Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2018

Coverfoto: © Mariia Loginovskaya – www.stock.adobe.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2018

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-816-9

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-817-6 (EPUB), 978-3-95571-819-0 (PDF), 978-3-95571-818-3 (MOBI).

Vorwort

Ich freue mich sehr über dieses Buch, begleite ich den Weg der beiden Autoren doch seit über zwölf Jahren. Ich halte den in diesem Buch vorgestellten Ansatz für wichtig. Er schlägt eine Brücke zwischen zwei erlebnisorientierten Ansätzen innerhalb der dritten Welle: der Schematherapie mit ihrer Betonung des therapeutischen Eingreifens im sogenannten Reparenting einerseits und der selbstmitfühlenden Haltung der Achtsamkeitsbewegung andererseits. Ihr Ansatz zielt darauf ab, in buddhistisch geprägter Tradition aus Gedankenkreisen und Handlungsdruck auszusteigen und in eine wohlwollende Beobachterhaltung zu wechseln.

Ursprünglich aus der schematherapeutischen Praxis entstanden, hat sich das Vorgehen zu einem therapieschulenübergreifenden, eigenständigen Ansatz gemausert. Es stellt ein Gegengewicht zu einer veränderungsorientierten Haltung in der Schematherapie im Besonderen und der Verhaltenstherapie im Allgemeinen dar und begleitet und bestärkt die Patienten auf einem akzeptanzorientierten Weg. Sobald die Alarmreaktion abgeklungen ist, können die im Aktivierungszustand blockierten Ressourcen zur Problembewältigung wieder wahrgenommen und flexibler genutzt werden. Somit ergibt sich indirekt auch eine Verbesserung der Handlungsfähigkeit im Alltag. Damit ist eine ergänzende, wichtige Aktivität des Erwachsenenmodus beschrieben, nämlich wohlwollend präsent zu sein, ohne etwas verändern zu wollen. Ich selbst erlebe diesen Zugang als deutliche Bereicherung meines (schema-)therapeutischen Repertoires, besonders in der zweiten Therapiehälfte, „when the going gets tough“. Daher habe ich diesen Ansatz auch in die aktuellen Neuauflagen meiner Lehrbücher aufgenommen.

Aus meiner Sicht stellt die Arbeit im sogenannten Emotionalen Resonanzraum (ERR), wie er in diesem Buch beschrieben wird, ein sehr wirksames Therapiemodul dar, um blockierte Therapieprozesse im Sinne Piagets „autoplastisch“ aufzulösen. Ich bin geneigt, von einer „kreativen Implosion“ bei den Patienten zu sprechen. Das bestätigt die Einschätzung der Autoren, dass ausufernde Alarmreaktionen und nachfolgend enthemmte autonome Denkprozesse vielen psychopathologischen Phänomenen zugrunde liegen. Mich fasziniert die detaillierte Beschreibung sowohl der Grundlagen als auch der einzelnen Therapieschritte. Hier wird die große Erfahrung der beiden Autoren deutlich. Diese Präzision zeugt von einer tiefen Liebe zu ihrer Arbeit und den Patienten.

Das Buch führt uns ganz kleinschrittig und systematisch, illustriert durch Fallbeispiele, fast „mikro-chirurgisch“ von der anfänglichen Psychoedukation zum Herzstück einer achtsamen und akzeptanzorientierten Therapiehaltung. Die Wachhund-Metapher bzw. das Alarmsystem als „Naturschauspiel“ zu betrachten stellen einen gelungenen Griff dar, die Patienten an eine entsprechende Sichtweise auf sich selbst heranzuführen. Denn auch im being mode (bzw. Erlebensmodus) zu sein ist eine Aktivität! Diese innere Bewegung vom Tun zum Sein ist in der zweiten Lebenshälfte ebenso fundamental frieden- und glückstiftend wie die einst von Fromm propagierte Wendung vom Haben zum Sein. Weisheit entsteht nicht im doing mode (bzw. Strebensmodus)!

Daher möchte ich das Buch zunächst allen schematherapeutischen Kollegen wärmstens empfehlen, ja ans Herz legen. Neben der beschriebenen Erweiterung des therapeutischen Repertoires wird in diesem Ansatz eine geduldig mitfühlende Grundhaltung beschrieben, die m. E. unbedingt zu einem umfassenden Verständnis von Nachbeelterung gehört. Es geht nicht immer darum, zu versorgen, zu begrenzen oder zu entmachten. Nicht selten geht es auch darum, mit einem ruhigen Blick begleitend „da zu sein“ und dadurch den emotional sicheren Raum zu schaffen, in dem die Selbstberuhigungsfähigkeit der zu Therapierenden wachsen kann. In der griechischen Mythologie hat der „Macher“ Prometheus nicht ohne Grund den Zwillingsbruder Epimetheus zur Seite, der Hirte ist und eigentlich „nichts tut“. Es ist eine durchaus interessante Erfahrung, dass man die destruktive Wirkung innerer Kritiker auch dadurch nachhaltig abmildern kann, dass man sie wahrnimmt, einordnet und ihnen dann anhaltend, ohne zu handeln, ins Auge schaut. Aber auch alle anderen Therapierenden, die die aktiv-mitfühlende, akzeptanzorientierte Seite in der Begleitung ihrer Patientinnen stärken möchten, finden in diesem Buch einen hilfreichen Begleiter. Und nicht zuletzt profitieren wir selbst, müssen wir doch das „Gepredigte“ zunächst auf uns selbst anwenden, um kompetente Prozessbegleiter zu werden. Damit ist allen gedient.

Eckhard Roediger, Frankfurt am Main im Januar 2018

Einleitung

Die in diesem Buch vorgestellte achtsamkeitszentrierte Imaginationstechnik haben wir entwickelt, um Therapeuten ein möglichst zielgenaues und ökonomisches Instrument zur Überwindung von Emotionsvermeidung und zur Förderung einer liebevollen und (selbst-)bejahenden Haltung bei Patienten – und bei sich selbst – in die Hand zu geben. Zu dieser Technik, die wir „Arbeit im Emotionalen Resonanzraum (ERR)“ nennen (Nissen & Sturm, 2014), gehören nicht nur Vorschläge für das konkrete therapeutische Vorgehen, sondern auch eine Modellvorstellung für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Emotionsvermeidung. Die in diesem Modell integrierten Informationen sind so zusammengefasst und aufeinander bezogen, dass sie ohne großen Aufwand in psychoedukative Interventionen einfließen können. Sowohl die Modellvorstellungen als auch die Interventionen im Rahmen der Arbeit im ERR orientieren sich an neurobiologischen Erkenntnissen und größtenteils an einfach wahrnehmbaren körperlichen Prozessen. In diesem Sinne ist die hier vorgestellte Technik weitgehend frei von einer bestimmten Ideologie und kann deshalb in die therapeutische Arbeit im Rahmen verschiedenster Therapiemodelle oder -schulen wie Verhaltenstherapie, psychodynamischer Ausrichtungen, klientzentrierter Psychotherapie oder systemischer Therapie integriert werden.

Um die Entstehung unserer Vorschläge nachvollziehbar zu machen, möchten wir in dieser Einleitung kurz den Weg nachskizzieren, den wir gegangen sind, und die Fragen und Motive aufzeigen, die uns bei der Entwicklung der Arbeit im ERR geleitet haben.

Ausgangspunkt der Entwicklungsarbeit war unsere Auseinandersetzung mit psychischem Leiden im Rahmen unserer mehrjährigen Tätigkeit als Schematherapeuten. Anknüpfungspunkte und stetige „Leitsterne“ für die Entwicklung unserer Ideen waren (und sind) die offensichtlichen und gut belegten Stärken der Schematherapie:

  1. die konsequente und klare Konzentration auf das Erleben des Patienten und Therapeuten, d. h. auf körperliche Prozesse und Emotionen, im Gegensatz zu einer Übergewichtung kognitiver Interventionen im Rahmen kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen vor der sogenannten „dritten Welle“,
  2. die Berücksichtigung der Wichtigkeit eines wohlwollenden Umgangs mit sich selbst und anderen Menschen für das psychische Wohlbefinden, das sich nur im Rahmen von Beziehungen einstellen kann, wo mindestens eine der beteiligten Personen über diese Fähigkeit bereits verfügt und
  3. die konsequente Berücksichtigung der Tatsache, dass die Nicht-Erfüllung von basalen Bedürfnissen in der eigenen Lebensgeschichte bedeutsame Gedächtnisspuren legt. Deren Reaktivierung ist zwar stets mit aversiven Emotionen und dem Auftreten dysfunktionaler Bewältigungsmechanismen gekoppelt, aber gleichzeitig zur gezielten therapeutischen Integration der belastenden Erfahrungen in ein funktionierendes Selbst unumgänglich.

In der Schematherapie werden leidvolle psychische Zustände als aktivierte maladaptive Schemata verstanden und durch die damit einhergehende Modusdynamik erklärt. Gemeint sind ganz allgemein Zustände, in welchen Gedächtnisinhalte vergangener belastender Situationen und alte Bewältigungsreaktionen gleichzeitig wachgerufen werden. Das Leiden solcher Zustände besteht darin, dass sie einhergehen mit sehr negativen Gefühlen und dass die auf die damaligen Notsituationen zugeschnittenen Bewältigungsreaktionen die Situation für den Betroffenen in seinem Erwachsenenleben deutlich verschlechtern. In der Schematherapie erscheinen diese Zustände durch die Art der Beschreibung (18 Schemata, vier Grundkategorien von Modi) inhaltlich sehr diversifiziert. Wir begannen uns mit der Frage zu beschäftigen, ob diese Zustände möglicherweise einen gemeinsamen Kern, z. B. eine allen Schemata und Modi gemeinsame Dynamik, aufweisen, der in der Therapie dann auch ganz gezielt „angesteuert“ werden könnte.

Im gleichen Zug stellte sich uns die Frage, ob die funktionalen Zustände, in der Schematherapie durch den Modus des „Gesunden Erwachsenen“ charakterisiert, ebenfalls einen solchen Kern aufweisen, z. B. eine „Kernkompetenz“, deren Ausübung allen funktionalen Zuständen eigen ist. Falls dem so wäre, könnten diese Kernkompetenzen dann ebenfalls sehr gezielt aufgebaut werden. Wir machten uns also jenseits inhaltlicher Vorgaben durch die in der Schematherapie benannten Schemata und Modi neugierig auf die Suche nach gemeinsamen „Kernmechanismen“ leidvoller Zustände einerseits und allfälligen „Kernkompetenzen“, deren Ausübung einen Zustand gefühlter psychischer Kraft, Leichtigkeit und Flexibilität ermöglichen könnten, andererseits. Uns interessierten das Verständnis des Prozesses der Aktivierung leidvoller Zustände selbst, unabhängig von ihrem Inhalt, und das Wesen der Prozesse, welche die Schematherapie im Konzept des Gesunden Erwachsenen zusammenfasst.

Auf unserer Suche erschienen, zunächst schwer fassbar, so etwas wie „Kristallisationspunkte“: Beim Versuch, greifbare Anhaltspunkte für die Auslösung maladaptiver Schemata und das Einsetzen dysfunktionalen Bewältigungsverhaltens zu identifizieren, entstand beispielsweise regelmäßig der Eindruck, dass die betroffene Person, sei es nun Patient oder Therapeut, im Moment der Auslösung eines Schemas oder dem Auftauchen von Bewältigungsverhalten von einer mehr oder weniger ausgeprägten „Welle“ der Erregung, Anspannung und aversiver Gefühle erfasst werde; eine Welle, die für den aufmerksamen Beobachter auch sinnlich wahrnehmbar ist. Aufgrund der weiteren Beobachtung und Auseinandersetzung mit dieser „Welle der Erregung“ kamen wir allmählich zu der Annahme, dass es sich dabei möglicherweise um den Ausdruck einer Dynamik handelt, die allen von Menschen als aversiv erlebten Zuständen eigen sein könnte. Wie in den folgenden Kapiteln ausführlich dargelegt, kamen wir weiter zu der Annahme, dass der Mechanismus der überlebensorientierten Alarmreaktion diese Welle der Erregung mit ihrer aversiven Emotionalität in Gang setzt.

In Bezug auf diesen möglicherweise für leidvolle Zustände verantwortlichen Mechanismus stellte sich weiter die Frage, aus welchem Grund und zu welchem Zeitpunkt er wohl entstanden sein mag. – Müssen wir beispielsweise davon ausgehen, dass er Ausdruck einer Krankheit ist, eines abnormen psychischen Systems? Oder wird er im Rahmen einer dysfunktionalen Eltern-Kind-Beziehung durch schädliches Elternverhalten in das Kind „implantiert“? Oder handelt es sich um einen Mechanismus, der ganz einfach zur Natur gehört und dem bereits die Eltern (und die Generationen vor ihnen) unausweichlich unterworfen waren? Und falls dem so ist, welchen guten Zweck könnte dieser leidbringende Mechanismus erfüllen? – Diese Fragen tauchten vor allem im Zusammenhang mit der schematherapeutischen Intervention der Bekämpfung innerer Elternstimmen und der Frage nach der sinnvollen Übernahme von Verantwortung für das eigene psychische Befinden auf. Wie in den folgenden Kapiteln ausführlich dargestellt, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass es sich bei der als Kernmechanismus dysfunktionaler Zustände infrage kommenden Alarmreaktion um einen evolutionär sehr alten Mechanismus handelt, der allen lebenden Wesen eigen ist und der dem unmittelbaren Überleben dient. Der Mechanismus zeigt der betroffenen Person das Vorliegen einer Bedrohung an, indem er im Körper eine aversiv empfundene Emotionalität wachruft und sehr schnell vorbestehende Programme zur Flucht oder Eliminierung der Bedrohung auslöst. Mit der Fähigkeit des menschlichen Verstandes zur symbolischen Repräsentation können dann auch an sich ungefährliche Signale bedrohlichen Charakter bekommen und Alarmreaktionen auslösen.

Dieselben Fragen, die sich im Rahmen dysfunktionaler psychischer Zustände stellten, begannen uns natürlicherweise auch bezüglich funktionaler psychischer Zustände (diese entsprechen in der Schematherapie dem „Gesunden-Erwachsenen-Modus“) zu beschäftigen. Was geschieht im Kern, wenn ein Mensch sich in einem als hilfreich empfundenen psychischen Zustand befindet, d. h. einem Zustand, wie er in der Therapie wesentlich angestrebt wird, in welchem die betroffene Person ihr Verhalten auf flexible Art steuern kann, verbunden ist mit sich und anderen und die Realität klar von Vorstellungen und Ideen unterscheiden kann? – Im Rahmen der Beschäftigung mit dieser Frage bekamen wir, neben dem in der Schematherapie bereits vorhandenen Wissen, wichtige Anregungen aus achtsamkeitsbasierten und -zentrierten Methoden wie der Acceptance and Commitment Therapy (ACT) (Hayes, Strosahl & Wilson, 2014), der Compassion Focused Therapy (CFT) (Gilbert, 2013), der Mindfulness Based Cognitive Therapy (MBCT) (Zindel, Segal, Williams & Teasdale, 2015), der Mindful Self-Compassion (MSC) (Germer, 2015) und der Pragmatic Experiential Method (PEM) (Atkinson, 2005). Wir kamen zu der Ansicht, dass möglicherweise ein Zustand der offenen und wohlwollenden Präsenz sich selbst und anderen gegenüber den Kern jeglichen funktionalen psychischen Zustands ausmacht, und dass Leiden unmittelbar einsetzt, wenn die Haltung offener und wohlwollender Präsenz verlassen wird.

Die Forschung im Rahmen achtsamkeitsbasierter und achtsamkeitszentrierter Therapiemethoden legt nahe, dass zwischen dem alarmierten Zustand und dem Zustand offener und wohlwollender Präsenz ein inverser Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang gilt sowohl für einen bestimmten Zeitpunkt, d. h., dass die Aktivierung eines Zustands offener Präsenz das Auftreten einer Alarmreaktion in diesem Moment sehr viel unwahrscheinlicher macht als auch über die Zeit hinweg, d. h., dass die häufig wiederkehrende Aktivierung eines Zustands wohlwollender Beobachtung das Auftreten von Alarmreaktionen und damit auch – in der Sprache der Schematherapie – die Auslösung von Schemata und dysfunktionalen Modi zukünftig weniger wahrscheinlich macht. Dieser inverse Zusammenhang wird bei der Arbeit im ERR genutzt, indem sowohl Therapeuten wie Patienten ihre Fähigkeiten zur Einnahme einer wohlwollenden Beobachterrolle entwickeln und pflegen. Die Gegenstände der wohlwollenden Beobachtung sind dabei sowohl die eigenen Alarmreaktionen als auch diejenigen des Gegenübers. Die dabei vollzogene Handlung ist die stille, freundliche und annehmende Anerkennung jeglicher (Auf-)Regungen, die im Rahmen von Alarmreaktionen auftauchen können, seien dies nun Körperempfindungen, Gefühle, Handlungsimpulse oder Gedanken. Die Arbeit im ERR lässt sich also zusammenfassen als das Erlernen und die Pflege einer wohlwollenden Beobachterrolle, innerhalb derer jegliche Regungen im Rahmen von Alarmreaktionen still und freundlich anerkannt werden.

Der Emotionale Resonanzraum, der sich dabei öffnet, stellt gleichsam einen „Ort“ dar, an dem sich die Dynamik der Alarmreaktion des Patienten frei ereignen und ausbreiten darf. Der Therapeut stellt sich in diesem Raum zur Verfügung, um aufgebrachte Reaktionen des Patienten offen, präsent und mitfühlend zu verfolgen und sie dem Patienten ruhig und wohlwollend zu spiegeln. Der Therapeut steht damit Modell für die Entwicklung der Fähigkeit des Patienten, sich mit der Zeit seinen eigenen Alarmreaktionen ruhig und wohlwollend zuzuwenden, sie anzuerkennen und damit zur Ruhe kommen zu lassen. Der ERR wird also zunächst etabliert zwischen dem Patienten und dem Therapeuten, später dann im Patienten selbst (vgl. dazu genauere Ausführungen in Abschnitt 2.3).

Erfahrungen aus der langjährigen Praxis zeigen, dass sowohl die Vermittlung von Informationen über die Alarmreaktion als möglichen basalen Mechanismus aller leidvollen Zustände (unabhängig von deren Inhalten) als auch die konkrete Anleitung und Einübung der Einnahme einer wohlwollenden, offenen und präsenten Haltung (unabhängig vom Inhalt bestimmter Handlungen) eines „Gesunden Erwachsenen“ eine hilfreiche Wirkung entfalten können. Beides lässt sich als zusätzliches Instrument in Kombination mit den angestammten Interventionsformen nicht nur der Schematherapie, sondern vieler verschiedener psychotherapeutischer Ausrichtungen gewinnbringend einsetzen.

Wir laden den geneigten Leser, die geneigte Leserin1 herzlich ein, sich mit den folgenden Ausführungen zur Alarmreaktion und den Möglichkeiten zur Kultivierung einer offenen und wohlwollenden Präsenz auseinanderzusetzen. Es ist dabei etwas zu erfahren über die Herkunft der Alarmreaktion, ihre Funktionsweise und zeitlichen Abläufe, ihre Verkoppelung mit Bewältigungsreaktionen, ihre Wirkung auf Gedächtnisprozesse und über den Zusammenhang zwischen Alarmreaktionen und Bindungsprozessen in der Eltern-Kind-Beziehung sowie in therapeutischen Beziehungen. Ausgehend von dieser theoretischen Konzeption gehen wir im Weiteren ausführlich auf konkrete achtsamkeitszentrierte Interventionen ein, mit dem Ziel der emotionalen Selbstregulation und der Steigerung der psychischen Flexibilität.

Ein wichtiges Ziel wäre für uns erreicht, wenn unser Buch dazu anregt, die vorgeschlagenen Interventionen auszuprobieren, zu adaptieren, Erfahrungen damit auszutauschen und so an der faszinierenden Suche nach weiteren Erkenntnissen und Möglichkeiten auf diesem Gebiet teilzunehmen.


1  Im Text wechseln wir zwischen männlicher und weiblicher Bezeichnung. Der Wechsel erfolgt zufällig. Und in jedem Fall sind beide Geschlechter gemeint.

3. Dynamik von Alarmreaktionen und Klassifizierung psychischer Störungen

Der praktische Anlass zur Ausarbeitung der in diesem Kapitel dargelegten Gedanken findet sich in einem Phänomen, dem wir bei der Vermittlung der Arbeit im ERR in Workshops oder bei der supervisorischen Arbeit regelmäßig begegnen. Es handelt sich dabei um eine manchmal tief greifende Skepsis gegenüber der Vereinheitlichung, welche die Arbeit im ERR auszeichnet. Letztere bezieht sich mit der Konzentration auf Alarm- und Bewältigungsmechanismen sowohl auf das Verständnis der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischen Leidens als auch auf die therapeutische Einflussnahme. Bei der Vermittlung der Technik und der theoretischen Hintergründe haben wir es größtenteils mit Kolleginnen und Kollegen zu tun, deren berufliche Sozialisation (wie unsere auch) stattgefunden hat vor dem Hintergrund jenes Störungsmodells, das den beiden großen Diagnosemanualen ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, 1993) und DSM-5 (American Psychiatric Association, 2015) zugrunde liegt. In diesem Modell wird vorausgesetzt, dass die in den Manualen beschriebenen psychischen Störungen eindeutig voneinander abgrenzbare Phänomene darstellen. Die für eine bestimmte Störung spezifische Kombination von Symptomen wiederum wird laut dem Modell durch eine (vorausgesetzte) Krankheitsentität regelhaft verursacht. Obwohl der Nachweis dieser Krankheitsentitäten seit ihrer Postulierung vor Jahrzehnten bisher nicht gelungen ist und unterdessen sogar substanzielle Zweifel an dem Modell bestehen (McNally, 2013; Hayes, Strosahl & Wilson, 2014), hat die auf dem Modell gegründete störungsspezifische Sichtweise sowohl die Forschung zu konkreten psychischen Störungen als auch die Entwicklung von störungsspezifischen Interventionen monopolartig begünstigt. Über die Entwicklung vieler störungsspezifischer Manuale hinaus beeinflusst das Modell auch die Finanzierung von Psychotherapien und die Vergabe von Renten aus psychischen Gründen, indem die Freigabe von Geldern durch Krankenkassen und Rentenversicherungen vom Vorliegen der in den Manualen aufgeführten Diagnosen abhängt.

Es ist wenig erstaunlich, dass sich unter diesem Einfluss die Idee in der Fachwelt durchgesetzt und festgesetzt hat, dass (scheinbar) klar voneinander abgrenzbare psychische Störungsbilder, denen jeweils klar identifizierbare Krankheiten als Ursache zugrunde liegen sollen, auch eine je eigene Art psychotherapeutischer Behandlung erfordern. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung ist es dann fast unumgänglich und auch verständlich, dass einer stark vereinheitlichenden Sichtweise auf die Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung psychischen Leidens misstrauisch begegnet wird.

Wir unternehmen im vorliegenden Kapitel den Versuch einer Vermittlung zwischen beiden Konzepten, indem wir für verschiedene in den Diagnosemanualen beschriebene Störungsbilder aufzeigen, wo und wie der unserer Sichtweise nach jedem Störungsbild inhärente Mechanismus der Alarmreaktion identifiziert werden kann. Wir nehmen dabei alle psychischen Leidenszustände aus, die durch pathologische Veränderungen der Hirnsubstanz (durch neurologische Erkrankungen, Unfälle, Tumore etc.) und anderer Organ- bzw. Hormonsysteme (z. B. durch Erbkrankheiten, Autoimmunerkrankungen etc.) bedingt sind. Ziel unseres Vermittlungsversuchs ist es, geneigten Lesern mit der Konzentration auf den Mechanismus der Alarmreaktion ein die Arbeit nachhaltig erleichterndes Mittel in Aussicht zu stellen.

Bevor wir aufzeigen, wo und wie Alarm- und Bewältigungsmechanismen innerhalb der in den Diagnosemanualen definierten psychischen Störungsbilder identifiziert werden können, fassen wir unser Verständnis von psychischem Leiden, wie es in den vorigen Kapiteln ausführlich dargelegt wurde, nochmals kurz zusammen.

3.1 Definition psychischen Leidens

Wir definieren psychisches Leiden als Folge chronisch fixierter Bewältigungsantworten im Rahmen von Alarmreaktionen, die sich entweder auf vergangene oder auf in der Zukunft vorgestellte Ereignisse, nicht aber auf reale, hier und jetzt vorhandene Gefahren beziehen. Der Leidende verwechselt das Gefühl der Bedrohung mit der Bedrohung selbst und ist wegen dieser Verwechslung unfähig, seine aversive Emotionalität durch Akzeptanz und wohlwollende Präsenz zu beruhigen. Er haftet der Überzeugung an, etwas tun oder stillhalten oder vermeiden zu müssen, um die Bedrohung abzuwenden. Weil mit der gefühlten Bedrohung aber keine reale Gefahr korrespondiert, laufen die Bewältigungsantworten ins Leere und haben, wie die vorgestellte Bedrohung auch, nur eine vorgestellte und damit vorübergehende Wirkung: Das vergangene oder in der Zukunft vorgestellte Ereignis, auf das die Bewältigung sich bezieht, kann im Geist jederzeit erneut auftauchen und ruft bei der gegebenen Verwechslung der Vorstellung mit der Realität erneut eine wiederum ineffektive Bewältigungsantwort hervor. Das Gefangensein des Betroffenen in diesem Teufelskreis nennen wir psychisches Leiden.

3.2 Sieben Dimensionen psychischen Leidens

Psychisches Leiden zeigt sich – als Folge des genannten Teufelskreises – auf den in den vorgängigen Kapiteln eingehend beschriebenen Ebenen:

3.3 Interdependenz der Dimensionen psychischen Leidens und das Problem der Definition bestimmter Formen psychischen Leidens als Krankheit

Die im vorherigen Abschnitt genannten Ebenen können auch als Dimensionen für die Dynamik von Alarmreaktionen gesehen werden. Sie eignen sich in unseren Augen dazu, die genannte Dynamik und chronifizierten Coping-Mechanismen mit den in den Diagnosemanualen gängigen Beschreibungen psychischer Störungen sinnvoll in Zusammenhang zu bringen. Wir sehen die hier vorgeschlagenen Dimensionen nicht als voneinander unabhängige Phänomene. Vielmehr bezeichnen sie verschiedene Facetten desselben universellen Vorgangs, deren Ausprägungen wahrscheinlich in hohem Maß miteinander korrelieren. Die Ausprägungen dieser Aspekte automatischer Selbstregulation variieren von Person zu Person. Auch sehen wir die Tätigkeit des Alarmsystems mit seinen langfristigen leidvollen Folgen als etwas an, das nicht als „gesund“ oder „krank“ bewertet werden kann. Es gibt unseres Erachtens kein menschliches Wesen, das den Wirkungen dieser Mechanismen, und damit dem Leiden, enthoben wäre. Auch erscheint uns die Identifikation verlässlicher Merkmale zur Unterscheidung „gesunder“ und „kranker“ Prozesse letztlich unmöglich. Dass die Dynamik des Alarmsystems in seiner Ausrichtung auf das unmittelbare Überleben außerdem eine so primär vitale Antwort auf die ursprünglichen Anforderungen des Lebens darstellt, legt es umso mehr nahe, auf die Dimension von „gesund“ und „krank“ in diesem Zusammenhang zu verzichten. Es erscheint demgegenüber sinnvoller, ein ungefähres Maß für die Verselbstständigung des Alarmsystems und die damit einhergehende Inflexibilität der Person im Leidensdruck des Betroffenen zu suchen, der aus den Ausprägungen auf den verschiedenen Dimensionen resultiert. Freilich ist das Erleben des Leidens zwar ein allgemeines Phänomen, es kann aber niemals zu einem objektiven Maß führen. Was bleibt, ist die Einschätzung der betroffenen Person selbst, wie sehr sie sich durch die chronifizierten automatischen Prozesse im Alltag „gestört“ fühlt.

Mit der Orientierung an der subjektiven Einschätzung der betroffenen Person ist in unseren Augen ein weiterer substanzieller Vorteil verbunden, nämlich die direkte Orientierung an den leidvollen Auswirkungen im Leben des Patienten selbst. Patienten erleben ihr Leiden immer in bestimmten Lebenszusammenhängen, d. h. in ihren Beziehungen (zu anderen und zu sich selbst), in der Ausübung oder eben Nichtausübung ihres Berufs, beim Essen, in der Sexualität, bei der Erziehung ihrer Kinder etc.

In den gängigen Diagnosemanualen zur Klassifizierung psychischer Störungen (ICD-10 und DSM-5) wird vorausgesetzt, dass verschiedene Formen psychischen Leidens Ausdruck voneinander unterscheidbarer (psychischer) Krankheiten sind. In den genannten Diagnosemanualen werden die in der klinischen Beobachtung (scheinbar eindeutig) unterscheidbaren Störungsbilder beschrieben anhand von Listen mit Symptomen, die im Rahmen eines Störungsbilds (scheinbar regelhaft) auftreten. Eine solche Zusammenfassung von Symptomen wird dann als Syndrom bezeichnet. In diesem Modell psychischer Störungen wird vorausgesetzt, dass die Ursache des regelhaften Zusammenlaufens der in einem Syndrom genannten Symptome in einer Krankheitsentität liegt, die dem Syndrom zugrunde liegt. Dies steht im direkten Gegensatz zu den beiden weiter oben genannten Merkmalen von menschlichem Leiden (Interdependenz der Beschreibungsdimensionen und Nicht-Bewertbarkeit psychischen Leidens): Das Modell geht davon aus, dass psychische Störungen voneinander klar unterscheidbare Entitäten darstellen, die in der Klinik mithilfe von Symptomkatalogen genau identifiziert werden können, und es bezeichnet psychisches Leiden als Krankheit.

Falls es sich bei psychischen Störungen tatsächlich wie vorausgesetzt um Entitäten handelt, wäre es unmöglich, diese Entitäten auf noch grundlegendere Dimensionen zurückzuführen. Ist eine Rückführung möglich, entfällt die eindeutige Identifizierbarkeit und damit auch die logische Berechtigung für die Bezeichnung „Entität“. Wir vermuten, dass alle in den Diagnosemanualen aufgeführten psychischen Störungen in ihrer Qualität auf die sieben weiter oben genannten Dimensionen psychischen Leidens zurückzuführen sind und diese wiederum ursächlich auf die Tätigkeit des Überlebenssystems. Weiter unten werden wir diese Vermutung mit Beispielen illustrieren. Die Hypothese, dass es sich bei psychischen Störungen nicht um exakt voneinander abgrenzbare Krankheitsentitäten handelt, wird weiter durch Forschungsergebnisse untermauert, die auf mitunter sehr ausgeprägte Differenzen in der diagnostischen Einordnung verschiedener Diagnostiker bezüglich desselben Patienten hinweisen (Hayes, Strosahl & Wilson, 2014).

Handelt es sich bei psychischen Störungen tatsächlich um Krankheiten, muss es möglich sein, die Phänomene, welche psychische Störungen prägen, eindeutig von psychischer Gesundheit zu unterscheiden. Es ist indessen leicht zu beobachten, dass dieselben Symptome, welche im Rahmen definierter psychischer Störungen bei Patienten ablaufen, auch bei Gesunden ablaufen (können). Schwarzmalerisches Grübeln, Hoffnungslosigkeit, Interesseverlust, Selbstzweifel, Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Lebens, Phasen eingeschränkter Leistungsfähigkeit und sogar Selbstmordgedanken können nicht nur bei Patienten mit einer diagnostizierten affektiven Störung auftreten. Ebenso wenig treten wiederholte Kontrollhandlungen, Kontaminationsängste oder von Schuldgefühlen begleitetes Hinterfragen der Richtigkeit eigener Handlungen nur bei Zwangspatienten auf. Das bloße Vorliegen solcher Symptome ist demnach kein brauchbares Kriterium für die Unterscheidung zwischen „psychisch krank“ und „psychisch gesund“.

3.4 Die Alarmreaktion als störungsübergreifend verschränkender Mechanismus

Für den psychotherapeutischen Alltag schlagen wir vor, sowohl von den Kategorien „gesund“ und „krank“ als auch von der Vorstellung eindeutig voneinander abgrenzbarer Störungsbilder abzusehen. Als Orientierungsrahmen für therapeutische Handlungen können alle vom Therapeuten und Patienten beobachtbaren Phänomene dienen, unter denen der Patient leidet. Zur Beschreibung dieser Gegebenheiten eignen sich die oben dargestellten Dimensionen. Der Kernmechanismus, der alle für das psychische Leiden relevanten Prozesse in Gang setzt und in Gang hält, ist unserer Meinung nach die Alarmreaktion mit den zu ihr gehörenden Bewältigungsreaktionen. Die Alarmreaktion verschränkt in diesem Sinne alle Prozesse, die im Rahmen psychischen Leidens ablaufen.

3.5 Identifikation von Alarm- und Bewältigungsmechanismen innerhalb definierter Störungsbilder

Im vorliegenden Abschnitt soll nun aufgezeigt werden, wie verschiedenste Störungsbilder schlüssig auf Alarmreaktionen und integral damit verbundene automatische Bewältigungsmechanismen reduziert werden können. Dabei werden alle bezüglich eines Syndroms genannten Symptome über die weiter oben genannten Dimensionen mit Alarm- und Bewältigungsreaktionen in Zusammenhang gesetzt. Wir schicken voraus, dass es sich bei den allermeisten der in den Diagnosemanualen beschriebenen psychischen Störungen um den Ausdruck einer oft schon jahrelang sich fortsetzenden Kette von Fehlalarmreaktionen handelt, wobei vor allem die dazugehörigen chronifizierten Bewältigungsreaktionen sichtbar werden.

Bei der Auswahl der Diagnosebeispiele haben wir auf ein breites Spektrum geachtet. Die Beispiele stellen keine erschöpfende Aufstellung dar und sollen lediglich der Anregung dienen. Wir halten uns mit Ausnahme der Schizophrenie an die Nomenklatur und die Einteilungen des ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, 1993). Für die Schizophrenie greifen wir wegen der klareren Systematik auf die Nomenklatur Scharfetters (1999) zurück.

3.5.1 F32. Depressive Episode

Symptome:

Gedrückte Stimmung und ausgeprägte Müdigkeit

In diesem Symptom wird zunächst die negative Stimmungslage sichtbar, die im Rahmen jeder Alarmreaktion von Gehirn und Organismus zur Anzeige einer Bedrohung „produziert“ wird. Die dauerhaft gedrückte Stimmung in einer depressiven Episode spiegelt aus Sicht der Überlebensprozesse den Teufelskreis wider, bestehend aus der Unfähigkeit, eine alarmierte Stimmung zu regulieren, dem daraus resultierenden Gefühl des Ausgeliefertseins an die negative Emotionalität, der weiteren automatischen Bewältigungsversuche zur Eliminierung negativer Gefühle und den daraus entstehenden Gefühlen der Aussichtslosigkeit und Erschöpfung.

Symptome:

Verminderung von Antrieb und Aktivität; Fähigkeit zu Freude, Interesse und Konzentration sind vermindert; Schlafstörungen; Libidoverlust und psychomotorische Hemmung (beide im Rahmen des somatischen Syndroms)

Patienten, die unter vermindertem Antrieb und verminderter Aktivität sowie unter psychomotorischer Hemmung leiden, berichten fast immer von einer diese Symptome begleitenden inneren Unruhe. Wenn wir zusammen mit Patienten untersuchen, wozu die Verminderung des Antriebs und die psychomotorische Hemmung dienen könnten, stellt sich mit großer Regelmäßigkeit heraus, dass bei der Vorstellung, sich „in Gang zu setzen“ bzw. die psychomotorische Hemmung aktiv zu überwinden, sehr schnell die Angst spürbar (und an den einsetzenden Gedanken erkennbar) wird, etwas falsch zu machen bzw. die wahrgenommene Bedrohlichkeit der Situation noch zu steigern. Je nach den Inhalten, auf die der Verstand der Patientin sich im Laufe der individuellen Lebensgeschichte „eingeschossen“ hat, sind das Befürchtungen, ausgegrenzt, nicht beachtet oder übergangen zu werden bzw. zu verarmen, krank zu werden oder gar zu sterben. Die Symptome des verminderten Antriebs und die psychomotorische Hemmung können in diesem Sinne einerseits als chronifizierte automatische Bewältigungsreaktion verstanden werden (Erstarrung), andererseits als psychophysische Erschöpfung infolge anhaltender Copingversuche. Im Rahmen dieser Erstarrung bleibt die Aufmerksamkeit ganz auf die wahrgenommene Bedrohung gerichtet. Das Alarmsystem erlaubt kein Loslassen und Abschweifen der Konzentration auf irgendetwas, das nichts mit der gefühlten Bedrohung zu tun hat. Folge dieser automatischen und angespannten Lenkung der Aufmerksamkeit auf die gefühlte Bedrohung sind dann die verminderte Fähigkeit zu Freude, Libidoverlust, Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen.

Symptom:

Schuldgefühle bzw. Gedanken über die eigene Wertlosigkeit

Patienten berichten im Gespräch über ihre Schuld- und Wertlosigkeitsgefühle häufig, dass sie diese Gefühle zwar nicht mögen, dass sie sie aber dennoch „brauchen“, weil sie befürchten, sich ohne diese Gefühle nicht genügend antreiben zu können. Dieses innere Antreiben wiederum erscheint notwendig, um sich zu verbessern, und diese Verbesserung („Ich muss fleißiger sein, ich muss unterhaltsamer sein, ich muss entspannter sein“ etc.) wiederum erscheint notwendig, um die oben bereits genannten gefühlten Bedrohungen abzuwenden.

3.5.2 F30. Manische Episode

Symptome:

Gehobene Stimmung, vermehrter Antrieb, vermindertes Schlafbedürfnis, Größenideen und übertriebener Optimismus, Konzentrationsschwierigkeiten

In einer manischen Episode scheinen die Symptome das genaue Gegenteil der Symptome der Depression auszudrücken: Die Stimmung ist gehoben, der Antrieb gesteigert, das Schlafbedürfnis ist vermindert, die Selbsteinschätzung ist von Größenideen und übertriebenem Optimismus geprägt und der Patient ist enthemmt. Die Konzentrationsschwierigkeiten haben manische und depressive Episoden gemeinsam.

Bei der Manie handelt es sich mit Blick auf das Überlebenssystem, ähnlich wie bei Suchtverhalten, um überschießende Belohnungsmechanismen. Das Gehirn stellt dem Betroffenen eine allumfassende Lösung aller Selbstwertprobleme und Zweifel, wie sie in der depressiven Phase durchlitten werden, in Aussicht. In diesem Rahmen vermittelt es ihm in engster Zusammenarbeit mit dem restlichen Organismus und abgekoppelt von irgendeiner realen Notwendigkeit „gute Gefühle“, „tolle Erlebnisse“ und ein enormes Selbstvertrauen. Die Verbindung zur Alarmreaktion wird ersichtlich im hohen Druck, mit dem Gehirn und Organismus diese guten Gefühle suchen und produzieren. Wir vermuten, dass manische Episoden die Fähigkeit des Gehirns widerspiegeln, sogenannte „Als-ob-Körperschleifen“ aufzubauen. In diesem Sinne werden in der Manie Belohnungsmechanismen vom Alarmsystem dazu „verwendet“, die Wahrnehmung gefühlter Bedrohungen komplett auszublenden. Dieser Mechanismus entspricht einer inneren Flucht. Aufrechterhalten wird die Symptomatik durch die unbemerkt weiterhin dräuende Alarmbereitschaft des Patienten, die wegen der Unmöglichkeit, offen beobachtet und damit erlebbar zu werden, nicht abklingen kann.

Untersuchen wir mit Patienten die genannten Symptome – was bei einer manischen Episode eigentlich immer erst im Nachhinein geschehen kann –, erweist es sich ebenfalls mit großer Regelmäßigkeit, dass die Inhalte der die Manie im Inneren antreibenden Ängste die gleichen sind wie bei allen anderen psychischen Störungen: Angst vor Ausgrenzung, Nichtbeachtung, Unwichtigkeit, Tod etc.

3.5.3 F42. Zwangsstörung

Symptome:

Wiederkehrende Zwangsgedanken; Zwangshandlungen; der Patient erlebt die Zwangshandlungen oft als Vorbeugung gegen ein objektiv unwahrscheinliches Ereignis, das ihm Schaden bringen oder bei dem er selbst Unheil anrichten könnte

Zwangsgedanken können grundsätzlich zwei unterschiedliche Inhalte haben: Missetaten des Betroffenen bzw. durch ihn verschuldete Unglücke oder in Gedanken ablaufende Rituale bzw. Kontrollhandlungen. Beinhalten die Zwangsgedanken die ständige Wiederholung schwerwiegender Missetaten des Betroffenen, wie beispielsweise die Ermordung des eigenen Kindes, pädophile Handlungen oder das Quälen anderer Menschen, können sie als ständige Warnung an den Betroffenen vor der (vorgestellten) eigenen Schlechtigkeit verstanden werden. Die Warnung vor der vorgestellten eigenen Schlechtigkeit wiederum erscheint notwendig, um deren ständig drohenden Ausbruch durch anhaltende Selbstkontrolle zu unterbinden. In diesem Sinne erfüllen sie eine ähnliche Funktion wie Gefühle der Schuld- und Wertlosigkeit im Rahmen depressiver Episoden (s. o.).

Beinhalten die Zwangsgedanken gedankliche Rituale wie Zählen, Wortspiele, Versuche, Muster zu erkennen, bzw. die immerwährende Wiederholung von Kontrollhandlungen, können sie meist als Rituale zur Abwendung selbst verschuldeten oder von außen drohenden Unglücks verstanden werden. Inhaltlich beziehen sich die gefühlten Bedrohungen meist auf Vorstellungen eigenen Unvermögens oder eigener Schlechtigkeit bzw. auf Vorstellungen, bloßgestellt, ungerecht behandelt, kritisiert, körperlich misshandelt oder im Stich gelassen zu werden.

Zwangshandlungen spiegeln dieselbe Dynamik wider wie die der Zwangsgedanken, aber auf Handlungsebene. Insgesamt können sie, wie die Zwangsgedanken, als Ausdruck von Vermeidungsverhalten – Verhinderung des Sichtbarwerdens eigener Unzulänglichkeit bzw. Verhinderung von Unglück – verstanden werden.

Symptome:

Der Patient versucht häufig erfolglos, Widerstand zu leisten; die Zwangsgedanken werden als zur eigenen Person gehörig erlebt, selbst wenn sie als unwillkürlich und häufig abstoßend empfunden werden

Diese Symptome spiegeln die Kraft der Identifikation mit Vorstellungen und Überzeugungen wider, wie sie für Alarmreaktionen typisch ist. Der Patient weiß zwar, dass seine Zwangshandlungen und -Gedanken bezüglich der aktuellen Realität sinnlos und mitunter sogar schädlich sind, weshalb er ihnen auch Widerstand zu leisten versucht. Allerdings gewinnen die warnenden Gefühle im Rahmen der Alarmreaktion immer wieder die Oberhand, und das Risiko erscheint dem Patienten zu groß, die Zwangshandlungen und -Gedanken einfach zu übergehen.

Viele Patienten erleben auch die hässlichsten Zwangsgedanken insofern als zur eigenen Person gehörig, als diese sie ja auf die ihnen innewohnende (vorgestellte) Schlechtigkeit hinweisen, die es zu verbergen gilt, um nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Aus der Sicht des Alarmsystems dürfen die Zwangsgedanken gar nicht zu irgendjemand anderem gehören, weil der Betroffene dann nicht genügend vor seiner möglicherweise jederzeit zutage tretenden Schlechtigkeit gewarnt wäre.

3.5.4 F60.3 Emotional Instabile Persönlichkeitsstörung

Symptome:

Deutliche Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren, verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter Stimmung; es besteht eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit, impulshaftes Verhalten zu kontrollieren; der impulsive Typus der Emotional Instabilen Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle

In diesen Symptomen tritt der instinkthafte Charakter des Alarmsystems besonders deutlich und ungefiltert zutage. Sie spiegeln die Unfähigkeit der Betroffenen wider, ihre Impulse (freundlich) zu beobachten und dabei nicht in die Handlung zu gehen. Die vom Alarmsystem ausgehenden Impulse werden von den Betroffenen als imperativ und vollständig verbindlich erlebt, die Alarmreaktion läuft unweigerlich und ungebremst ab. Es gibt keine Zeit und keinen Raum mehr für Distanzierung. Den Betroffenen kommen die möglichen negativen Konsequenzen ihres Handelns unter dem starken Druck gar nicht mehr zu Bewusstsein. Die Identifikation mit den Alarm- und Bewältigungsreaktionen ist (meist) vollständig.

Symptome:

Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und zu Konflikten mit anderen, insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden

Dieses Symptom ist Ausdruck der Mobilisierung von Wut und Aggression angesichts einer gefühlten Bedrohung. Der Organismus bündelt die in der Alarmreaktion frei werdende Energie zur Eliminierung der Bedrohung im Angriff. Impulsives Handeln stellt eine bereits ablaufende Copingreaktion im Dienste des Überlebens dar. Erfährt die so handelnde Person dabei eine Einschränkung von außen, wird das im doppelten Sinne als bedrohlich erlebt und mit entsprechend heftigen Reaktionen beantwortet.

Symptome:

(Borderline-Typus) Zusätzlich gekennzeichnet durch Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen sowie durch ein chronisches Gefühl der Leere

Diese Symptome sind Ausdruck der chronifizierten Bewältigungsreaktion der Vermeidung. Die Aufmerksamkeit wird im Rahmen anhaltend gefühlter Gefahr bei gleichzeitiger Unfähigkeit, dieses Gefühl zu beruhigen, irgendwann dauerhaft von Körperwahrnehmungen weggelenkt. Der Betroffene ist nicht mehr „bei sich“ und „spürt sich nicht mehr“. Die automatisch einsetzende Vermeidung bewirkt nicht nur die Nicht-Wahrnehmung stimmungsanzeigender Symptome im Körper, sondern, damit einhergehend, auch der eigenen Bedürfnisse und Präferenzen. Konsequenzen dieser automatischen Lenkung der Aufmerksamkeit weg von Körperzeichen sind dann Störungen des Selbstbildes, der Ziele und inneren Präferenzen sowie ein chronisches Gefühl der Leere.

Symptom:

(Borderline-Typus) Intensive, aber unbeständige Beziehungen

Dieses Symptom spiegelt die Tätigkeit des Alarmsystems insofern wider, als sowohl die hohe Intensität der Beziehungen als auch ihre Unbeständigkeit das Resultat automatischer Bewältigungsmechanismen darstellen können. Dabei kippt der oder die Betroffene hin und her zwischen der Abwendung der Angst vor dem Verlassenwerden einerseits und der Angst vor Nähe andererseits. Angst vor dem Verlassenwerden kann sich beispielsweise in eifersüchtig kontrollierendem, streitbarem oder auch übermäßig anhänglichem Verhalten zeigen und verweist darauf, dass die Person sich existenziell darauf angewiesen fühlt, „gesehen“ und hinsichtlich ihrer Bedürfnisse versorgt zu werden. Diese Tendenz stellt gleichsam eine Neuauflage der kindlichen Abhängigkeit von erwachsenen Bezugspersonen dar. Oft spiegelt sich darin ein biografisches Schicksal, indem die kindlichen Bedürfnisse durch das Umfeld tatsächlich nicht beachtet wurden. Die Angst vor Nähe zeigt sich in der Tendenz, Beziehungen dann zu beenden, wenn sich eine größere Nähe zwischen den Partnern einzustellen beginnt. Im Hintergrund dieser Notmaßnahme stehen in der Regel frühkindliche Erfahrungen, in denen sich die Person Erwachsenen anvertraute und daraufhin zurückgewiesen, erniedrigt, misshandelt oder missbraucht wurde. Diese Erlebnisse waren so einschneidend, dass das Alarmsystem weitere solche Situationen zu verhindern sucht, indem es bei den ersten Anzeichen von Nähe reflexhaftes Distanzverhalten begünstigt.

Symptom:

(Borderline-Typus) Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen