit und mit seinen Wertvorstellungen durchaus in einer festen Anstellung, jedoch in einer anderen Branche zufrieden sein könne. Das bedeutet nicht, dass sich Herr N. von seinen Wünschen nach Unabhängigkeit, Zeitgestaltung und Flexibilität verabschieden musste. Diese Werte ließen sich auch in anderen Kontexten leben und umsetzen.

Sich von alten Sehnsüchten zu trennen kann auch bedeuten, dass Sie Ihr Kindheitsbild korrigieren. Angenommen, Sie wollen als Kind Ärztin werden wie Ihre Mutter. Sie folgen also zunächst diesem Zukunftsbild, bis Sie als Medizinstudentin im höheren Semester immer unzufriedener und unglücklicher werden. Irgendwann müssen Sie einsehen: Es war nicht Ihre Sehnsucht, der Sie gefolgt sind, sondern Sie waren unbewusst in Ihrer Loyalität zur Mutter gebunden und wollten eine „gute Tochter“ sein.

Es ist außerordentlich heilsam, sich von alten Sehnsüchten zu trennen, weil sie nicht mehr zu einem passen.

An dieser Stelle fällt mir eine Geschichte von Janosch (1978) ein. Janosch erzählt in seinem Bestseller Oh, wie schön ist Panama von zwei Lebenskünstlern, die zeigen, dass die Erfüllung ihrer Träume immer im Kopf beginnt. Die beiden Freunde, Tiger und Bär, leben glücklich in einem Häuschen, bis sie beschließen, sich auf den Weg nach Panama zu machen, weil dort alles besser und schöner sein soll. Nach längerer Zeit und mehreren Irrungen und Wirrungen auf der Reise kommen beide, ohne es zu ahnen, wieder zu ihrem alten, inzwischen verwilderten Haus und glauben, in Panama angekommen zu sein. Sie renovieren ihr Haus und verändern das Interieur, sie besorgen sich auch ein schönes Sofa. Und sind sehr glücklich darüber, ihre Träume verwirklicht zu haben. Warum also in die Ferne schweifen, wenn das Glück so nah liegt.

Dass ein innerer Wandel statt eine Flucht heilsam sein kann, schließt jedoch nicht aus, dass es durchaus auch festgefahrene und leidvolle Situationen gibt, in denen es besser ist, sich von Arbeitsstätten oder von Menschen, die uns nicht guttun, zu lösen. Beispielsweise wenn es um Mobbing in der Firma oder Formen von Gewalt in der Partnerschaft geht. In diesen Fällen reicht zur Lösung der Probleme ein innerer Wandel oftmals nicht aus. Es braucht parallel dazu die äußere Veränderung.

1.3 Potenzial aus Erinnerungen schöpfen

„Eigentlich bin ich ganz anders – ich komme nur so selten dazu.“
(Ödön von Horvat)

Eine Potenzialanalyse kann auf unterschiedliche Weise vorgenommen werden. Die Potenzialanalysen, die ich kenne, beziehen sich in der Regel auf das Sichtbarmachen und Hervorheben von Fähigkeiten und Kompetenzen. Vom Ergebnis kann abgeleitet werden, in welchen Berufsfeldern die benannten Stärken besonders gefordert sind oder auch, welchen Führungs- und Kommunikationsstil jemand bevorzugt. Der Golden Profiler of Personality (GPOP) zum Beispiel ist ein weltweit anerkannter typologischer Persönlichkeitstest, der für den deutschen Sprach- und Kulturraum von Richard Bents und Reiner Blank entwickelt wurde und auf der Psychologie C. G. Jungs basiert. Er gibt wichtige Hinweise auf das individuelle und soziale Verhalten des Einzelnen und wird ergänzt um eine persönliche Stressskala (http://www.gpop.info). Er wird unter anderem in der Personal- und Organisationsentwicklung eingesetzt, um die Persönlichkeitsstruktur von Mitarbeitern zu erfassen. Durch einen Fragebogen mit fünf Dimensionen, in dem es um Selbsteinschätzung geht, wird die Zuordnung zu einem von 16 Persönlichkeitsmustern bestimmt. Die Erfassung von Fähigkeiten kann mit dem Anforderungsprofil eines Jobs abgeglichen und nach Übereinstimmungen ausgewertet werden. Dieses Vorgehen ist meiner Ansicht nach fehleranfällig. Lassen Sie mich das an einem persönlichen Beispiel erläutern: Meine Auswertung des GPOP entsprechend verfüge ich über hohe emotionale Kapazitäten: über einen ausgeprägten Sinn für Verpflichtung und hohe Moralvorstellungen. Sollte ich nun einen Beruf auswählen, in dem diese „Talente“ zum Einsatz kommen? Eigentlich enge ich mich mit meinem Sinn für Verpflichtung und Zuverlässigkeit auch oftmals ein. Und habe ich meine Moralvorstellungen selbst entwickelt und befolge ich sie gerne und freiwillig – oder sind es nicht eigentlich alte und von meinen Eltern übernommene Moralvorstellungen und damit Relikte der Vergangenheit?

Wie sieht es bei Ihnen aus? Sollten Sie zum Beispiel davon überzeugt sein, dass Sie kreativ sind, würden Sie es in einem Test wie dem GPOP sicherlich ankreuzen. Tatsächlich ist es aber vielleicht so, dass es Sie überfordert, in der Firma regelmäßig neue Ideen zu produzieren. Es strengt Sie sogar sehr an. Früher wurden Sie für Ihre tollen Ideen von Ihrem Vater gesehen und gelobt, heute spüren Sie dagegen Ihre darunterliegenden Bedürfnisse nicht, sondern machen einfach immer „kreativ“ weiter. Sie nehmen entsprechende Aufträge an und werden dadurch immer unzufriedener.

Unser aktuelles Selbstbild ist mit unserer Vergangenheit verbunden.

Wir Menschen haben zu einem frühen Zeitpunkt in unserem Leben ein Bild davon entwickelt, wer und wie wir sind. Persönlichkeitstests kategorisieren den Menschen und geben wieder, was der Mensch aktuell über sich selbst denkt – aber nicht, wie er zwangsläufig sein muss. Ebenso wie die Tests in diesem Buch helfen solche Auswertungen, sich besser zu verstehen und persönlich zu verorten. Wichtig ist jedoch zu berücksichtigen: Die Art und Weise, wie Sie sich darstellen und wie Sie Fragen in diversen Tests beantworten, ist geprägt durch Ihr Selbstbild, entspricht also Ihrem Bild von sich selbst, das Sie im Lauf der Zeit durch Ihre Erfahrungen entwickelt haben und das mit Ihrer Vergangenheit verbunden ist. Das Ergebnis spiegelt also Ihre Wahrheit wieder, der nur allzu oft ungeprüft und undifferenziert Glauben geschenkt wird.

Sie geben im Selbstanalysebogen zum Beispiel der Aussage „Es fällt mir schwer, um das zu bitten, was ich brauche“ eine hohe Punktzahl. Sie haben demnach Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen und anderen Menschen mitzuteilen, dass Sie Unterstützung benötigen. Wie kommen Sie darauf? War das schon immer so? Möglicherweise haben Sie schon sehr früh die Erfahrung gemacht, dass es sich nicht lohnt, um Hilfe zu bitten, da Sie diese von wichtigen Bezugspersonen nie oder nur sehr selten bekommen haben. Vielleicht wurden Sie als Kind auch beschämt oder gar ausgelacht, wenn Sie zeigten, dass Sie etwas nicht alleine durchführen konnten und aus diesem Grund nach Hilfe fragten. Diese Erfahrungen und Erinnerungen aus der Vergangenheit leiten Sie bis heute. Sie glauben weiterhin, dass Ihnen Unterstützung vorenthalten wird, ungeprüft von neuen Erfahrungen, die Sie vielleicht machen (oder machen könnten, wenn Sie doch einmal um Hilfe bitten würden).

Erinnerungen ändern sich durch neue Erfahrungen, und damit verändert sich auch die Betrachtungsweise, wie wir uns erinnern.

Doch woher wissen Sie eigentlich, ob Ihre Erinnerungen wahr sind? Die Gedächtnisforschung (Hüther 2013) ist zu dem Ergebnis gelangt, dass Erinnerungen plastisch sind, sich also wandeln können und nicht immer deckungsgleich mit dem ursprünglich Erlebten sind. Wir nehmen im erinnernden Erzählen Aspekte neu hinzu, lassen Dinge weg und formen so das Geschehene. Erinnerungen sind Neu-Schaffungen. Das bedeutet, dass Erinnerungen sich durch neue Erfahrungen ändern und sich damit auch die Betrachtungsweise verändert, wie wir uns erinnern. Erinnerungen werden also durch die Brille, durch die wir uns heute sehen und darstellen, beeinflusst. Und damit prägen sie auch unsere Erwartungen an die Zukunft. In Kapitel 4 werden Sie mehr über die „Bibliothek Ihrer Erinnerungen“ erfahren. Sie werden eingeladen zu überprüfen, wie die jeweiligen Erinnerungen und Geschichten zu Ihrem aktuellen Selbstbild passen und ob sie Ihnen noch entsprechen. Gleichfalls können Sie Ihren Geschichten nicht beachtete oder noch nicht genutzte Fähigkeiten, Ressourcen und Potenziale entnehmen.

Sie erkennen möglicherweise, was Sie von den Selbstbeschreibungen, die Sie von vergangenen Ereignissen und Erlebnissen ableiten, „behalten“ möchten, weil Sie es als förderlich erleben und weil es tatsächlich Ihrem Wesen entspricht, und was Sie im Zuge der Potenzialanalyse und einer Neuorientierung „umschreiben“ möchten.

Möglicherweise haben Sie bisher von sich geglaubt, nicht singen zu können, weil Ihnen noch der Satz von früher in den Ohren klingt: „Singen solltest du besser anderen überlassen, mein Kind.“ Dabei würde es Ihnen heute sehr guttun und Freude bereiten, in einem Chor oder in einer Gemeinschaft zu singen und sich aus vollem Herzen auszudrücken. Denn singen kann jeder. Auch Sie!

Vielleicht haben Sie aber auch vergessen, dass Sie früher als Jugendlicher Menschen mit Ihren (Reise-)Geschichten begeistern konnten. Hier liegen Ihre noch ungenutzten Potenziale, die Sie in Ihrem derzeitigen Job nutzen können.

Finden Sie Ihre eigenen Beispiele!

2. Der (Un-)Zufriedenheit auf die Spur kommen

2.1 Persönliche und berufliche Standortanalyse

Die Menschen, die zu mir in die Beratung kommen, sind unzufrieden in ihrem Job oder mit ihrem Leben allgemein. Sie wollen, dass etwas anders wird, können aber noch nicht konkret benennen, was. Die Frage, was sich ändern soll oder was sie statt der aktuellen Situation lieber hätten, bringt viele zunächst ins Grübeln. Sie kennen ihre Ziele noch nicht. Ihre Anliegen und das, was sie innerlich und äußerlich bewegt, sind noch unklar.

Manch einer kommt mit einem scheinbar klaren Anliegen, beispielsweise zusammengefasst in der Aussage: „Ich will meinem Beruf besser gerecht werden.“ Was aber heißt „besser“, und was heißt „gerecht werden“ für diese Person? Das Thema hinter dem Thema ist oftmals ein anderes. Das Ziel muss noch gefunden und formuliert werden. In Veränderungsprozessen und um unserer (Un-)Zufriedenheit auf die Spur zu kommen bewegen wir uns stetig zwischen aktuellem Standort und Zielklärung: „Was ist los?“ und „Wo will ich hin?“.