Über die Autorin Angelika Diem



Ihre wichtigsten Werke:


Österreichisches Nachwuchsstipendium für Kinder- und Jugendliteratur 1993

Eusebius und Pontifex – Verlag St. Gabriel (1996)

Für mich bist du der Beste – Albarello Verlag (2000)

Hexe Pollonia macht das Rennen – Albarello Verlag (2001)

Gut so, Hexe Pollonia – Albarello Verlag (2002)

(alle drei Hexenbilderbücher noch lieferbar)

2002 bis 2007 freie Redakteurin der Zeitschrift „MangasZene“

Jigoku no Merodi (Text zum Manga) – Christian Solar Verlag 2004

Zwischen den Toren. Weltenwanderer XIV – scratch Verlag 2010 (unter dem Pseudonym Susanne Nort)

Wir vom Jahrgang 1968. Kindheit und Jugend in Österreich – Wartberg Verlag 2012

Nicht schlank? Na und! – Bc Publications 2012

Das Grauen im Spiegel (Beitrag in Diebesgeflüster 1 – ebook Aeternica Verlag 2012)
Seelendieb (Beitrag in Diebesgeflüster 4 – ebook Aeternica Verlag 2013)
– beide Geschichten enthalten im Taschenbuch Diebesgeflüster 1-4 Aeternica Verlag 2014


… und natürlich der erste Band des Schattenthrons:


schattenthron1

Schattenthron I

Das Mädchen mit den goldenen Augen

333 Seiten

Verwandlungen, finstere Intrigen und die Macht der wahren Liebe!





Von der gleichen Autorin

bereits im Machandel Verlag erschienen:


baeldin

Der Baeldin-Mord

117 Seiten

Ein Fantasy Krimi aus der Serie „Vollstrecker der Königin“


tuch

Das Grüne Tuch

234 Seiten

Die Vorgeschichte zu der Fantasy-Krimi-Serie

„Vollstrecker der Königin“


caitlynn

Sammelband „Caitlynn“

376 Seiten

enthält die beiden Bücher „Der Baeldin-Mord“, in diesem Buch enthalten unter dem Titel „Das Rätsel von Baeldin“, sowie „Das grüne Tuch“, in diesem Buch enthaltenin den Kurzgeschichten „Das grüne Tuch“ , „Halbe Hand“, „Schmerztrinker“, sowie zwei zusätzliche Kurzgeschichten.


dunkelheit

Drei Tropfen Dunkelheit

292 Seiten

ein weiterer Fantasy-Krimi der Serie „Vollstrecker der Königin, schließt in der Handlung direkt an „Caitlynn“ an


www.machandel-verlag.de

cover


Schattenthron II

Der Prinz mit dem flammenden Herz

Angelika Diem


baer




© Angelika Diem 2018

Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Neustadtstr.7

49740 Haselünne

Cover-Designerin: Marie Braner

Oktober 2018

ISBN 978-3-95959-132-4


Dieses Ebook unterligt dem Urheberrecht der Autorin und des Verlages. Sie dürfen es für ihren privaten Gebrauch gerne kopieren, aber weder frei noch gebührenpflichtig als Download anbieten, außer Sie erhalten von der Autorin bzw. vom Machandel Verlag die ausdrückliche Genehmigung dafür.



TEIL 1

DIE SCHATTEN DER PROPHEZEIUNG


rose




1. Kapitel


rose


Neun Jahre nach dem Blutmond zur Sonnwende

wird ein unbeflecktes, zartes Wesen

mit goldenen Augen

zur vollen Blüte gelangen.


In ihm wohnen zwei Seelen

es allein ist der Schlüssel,

der die Barriere zwischen den W…

zu durchdringen vermag.

Sein gütiges Herz

seine Tapferkeit, seine Gabe, stets den rechten Weg zu wählen,

werden es zum e… Tor führen.


Um dieses eine zarte Wesen zu finden,

musst du sie alle prüfen,

denn es weiß nicht um seine Bestimmung.


suche nach den verl… Schriften der W…,

denn nur der Kreis der fünf Mä…

vermag die D… zu b…

Doch sei gewarnt!

Wenn der Kreis z…,

erlischt das Licht in be… W…


»Wie hast du diese Prophezeiung gefunden, Mutter?« Leonard legt Eugenia eine Hand auf die schmale Schulter.

»Drei Jahre, drei verdammte Jahre hat Ivald mich in dieser Zelle schmoren lassen!« Jedes einzelne Wort der Regentin ist voller Bitterkeit und Wut. »Kurz nach deinem sechsten Geburtstag, ich war zu der Zeit die einzige Gefangene hier unten, kam er zu mir und verkündete, dass du bereit wärst, wehrlose Mäuse zu quälen. Der ‚Schaden‘, den ich angerichtet hätte, sei bald behoben. Du würdest mich nicht mehr vermissen, sondern nur noch ihm und Gisir gefallen wollen.« Sie seufzt und schüttelt den Kopf. »Ich glaubte ihm und bin daran fast zerbrochen. Stundenlang weinte, tobte ich. Verzweifelt hämmerte ich mit den Fäusten gegen die Wand, bis meine Knöchel bluteten.« Sie deutet das Wort »Seelen«. »An dieser Stelle bröselte plötzlich der Schmutz herunter und die Kratzer im Stein leuchteten auf, sobald mein Blut sie netzte. Das riss mich aus meiner Verzweiflung und machte mich neugierig.« Ihre Hand tastet nach der Federbrosche, die sie auch heute genau unterhalb des Halsausschnittes angesteckt hat. »Dies ist ein Erbstück meiner Mutter. Als Ivalds Männer damals meine Kutsche überfielen, konnte ich sie und einen Ring im Saum meines Rockes verstecken. Nachdem ich die Zeichen entdeckt hatte, tauschte ich den Ring für ein paar Stück Kreide ein. Später haben sie mich vorübergehend in eine andere Zelle gebracht, wo ich die Brosche in einer Mauerritze versteckte.«

»Und genau in diese Zelle haben sie dann Berit gesperrt, der sie gefunden hat«, murmelt Rieke hinter mir.

Eugenia nickt ihr zu und fährt fort: »Nachdem ich erkannte, dass diese Kratzer Worte waren, löste ich den Dreck von der Wand und rieb jedes Mal Kreide in die Kratzer, bis ich sie lesen konnte. Als ich bei ‚Tor‘ angekommen war, tauchte Ivald plötzlich wieder auf. Er las die Worte und war dermaßen außer sich, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Wie gesagt, erst wurde ich in die andere Zelle und später in den Keller der alten Dornenburg verlegt.« Sie tippt sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Daher sehe ich die unteren Zeilen wie ihr heute zum ersten Mal.«

Meine Blicke hängen an den Worten von »Mut«, »Weg« und »prüfe«. Kaum zu glauben, was Gisir und Ivald aus diesen wenigen Hinweisen gemacht haben. »Denkt doch nur, wie viel Kopfzerbrechen diese Zeilen den beiden bereitet haben müssen«, sage ich laut. »Der Zeitpunkt …«

»Lässt sich mit astronomischen Tabellen berechnen«, fällt mir Rieke ins Wort. »Und das mit dem ‚zarten Wesen mit den zwei Seelen‘ haben sie als Hinweis auf ein junges Mädchen verstanden. Es gibt doch diesen Spruch von den ‚zwei Seelen in einer Brust‘ als Sinnbild der Wankelmütigkeit.«

Langsam ergeben die sonderbaren Prüfungen einen Sinn. »Als Erstes mussten wir Tiere fangen oder töten. Tiermörderinnen sind keine ‚zarten Wesen‘ im Sinne von ‚zartbesaitet‘, also empfindsam. Deshalb mussten diese Mädchen gehen.«

»Die Aufgabe auf der Dracheninsel stand für den Mut und jene in der Verlorenen Stadt für die Suche nach dem ‚rechten Weg‘«, ergänzt Leonard.

Das klingt einleuchtend. Wäre da noch die letzte Aufgabe, die für mich einfach keinen Sinn macht. »Wie konnten sie sicher sein, dass eine von uns Fünfen bei der Suche nach dem königlichen Symbol auf das Tor stößt?«, frage ich halblaut.

»Das sollte sie wahrscheinlich gar nicht, zumindest nicht alleine«, mischt sich Eugenia ein. »Gisir und Ivald wollten ganz sicher dabei sein, wenn das Tor geöffnet wird. Vielleicht hat Ivald einen Gegenstand aus dem Dämonenreich irgendwo versteckt und gehofft, dass die Auserwählte davon angezogen wird?«

»Aber«, wende ich ein, »das hieße ja, sie hätten gewusst, wo sich das Tor befindet …«

Eugenia nickt. »Zumindest eines davon. Oder wie sonst ist Ivald vom Dämonenreich hierhergelangt?«

Der Gedanke lässt mich frösteln.

»Mutter, glaubst du, es gibt mehr als ein Tor?«, fragt Leonard mit sichtlichem Unbehagen. »Wozu habe ich dann diesen Felsbrocken auf die Falltür setzen lassen, wenn die Dämonen auch woanders in unsere Welt gelangen können?«

Eugenia schüttelt den Kopf. »Überleg doch. Wenn Ivald eines dieser Tore allein öffnen könnte, hätte er nicht nach Rahel gesucht.« Sie wendet sich wieder der Prophezeiung zu. Das Licht ihrer Fackel wandert Zeile um Zeile nach oben. Einige der gekrakelten Wörter sind unleserlich gemacht worden, als wollte der Schreiber sie nicht wahrhaben oder verbergen.

»Und es war sicher König Laureyn?«, lenkt Rieke unser Denken in andere Bahnen. Flecken aus Licht und Schatten tanzen über ihr angespanntes Gesicht.

»In dieser Zelle hat er auf seine Hinrichtung gewartet, sagen die Aufzeichnungen«, antwortet Leonard und hebt seine breiten Schultern. »Wir wissen viel zu wenig über ihn, nicht einmal, was für ein Wandler er war. Die Schriften in der Bibliothek sind sehr lückenhaft.«

»Lückenhaft?« Seine Mutter reicht Rieke die Fackel. »Nicht ein einziges geschichtliches Werk aus der Zeit vor Enrik haben wir bis jetzt finden können. Ivald ist gründlich gewesen.« Ihre schlanken Finger wandern über eine Zeile weiter unten.

»Die verlorenen Schriften der Wandler«, höre ich sie murmeln. »Es kann nichts anderes bedeuten. Wenn ich nur mehr Zeit hätte, endlich das Versteck meines Vaters zu finden …«, seufzt sie, richtet sich auf und reibt sich die Stirn. Tiefe Schatten liegen unter ihren Augen. Sie sieht noch erschöpfter aus als Rieke.

»Du sollst dich doch nicht übernehmen, Mutter.« Leonard legt den Arm um ihre Schultern. »Wer weiß, ob dieses geheimnisvolle Versteck nicht schon vor Jahren entdeckt und ausgeräumt worden ist. Zeit genug hatte Ivald ja. Und wegen der großen Versammlung heute Abend …«

»… die wird genauso stattfinden wie besprochen«, schneidet sie ihm das Wort ab und strafft die Schultern. »Wir verkünden die Erweiterung des Thronrates um je ein Mitglied jedes Berufsstandes und Rieke wird zu meiner rechten Hand ernannt. Sie hat mir ihre Rede vorgetragen. Sie ist großartig.«

Rieke errötet und senkt den Blick auf den Saum ihres dottergelben Kleides. »Nur dank deiner Hilfe, Eugenia. Hoffentlich stolpere ich nicht wieder über Graf Wierlings Namen.«

»Das hoffe ich auch …«, schmunzelt Leonard. »Es hat meinen neuen Schatzmeister nicht sonderlich belustigt, als du ihn das letzte Mal in Graf ‚Widerling‘ umbenannt hast.«

Rieke läuft noch dunkler an. »Ich habe mich dafür entschuldigt. Dreimal.«

»Wobei«, spinnt Leonard mit todernster Miene den Faden weiter, »wenn ich an einige unserer zähen Verhandlungen denke, könnte ich Graf ‚Widerling‘ durchaus etwas abgewinnen …« Seine Mundwinkel zucken und prompt fangen beide an zu lachen. Eugenia seufzt nur und schüttelt nachsichtig den Kopf.

Ich muss schlucken. Rasch konzentriere ich mich auf die Worte der Prophezeiung, um mir nicht anmerken zu lassen, wie allein ich mich in diesem Augenblick fühle.

Dabei sollte mich freuen, dass Leonard sich mit Rieke so gut versteht und sie so viel Zeit miteinander verbringen. Eugenia hat sich noch längst nicht so gut erholt, wie sie uns glauben machen will. Immer wieder muss sie ihre Arbeit als Regentin unterbrechen und sich hinlegen. Ihre neue Zofe, die in einem Nebenraum schläft, hat Amanda erzählt, dass Eugenia in ihren Albträumen unverständliche Worte schreit. Jahre in einem Kerker wie diesem lassen sich nicht in wenigen Wochen abschütteln. Daher ist es so wichtig, dass Rieke sie möglichst bald offiziell vertreten darf.

Es ist nur … Zwei Wochen ist es jetzt her, dass Leonard mich zu seiner Braut gemacht hat, und wir beide waren seitdem keinen einzigen Augenblick allein.

»Die Wände haben Augen und Ohren«, hat uns Eugenia noch am Abend nach der Krönung gewarnt. »Bis zur Hochzeit benehmt ihr beide euch sittsam und würdevoll, als wärt ihr von Zuschauern umgeben, sodass kein Makel auf die Krone fällt.« Wir sehen uns jeden Tag zum Abendessen im Blauen Salon, Eugenia und Rieke sitzen mit am Tisch, es wird höflich geplaudert, was es Neues im Reich gibt und wie unser Tag verlaufen ist. Ich habe nie viel zu erzählen, daher höre ich meist nur zu. Oft ist mir, als würden Leonard und ich uns von Tag zu Tag fremder werden, was ihn nicht zu stören scheint. Zumindest lässt er sich nichts anmerken. Ich hingegen wälze mich an zu vielen Abenden ruhelos im Bett, ehe ich einschlafe, und frage mich, ob es richtig war, dass ich so rasch »ja« gesagt habe. Wir hätten noch mehr Zeit gebraucht, um uns noch besser kennenzulernen.

Entschlossen schiebe ich die trüben Gedanken zur Seite. Das hier ist wichtiger. »Deshalb hat es Rieke also nicht in die Brautschau geschafft«, sage ich halblaut und richte den Lichtschein meiner Fackel auf die Zeile mit den »goldenen Augen«.

Leonard nickt gedankenverloren. »Gut erkannt. Wir haben Ivalds Turm auf den Kopf gestellt und dabei ein Stück Papier mit Beschreibungen aller möglichen Gold-Varianten bei Augenfarben, von goldbraun bis goldgesprenkelt, gefunden. An ein Reh mit goldenen Augen haben sie natürlich nicht gedacht.« Jetzt lächelt er mich an, dieses ganz besondere Lächeln, bei dem mir immer ganz warm wird. »Wenn ich daran denke, wie versessen ich darauf war, dich in die Hände zu bekommen …«

»Was hattest du vor? Mit mir?«, frage ich und denke an unser Gespräch am Pferch zurück, als ich so verzweifelt versucht habe, ihn davon abzubringen, nach mir zu suchen.

Mit der freien Hand fährt er sich durch sein dunkles Haar. »Darüber hatte ich nicht genauer nachgedacht. Ich wusste nur, ich musste dich finden. Glaube mir, wenn Gisir mir nicht verboten hätte, mich mit meiner ‚Besessenheit‘ weiterhin lächerlich zu machen … Auch die Brautschau hätte mich nicht davon abgehalten, jedes Reh im Wald einzufangen.« Sein Blick lässt den meinen nicht los. Ich spüre, da ist noch etwas, das er mir sagen will, doch dann räuspert sich Eugenia.

»Habt ihr beiden euch die Worte gemerkt, Rieke, Rahel?« Ihre Hand wandert einige Zeilen nach unten und ihr Zeigefinger tippt auf »Kreis der fünf Mächte«. »Ich bin mir sehr sicher, dass es sich hier um die besonderen Fähigkeiten handelt, die wir drei besitzen.« Sie richtet die andere Hand auf ein feuchtes Stück Mauerwerk und ein blauer Schimmer erscheint über ihrer Handfläche. Weißlicher Dunst strömt von der Mauer zum blauen Licht und formt darin eine walnussgroße Wasserkugel, während das Mauerwerk eine hellere Tönung annimmt. Sie hat uns das schon öfter vorgeführt und es fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Wenn ich nur meine Kraft auch so mühelos beherrschen könnte! Doch das goldene Licht scheint sich nur dann meinem Willem zu beugen, wenn ihm danach ist oder ich in Lebensgefahr schwebe.

»Neben uns dreien muss es weitere Wandler geben, die über besondere Kräfte verfügen. Leonard gehört ja leider nicht dazu.« Es gelingt ihr nicht ganz, die Enttäuschung zu überspielen. Leonard zuckt mit den Schultern. »Ich wüsste gar nicht, wo ich auch noch dafür Zeit hernehmen sollte. Wie kommt ihr voran?«

»Rieke hat große Fortschritte gemacht.« Eugenia lächelt meiner Schwester zu und lässt die Wasserkugel zu Boden fallen. »Bald kann sie mit ihrer Windkraft umgehen wie mit einer dritten Hand.«

»Und wie macht sich Rahel?«, fragt Leonard erwartungsvoll.

Rasch senke ich den Blick.

»Nutzlos im Kampf«, erwidert Eugenia hart und ohne Umschweife. »Bis sie irgendwelche Pflanzen und Tiere überredet hat, ihr zu helfen, hätte ihr Ivald zehnmal den Dolch über die Kehle gezogen.« Die Regentin hebt die Schultern. »Wir sind übereingekommen, dass sie einfach ihre Reserven vergrößern soll, damit sie im Notfall heilen kann, ohne ihre eigene Lebenskraft zu verwenden.«

Vorsichtig hebe ich den Kopf. Leonard sieht mehr erleichtert als enttäuscht aus. »Das klingt vernünftig. Sie soll sich nicht in Gefahr bringen.«

Er hat das Zusammentreffen mit den Wargen in der Verlorenen Stadt nicht vergessen, wie es scheint. Sogleich muss ich an den Kuss denken und lege meine Fingerspitzen auf die Lippen. Es ist schon so lange her …

Leonard wendet sich abrupt ab. »Mutter, wenn das alles ist... Ich muss noch einiges für die Versammlung vorbereiten. Und du solltest dich ausruhen.«

»Und die Wand?«, fragt Rieke. »Soll sie so bleiben? Soll jeder die Prophezeiung lesen und darüber rätseln können?«

»Das hätte uns gerade noch gefehlt«, murmelt Leonard. »Es gibt schon genügend üblen Klatsch im Schloss.« Kurz streift sein Blick mein Gesicht. Ich kann spüren, wie es in ihm brodelt: Ärger, gemischt mit Sorge. »Welchen Klatsch?«, frage ich halblaut.

Leonard und Rieke wechseln einen langen Blick. »Nichts, worüber du dir Gedanken machen solltest«, sagt meine Schwester leichthin und auch Eugenia winkt ab. »Das übliche Gerede der Neider.«

Sie verheimlichen mir etwas. Alle drei. Ein bitterer Geschmack bildet sich in meinem Mund. Doch ehe ich nachhaken kann, deutet die Regentin mit dem Kinn auf die Wand. »Das hier lassen wir unter einer dicken Schicht Putz verschwinden, so wie die Krakeleien und Striche in den anderen Zellen. Die Zwischenwände und die Gitter kommen raus, neue Steinplatten auf den Boden und in ein paar Tagen wird nichts mehr an den verdammten Kerker erinnern.«

Verglichen mit dem stinkenden Dreckloch, aus dem Leonard den armen Benrit noch am Tag des Todes von König Gisir befreit hat, riecht die Luft bereits richtig angenehm. Die Gefangenen wurden alle freigelassen, der Dreck und das faulige Stroh hinausgeschaufelt und vergraben. Soldaten haben jede Handbreit Boden mindestens zehnmal mit Seifenlauge geschrubbt und gespült, ehe die Löcher für die Aborte mit Eisendeckeln verschlossen worden sind. Jetzt stehen alle paar Schritt Körbe voll feinster Holzkohle, welche die restlichen Gerüche an sich binden soll. Dennoch wird es wohl noch Wochen dauern, bis der Kerker sich endgültig in das geplante Waffenlager verwandelt hat.

»Wie sieht dein Plan für heute Nachmittag aus, Rahel?«, reißt mich Eugenias Stimme aus den Gedanken.

Rasch gehe ich im Kopf die Liste meiner Verpflichtungen durch. »Noch eine Stunde Etikette, dann Adelskunde und zum Schluss Reiten im Damensattel.« Beim letzten Wort ziehe ich eine Grimasse. Ich kann reiten, auch im Galopp, barfuß und auf nacktem Pferderücken. So hat es mich mein Vater gelehrt. Mit dem Damensattel jedoch darf ich derzeit nur im Schritt an der Leine hinter Stallmeister Ovid herzockeln. Kein Vergnügen, weder für mich noch für Perlengrau, die zahmste Stute im ganzen Stall.

Eugenia wendet sich zur Tür. »Wir ändern den Plan. Leonard, lass für uns vier die Pferde satteln. Wir machen einen kleinen Ausritt in den Wald.«

»Aber die Vorbereitung der Versammlung …«, wendet er ein.

»Das kann warten«, sagt seine Mutter entschieden. »Rieke und ich haben unsere ‚Spazierritte‘ in den Wald. Rahel kann sich notfalls durch das Gartentor davonstehlen. Du jedoch, mein Sohn, hast es nicht wieder getan, seit der Begegnung mit den Daimon.«

Ich horche auf und sehe ihn fragend an. Er presst die Kiefer aufeinander, sein Blick bohrt sich in ein Stück Mauer, während sich seine Hände zu Fäusten ballen.

»Mutter, bitte. Du weißt …«, quetscht er gequält zwischen seinen Zähnen hervor.

»Ja, ich weiß, du benützt das Erbe deines Vaters, um diese Seite an dir zu unterdrücken.« Sie legt ihm die Hand auf den Arm. »Hör auf, zu verleugnen, was du bist. Du kannst mein Erbe in dir nicht löschen wie eine Kerze. Also lerne, es zu zähmen, ehe es ausbricht und dich verschlingt.«

Leonard atmet tief ein. Ich kann spüren, wie es in ihm arbeitet. Schließlich öffnen sich seine Fäuste und er seufzt. »Wie du willst, Mutter. Wenn du unbedingt riskieren willst, dass ich euch alle in Stücke reiße …«


2. Kapitel


rose



»Aber die Eskorte ist schon aufgesessen, Eure Majestät«, protestiert General Silias, als Leonard ihn darüber informiert, dass wir vier ohne Soldaten im Schlepptaug ausreiten wollen.

»General«, Leonards Finger gleiten prüfend über den Sattelgurt meiner Stute Perlengrau, »wie oft haben die Jäger und Eure Soldaten diesen Abschnitt des Waldes schon durchsucht?«

»Jedes Mal, bevor Ihre Hoheit, Regentin Eugenia und Komtesse Rieke gemeinsam dorthin ausgeritten sind«, erwidert General Silias.

»Und wie oft sind verdächtige Subjekte gesichtet worden?«, hakt der Prinz nach.

Erste Schweißtropfen bilden sich auf der geröteten Stirn des weißhaarigen Generals. »Kein einziges Mal. Trotzdem ist es weit sicherer, wenn die Eskorte gleichzeitig mit Euch durch den Wald reitet.«

Leonard seufzt. »Sagt, was ist in einem Wald leichter aufzuspüren, wenige Reiter oder ein Trupp Soldaten?« Ohne auf Silias’ Antwort zu warten, winkt Leonard den Stallmeister zu sich und reicht ihm die Zügel. »Entschuldigt mich einen Moment, General. Ich möchte meiner Verlobten in den Sattel helfen.«

Der General weicht einen Schritt zurück.

Mir steigt das Blut in die Wangen, als Leonard die Knie beugt und mir seine Handfläche anbietet. Er ist doch der König und kein Stallbursche. Der Stallmeister scheint das ebenso zu sehen, denn er räuspert sich. »Eure Majestät, Ihr solltet nicht … Bitte lasst mich …«, murmelt er.

Leonard ignoriert ihn. »Komm, Rahel.« Er zwinkert mir zu. »Oder hast du Angst, ich lasse dich fallen?«

Mein Herz beginnt heftig zu klopfen. Ich schüttle stumm den Kopf und trete zu ihm hin.

Zwar habe ich das Aufsitzen bereits mit dem Stallmeister geübt, doch es fühlt sich völlig anders an, so nah vor Leonard zu stehen und ihm die Hand auf die Schulter zu legen, während meine andere Hand nach dem Sattel tastet. Mein Herz schlägt schneller und ich bin froh um die Reithandschuhe. Jetzt nur alles richtig machen. Ich hebe das Knie und lege meine Stiefelspitze auf Leonards Handfläche. Er nickt mir zu, lächelt und streckt die Knie. Zugleich strecke ich mein Bein durch und achte darauf, dass mein Rücken auch ganz gerade ist, ehe ich das andere Bein anwinkle und über das Sattelhorn lege. Einen Augenblick später sitze ich sicher im Sattel, den Rücken leicht nach vorn gerichtet, die Schultern gerade.

Mit geschickten Händen richtet Leonard die Falten meines weiten, goldbraunen Rockes, wobei seine Finger wie zufällig über mein Knie streicheln. Für einen Augenblick setzt mein Herzschlag aus und ich verpasse beinah, wie er mir den Steigbügel hinhält, damit ich mit der Stiefelspitze hineinschlüpfen kann.

Der Stallmeister reicht mir die Zügel und Leonard wendet sich wieder dem General zu.

»Ich habe es mir anders überlegt, Silias. Ruft die Eskorte zusammen und sagt ihnen, sie sollen auch zwei Packpferde mitnehmen. Wir reiten nach Eichengold. Die Damen möchten ein paar Kleinigkeiten einkaufen.«

Einen Moment runzelt der General ob Leonards Sinneswandels die Stirn, dann salutiert er sichtlich erleichtert und eilt aus dem Stall.

Ich sehe Leonard fragend an. Einkaufen? Dieser zwinkert mir lediglich kurz zu, ehe er den Stallmeister anweist, seinen großen Rappen zu satteln. Was hat er vor?

Vorsichtig dirigiere ich meine Apfelschimmelstute in Richtung des hinteren Stalltores. Rieke und Eugenia sind mit ihren Pferden bereits zum großen Brunnen geritten. Unschlüssig, ob ich ihnen folgen oder auf Leonard warten soll, zügle ich Perlengrau vor dem halb geöffneten Tor.

Jenseits des Teiches, nahe dem Gemüsegarten, fällt eine Tür ins Schloss und ich höre zwei Stimmen. Eine davon hört sich an wie Irmgard. Schlagartig überkommt mich Sehnsucht nach der Zeit, als ich »nur« ein Küchenmädchen war und meine größte Sorge perfekt geschnittenen Lauchringen galt. Jetzt, da ich innerhalb eines halben Jahres alles beherrschen muss, womit Mädchen wie Rieke und Fedora aufgewachsen sind, erscheint mir die Küche mit ihren Düften, der Hektik und der strikten Ordnung wie eine verlorene Heimat, in welcher ich sehr genau gewusst habe, wohin ich gehöre.

Die beiden Stimmen werden leiser und unbewusst greife ich nach meinen Rehsinnen, um mich zu vergewissern, dass es wirklich Irmgard ist.

Doch es ist die zweite Stimme, die ich zuerst verstehen kann. Bertas Stimme. »Hast du Komtesse Rieke gesehen? Sie sieht so elegant aus in dem dunkelblauen Reitkleid auf dem Fuchs. Und erst die Regentin, weinrot auf dem Falben! Da kann Rahel sich eine dicke Scheibe abschneiden.«

Ich zucke leicht zusammen, als mein Name fällt. Der hämische Unterton in Bertas Stimme gefällt mir überhaupt nicht.

»Hüte deine Zunge, Berta! Du sprichst von Lady Rahel, unserer zukünftigen Königin«, rügt Irmgard sie scharf.

»‚Lady‘ Rahel?« Berta lacht meckernd. »Ich habe sie vor einer Woche reiten gesehen. Wie ein Eichhörnchen hat sie sich an die Zügel geklammert, krumm und klein.«

Ärger keimt in mir hoch und ich richte mich auf. Berta hat bestimmt selbst noch nie mit Röcken auf einem Damensattel gesessen. Die ersten paar Reitstunden hatte ich wirklich Angst, ich würde jeden Moment hinunterrutschen.

»Sie macht rasche Fortschritte, hat der Stallmeister gesagt«, kontert Irmgard. »Und du solltest den Kümmel finden, nicht tratschen.«

Doch wie es scheint, ist Berta so richtig in Fahrt. »Niemand versteht, was Seine Majestät an Rahel findet. Die Diener sagen, die beiden sehen sich nur beim Abendessen und wechseln kaum ein Wort miteinander. Bestimmt bereut er schon, Rahel gewählt zu haben, nur um uns Fußvolk bei Laune zu halten. Als Dank für ihren Beitrag zur Rettung der Regentin hätte es auch ein Beutel Gold getan, dann wäre er jetzt noch frei für Komtesse Rieke. Selbst ein Blinder mit dem Krückstock sieht, wie gut die beiden zueinander passen und wie fröhlich er in ihrer Gegenwart ist.«

Mir weicht das Blut aus den Wangen und ich schlucke hart. Irmgards Antwort höre ich nicht mehr. Leonards Bemerkung über den Klatsch fällt mir ein und der Blick, den er und Rieke miteinander getauscht haben. Sie wissen davon. Sie alle drei. Weshalb haben sie mich nicht eingeweiht? Ich bin doch kein Kind mehr!

Plötzlich schnaubt Perlengrau und beginnt zu tänzeln. Erschrocken lockere ich den Griff um die Zügel. Die Lederstreifen haben sich tief in meine Hand eingegraben, so fest habe ich sie gepackt. »Schon gut, meine Schöne«, murmle ich und streichle Perlengraus Hals.

»Können wir?« Leonard lenkt seinen grauen Hengst an meine Seite. »Donnerhuf wird schon ungeduldig. Du zuerst!«

Mir bleibt keine Zeit für Grübeleien. Der Stallmeister drückt rasch das Tor auf. Mit den Absätzen meiner Reitstiefel tippe ich auf Perlengraus Flanke. Die Stute gehorcht, genauso wie bei den Übungsritten mit dem Stallmeister. Im Schritt geht es zuerst auf den Rasen. Ein rascher Blick zum Garten – Berta und Irmgard stehen mitten in den Kräuterbeeten und verbeugen sich tief, als sie Leonards ansichtig werden. Kurz lausche ich mit meinem Rehgehör nach hinten, während Perlengrau über den Rasen auf das Kasernengebäude zu trottet.

»Was für ein wunderschönes Reitkleid!«, höre ich Irmgards Stimme. »Diese weißen Bänder und die schillernden Knöpfe, mindestens genauso schick wie das Reitkleid der Regentin. Und der König reitet mit ihr und nicht mit der Komtesse.«

Ich muss lächeln, als ich die Entschiedenheit in ihrer Stimme höre, und konzentriere mich auf das Reiten. Zum Glück kennt Perlengrau den Weg, denn in meinem Kopf kreisen die Anweisungen des Stallmeisters, wie ich richtig zu sitzen habe: Die Schultern immer schön parallel zu denen des Pferdes, die Zügel nicht zu straff, aber auch ja nicht zu locker, leicht nach vorn, aber keinen runden Rücken machen …

Schon haben wir die Lücke zwischen der Kaserne und dem Dienstbotentrakt erreicht und reiten an diesem vorbei bis zum großen Platz, wo Eugenia und Rieke auf uns warten.

Die Regentin mustert mein Reitkleid und meine Haltung und nickt. »Nicht übel. Vielleicht ist die Kleine doch ganz brauchbar.«

Rieke zwinkert mir zu und ich atme auf. Mit der »Kleinen« ist Leah gemeint, meine Kammerzofe. Während der Brautschau stand sie in Fedoras Diensten, doch als diese abreiste, hat sie der armen Leah einfach gekündigt und diese zurückgelassen. Sie hat mir so leidgetan, als sie weinend auf der Schlosstreppe saß und nicht wusste, wohin. Also haben Amanda und Rieke auf meine Bitte hin Sir Eduard überredet, Leah für mich einzustellen. Zuerst war sie sehr schüchtern und ein wenig unbeholfen. Zum Glück hat sich das inzwischen gelegt. Bestimmt wird sie sich freuen, wenn ich ihr das Kompliment der Regentin weitergebe.

»Können wir?«, fragt Rieke leicht ungeduldig.

»Gleich, wir warten noch auf die Eskorte. Ihr wollt doch die Einkäufe aus Eichengold nicht selbst tragen, oder?«

»Einkäufe?« Eugenia zieht ihre schmalen Brauen hoch. »Wir wollten doch …«

In diesem Augenblick kommt General Silias mit sechs Soldaten auf den Hof geritten, die hintersten beiden führen zusätzlich die geforderten Packpferde bei sich.

Leonard deutet uns, keine Fragen mehr zu stellen, und die Soldaten nehmen uns in die Mitte.

Gemächlich traben wir durch das große Tor, den Weg hinunter in Richtung Wald. Vorne plaudert Leonard locker mit dem General über die Rekrutierungsbemühungen und die Zubauten bei den Kasernen auf den Dracheninseln, während wir drei ihnen schweigend folgen.

»Was hat Leonard vor?«, fragt mich Riekes Blick, doch ich kann auch nur die Achseln zucken.

Tiefer und tiefer reiten wir in den Wald hinein, und plötzlich hebt Leonard die Hand. »Anhalten!«

Kaum haben alle ihre Pferde gezügelt, wendet er sich an den General. »General Silias, Ihr und Eure Männer verteilt Euch entlang der Straße hinter Bäumen und Sträuchern und haltet jeden an, der uns folgt. Vielleicht erwischen wir so einen der Spione, falls es noch welche auf dem Schloss gibt. Die Damen und ich machen unseren Spazierritt im Wald wie geplant. Wir treffen uns wieder hier.«

Der General öffnet den Mund, doch Leonard hebt warnend die Hand. »Ich habe nicht vor, darüber zu diskutieren. Als Prinz konnte ich stundenlang allein durch die Wälder reiten und jagen. Ich habe nicht vor, mich jetzt als König im Schloss einsperren zu lassen.«

Er weist zum Himmel, wo die Sonne den Zenit schon vor zwei Stunden überschritten hat. »Erwartet uns zurück, wenn die Sonne drei Handbreit über dem Horizont steht.« Der Tonfall des Königs duldet keine Widerrede. »Davor gibt es keine Suchaktion!« General Silias salutiert im Sattel. »Wie Eure Königliche Hoheit befehlen.« Die Soldaten folgen seinem Beispiel.

Rasch blicke ich zu Eugenia und Rieke. Stolz leuchtet aus den Augen der Regentin, während meine Schwester dem König anerkennend zunickt.

Leonard lenkt seinen Hengst zwischen den Bäumen hindurch auf einen schmalen, kaum erkennbaren Pfad. Das wird nicht leicht für mich. Hoffentlich stolpert Perlengrau nicht über eine Wurzel oder so.

»Keine Sorge, wir reiten langsam«, ermuntert mich Rieke und folgt dem Prinzen. Eugenia nickt mir zu. »Ich bleibe hinter dir.«

Es ist leichter als erwartet. Perlengrau ist aufmerksam und im Schritttempo kommen wir sicher voran. Dennoch wage ich nicht, mich zu entspannen und es zu genießen, endlich wieder im Wald unterwegs zu sein. Zu sehr muss ich mich auf das Reiten konzentrieren. Der Pfad endet nach wenigen Minuten bei einer Fütterungsstelle. Leonard zügelt sein Pferd und wartet, bis wir uns alle um die Raufe versammelt haben. »Hier können wir die Pferde zurücklassen.«

Seine Gesichtszüge sind angespannt.

»Eine gute Wahl«, meint Eugenia. Während Rieke fast gleichzeitig mit Leonard selbständig absitzt, wartet Eugenia, bis ihr Sohn ihr aus dem Damensattel hilft.

Rieke bindet ihr und Leonards Pferd an einen Baum nahe dem Leckstein, Eugenia wählt den daneben.

»Komm!« Leonard streckt mir die Arme entgegen, und seine kräftigen, großen Hände legen sich um meine Taille. Einen Augenblick später hebt er mich aus dem Sattel und drückt mich für einen Atemzug an seine breite Brust, ehe er mich zu Boden gleiten lässt. Er riecht gut, nach Leder, Honig und sonnenwarmem Klee.

»Gehen wir da lang!« Eugenia deutet nach Süden, wo der Wald dichter wird. »Für den Fall, dass unser besorgter General uns doch ein oder zwei Soldaten nachschickt.«

»Kannst du jemanden hören?«, frage ich.

Eugenia schließt kurz die Augen. Fasziniert beobachte ich, wie sich an ihrem Nacken ein Muster aus feinen Federn in der Haut abbildet. Sie ist mit ihrer Tierseele weit stärker verbunden als ich und Rieke.

Leonard runzelt die Stirn. »Die Straße ist viel zu weit …«

Seine Mutter hebt die Hand und er schluckt den Rest des Satzes hinunter. Beim Abendessen haben wir das Thema Tierfähigkeiten natürlich nie angeschnitten, weil die Diener ständig zugegen sind. Doch Eugenia und Rieke hatten doch sicher Gelegenheit, Leonard in diese Seite des Wandlerwesens einzuweihen, oder? Auf meinen fragenden Blick hin schüttelt Rieke den Kopf und hebt die Achseln.

Eugenia öffnet die Augen. »Kein Pferd und kein Mensch sind in der Nähe: Wir sind sicher!«

Der Wind weht gerade aus Süden, deshalb laufen wir noch zu Fuß einige Minuten lang tiefer in den Wald hinein. Die Pferde würden sonst bei Leonards Geruch in Panik geraten. Hier gibt es keine von Menschen ausgetretenen Pfade. Selbst die wenigen Wildwechsel scheinen einen Bogen um jenen Abschnitt des Waldes zu machen, der dem verwilderten Garten über den Ruinen der alten Dornenburg am nächsten liegt. Schlehenbüsche mit ihren dunkelblauen Beeren und Wildrosen, an denen schon die ersten Hagebutten reifen, wechseln sich mit wild wuchernden Brombeeren ab. Stacheln und Dornen, wohin man auch blickt, als wollte dieser Teil des Waldes um keinen Preis gestört werden. Ich muss an den weißen Hirsch denken, dem ich während der Brautschau hier in der Nähe irgendwo begegnet bin. Nicht, dass ich die Nebellichtung ohne Hilfe rasch wiederfinden würde, schon gar nicht in menschlicher Gestalt.

»Warum verwandeln wir drei uns nicht zuerst?«, fragt Rieke, nachdem sie mit dem Reitkleid zum dritten Mal an einer Brombeerranke hängen geblieben ist. »Als Rehe und Kauz kommen wir viel besser voran.«

»Und können uns nicht mit Leonard verständigen«, kontert Eugenia, die das Schlusslicht bildet. »Ich denke, wir sind weit genug gelaufen«, sagt sie und bleibt stehen. »Lasst es uns gleich hier versuchen.«

»Gleich hier« ist eine kleine Lichtung, die durch drei umgestürzte Bäume entstanden ist. Ein dichter Teppich aus weiß blühendem Sauerklee umgibt drei Stämme, aus denen verschiedenste Pilze sprießen.

Wir bilden einen engen Kreis in der Mitte der Lichtung. »Leonard, erinnerst du dich noch, wie du dich zum ersten Mal verwandelt hast?«

Er nickt. »Damals im Keller der Dornenburg vor deiner Zelle, Mutter … ich hatte so ein seltsames Gefühl, dass da etwas einfach nicht stimmt. Deshalb habe ich Ivald und die Wachen mit dir vorausgeschickt und bin euch erst später gefolgt, um nachdenken zu können. Als ich an der Kreuzung der beiden Gänge vorbeikam, wurde das Gefühl noch einmal stärker. Und dann habe ich das Klirren von Waffen gehört. Und Schreie. Deine Schreie, Rahel. Die Todesangst in deiner Stimme, der Geruch von Blut … da ist etwas in mir zerbrochen. Ich war auf einmal voller Wut und dann …« Noch während er spricht, beginnt seine Gestalt vor unseren Augen zu verschwimmen. Ein Kokon aus schillerndem Licht umgibt ihn, dahinter kann ich seine Umrisse erkennen. Seine menschliche Gestalt zerfließt, wächst zu einem dunklen Schatten, der den ganzen Kokon ausfüllt, bis er diesen zerreißt.

Vor uns steht der gewaltige Bär, der mir und Rieke vor dem magischen Tor das Leben gerettet hat. Ich habe verdrängt, wie groß er ist. Auf allen Vieren stehend reicht mir seine Schulter bis zur Brust und die dunklen Augen des massigen Kopfes sind mit meinen in einer Linie. Als er die Lippen zurückzieht, werden seine Eckzähne sichtbar, so lang wie mein Zeigefinger. Rieke und Eugenia weichen instinktiv einen halben Schritt zurück. Ich bleibe wie festgewurzelt stehen und strecke die Hand aus, um ihm über die Wange zu streichen. Er ist so gewaltig, so stark, und gerade deshalb rührt mich die Verletzlichkeit, die Furcht in seinen Augen. Das nachtschwarze Fell fühlt sich unter meinen Fingern rau an. Meine andere Hand legt sich auf seine Schultern. Als er das Gewicht verlagert, kann ich das Spiel seiner Muskeln fühlen. Ein Hieb seiner Pranken würde mir das Genick brechen. Doch er gräbt seine Krallen in den Klee, als hätte er Angst, dass die kleinste Bewegung mich verletzen könnte.

»Du bist wunderschön, Leonard«, höre ich mich murmeln. »Gib dir Zeit und du wirst deine Kraft so beherrschen können wie Eugenia ihre Flügel. Denk immer daran, du trägst den Körper eines Bären, nicht der Bär deinen Geist.«

Dann trete ich zurück, um ihm mehr Raum zu geben, und geselle mich zu Eugenia und Rahel. Lächelnd beobachten wir, wie der große, schwarze Bär sich streckt, die Krallen in die morschen Baumleichen gräbt und große Stücke herausbricht, sich im Klee wälzt, durch die Lichtung prescht und den nächstbesten kräftigen Baum hochklettert.

Ich spüre den Drang, mich ebenfalls zu verwandeln, um durch den Wald zu tollen wie früher, und ich weiß, Rieke geht es ebenso. Doch etwas anderes hat Vorrang.

»Eugenia?«, frage ich laut, sobald sich Leonard ausgetobt hat und zu uns herübertrottet. »Du weißt von uns allen am meisten über die Wandler. Willst du uns nicht endlich einweihen? Hier hört uns niemand.«

Die Regentin zögert nur kurz und nickt. »Ich habe Rieke bei unseren Ausritten schon ein bisschen etwas erzählt.« Sie lässt sich auf einer moosbewachsenen Stelle des nächsten Baumstamms nieder. »Mein Ziehvater Ekarius hat in seinem Haus alles gesammelt, was er an Schriften über uns finden konnte. Darunter auch alle Bücher, die meine Eltern noch aus der königlichen Bibliothek schmuggeln konnten, ehe sie aufgeflogen sind.« Sie seufzt. »Weil ich noch ein Kind war, haben sie mich nicht mit ihnen in den Kerker von Eichengold geworfen. Sonst wäre ich wohl mit ihnen dort an der Typhusepidemie gestorben. Ekarius hat mich aus einem ‚Haus des Gehorsams‘ geholt, einem von mehreren, die Enrik im ganzen Reich hat bauen lassen, um die Kinder von ‚Verbrechern‘ zu folgsamen Untertanen zu erziehen.« Die Schatten um ihre Augen vertiefen sich, und der harte Zug um ihren Mund lässt mich ahnen, wie schlimm die Zeit dort gewesen sein muss. Leonard brummt und reibt seinen Kopf an ihrer Hand. Sie lächelt und tätschelt ihn zwischen den Ohren. »Jedenfalls war Ekarius selbst kein Wandler, obwohl seine Mutter eine von uns gewesen ist. Sein Vater war ein normaler Mensch, und bei solchen Mischehen wird meist eines von zwei Kindern ohne die Gabe geboren. Daher war ich zwar enttäuscht, jedoch nicht völlig überrascht, dass du«, sie nickt Leonard zu, der sich vor sie in den Klee gelegt hat, »dich nicht schon in der Wiege verwandelt hast. Das Erbe deines Vaters hat wohl versucht, deine Wandlergabe vor dir zu verschließen.«

»Und warum sind nicht alle Menschen Wandler? Warum nur wir? Und weshalb haben wir diese speziellen Kräfte, aber Leonard nicht?«, platzt es aus mir heraus.

»Langsam, langsam …« Eugenia hebt die Hand. »Diese ‚Mächte‘, wie die Prophezeiung sie beschreibt, sind auch mir ein Rätsel. In keinem der Bücher, die ich gelesen habe, werden sie erwähnt. Meine Macht über das Wasser habe ich nur durch Zufall entdeckt, als ich im ersten Jahr meiner Gefangenschaft in der Zelle fast verdurstet bin, obwohl es draußen geregnet hat und die Wände sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hatten. Was das andere betrifft, da gibt es in einigen Schriften Andeutungen über eine Legende, in welcher ein Überwesen, dessen Name verloren gegangen ist, zwischen ausgewählten Menschen und der Natur eine besondere Verbindung geschaffen hat.« Sie hebt die Schultern. »Es ist nur eine Legende, vielleicht haben wir Wandler sie selbst erfunden, damit wir unser Anderssein erklären können.«

»Klingt nicht, als gäbe es so wahnsinnig viel über uns nachzulesen«, sagt Rieke. »Dabei war selbst der König einer.«

»Und genau deshalb sind Schriften so rar«, erklärt Eugenia. »Die Herrschenden haben bestimmt, was überliefert werden durfte und was nicht. Und da die Wandlergabe geheim bleiben musste …«

»Weshalb denn?«, werfe ich ein. »Es ist doch nichts Schlimmes, wenn man sich in ein Tier verwandeln kann.«

Eugenia hebt die Schultern. »Grundsätzlich nicht. Doch die Verwandlung schafft Vorteile. Wer würde nicht gern fliegen können, oder stark sein wie ein Bär und flink wie ein Eichhörnchen? Wo Vorteile sind, bleibt der Neid nicht aus. Böse Gerüchte sind schnell gesät. Wenn dann ein Unglück ein Dorf heimsucht und ein Schuldiger gefunden werden muss, zeigen die Neidvollen, die Unzufriedenen gern auf die ‚Sonderlinge‘. Der Aufstand unter Enrik hatte seinen Ursprung in der Misswirtschaft und dem Machtmissbrauch einer ganzen Reihe von Adelshäusern im Süden des Landes. Auch ein Teil der Höflinge war korrupt und verdorben. Doch König Laureyn weigerte sich, diese abzusetzen, was mehr und mehr Leute der Rebellion in die Arme trieb. Was glaubt ihr, warum verschloss Laureyn die Augen davor? Warum waren diese ihm wichtiger als sein Volk?«

Leonard brummte etwas Unverständliches.

»Weil sie«, beginnt Rieke langsam, »Wandler waren wie er …?«

Eugenia nickt sichtlich zufrieden. »Gut kombiniert. Merkt euch eines, nur weil jemand sich verwandeln kann, muss er noch lange kein guter Mensch sein. Ekarius fand heraus, dass zu Laureyns Zeit alle hohen Posten bei Hofe und vier Fünftel aller Adelstitel im Reich an Wandlerfamilien vergeben waren.«

»Weil ein Wandlerkönig nur anderen Wandlern vollkommen vertrauen kann«, murmle ich halblaut und ernte ein zustimmendes Brummen von Leonard und ein Lächeln von Eugenia.

»Genau! Deshalb ist es so wichtig, dass wir das Versteck in der Bibliothek finden, ohne dass jemand davon Wind bekommt. Ich baue darauf, dass dort Schriften versteckt sind, die mein Vater nicht mehr fortschaffen konnte. Wir brauchen Hinweise, wo und wie wir nach den zwei anderen besonderen Wandlern suchen müssen.« Sie rutscht vom Baumstamm und schüttelt den Rock ihres Reitkleides aus. »Doch genug davon! Lasst uns den Ausflug genießen!«

Ähnlich wie Leonard verschwindet Eugenia in einem schillernden Kokon, um zwei Atemzüge später als Waldkauz davonzufliegen. Ich kann meiner Schwester ansehen, dass sie, genau wie ich, auch gern noch mehr Antworten bekommen hätte. Zum Beispiel auf die Frage, warum Leonard ein Bär und nicht wie seine Mutter ein Vogel geworden ist.

»Dann eben später«, meint Rieke mit einem bedauernden Achselzucken und verwandelt sich in ein Reh. Ich tue ihr es gleich. Seit ich mit dem goldenen Licht übe, habe ich auch meine Verwandlung viel besser unter Kontrolle. Die Bewegungslosigkeit, die mich damals bei der Begegnung mit Jerome fast die Freiheit gekostet hätte, hält nur noch ein, zwei Atemzüge an. Rieke und ich spielen fangen, während sich Leonard ordentlich anstrengen muss, mit uns Schritt zu halten. Dornen und Stacheln können unserem Fell weit weniger anhaben als unserer menschlichen Haut, und ehe wir uns versehen, sind wir ein Stück tiefer in diesen verlassenen Teil des Waldes vorgedrungen.

Plötzlich hält Leonard inne, reißt den Kopf in die Höhe und wittert. In seinem Magen grummelt es. Ich bleibe stehen und versuche herauszufinden, was seinen Hunger geweckt hat. Ich rieche Moos, morsches Holz, Beeren, aber davon hat er schon welche gegessen, Pilze, Mäusekot … kein Honig, dafür der widerlich süßliche Geruch eines faulenden Kadavers.

Natürlich. Bären sind Aasfresser. Auf der Reise von Weißrosen zum Schloss habe ich wie ein echtes Reh tagelang von Gräsern und Kräutern gelebt. Wenn also Leonard sich sehr stark auf seine animalische Seite konzentriert, kann er auch tote Tiere verspeisen. Roh. Mit Maden darin.

Rieke scheint den gleichen Gedanken zu haben, denn sie schüttelt sich und stupst Leonard mit dem Kopf in die Seite. Doch der achtet gar nicht darauf, sondern trottet dem Geruch nach. Der Bär hat die Oberhand. Zögernd folgen wir ihm beide. Nach zwanzig Herzschlägen weicht der Wald zurück und wir betreten eine große Lichtung. Ohne lange zu überlegen, nehme ich menschliche Gestalt an, denn ich mag meinen Rehaugen nicht trauen. Da vor uns, mitten auf der Lichtung, steht eine großzügig angelegte Jagdhütte, etwa zwölf Schritt lang und acht Schritt breit, mit einem moosbewachsenen Schindeldach, einem kleinen Stall und einer Veranda mitsamt einem hölzernen Geländer.

Leonard ist uns ein Stück voraus und verschwindet hinter dem Stall. Rieke, die sich ebenfalls zurückverwandelt hat, und ich laufen ihm hinterher. Als wir um die Ecke des Stalls biegen, steht er vor einem Häufchen vergammelter Kaninchenköpfe und -felle. Um ihn herum surren grün schillernde Schmeißfliegen.

»Leonard, nicht!«, rufe ich. »Du bist kein Bär, du trägst nur seinen Körper.«

Er knurrt mich an und ich kann spüren, dass sein animalischer Instinkt immer noch die Oberhand hat.

Vor uns landet ein Käuzchen auf dem Boden und wird zu Eugenia. »Wo ist deine Selbstbeherrschung, Leonard?«, fragt sie streng.

Gleichzeitig fühle ich, wie sich sein menschliches Bewusstsein durchsetzt, und im selben Augenblick verschwimmt seine Tiergestalt. Leonard steht als Mensch vor uns. Er fährt sich mit den Händen durch das dunkle Haar. »Ist es immer so? Dass das Tier so viel stärker ist?« Noch immer dreht er uns den Rücken zu, das Gesicht den Kadaverteilen zugewandt. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, doch die Ratlosigkeit in seiner Stimme ist nicht zu überhören. »Ich hatte vergessen, wer ich bin, und vergessen, wer ihr seid. Was, wenn ich euch angefallen und getötet hätte?«

»Nicht als Bär«, entgegne ich. »Und das weißt du. Wir Rehe waren an deiner Seite, doch die Kaninchenköpfe haben dich stärker angezogen. Bären schlagen nun mal kein Wild.«

Er seufzt erleichtert und dreht sich zu uns um. »Stimmt.«

»Außerdem hast du die Kontrolle ja zurückgewonnen«, erklärt Eugenia zufrieden. »Für deine zweite Verwandlung hat es sehr gut geklappt.« Ihr Blick schweift zu den Kaninchenteilen. »Das waren keine Raubtiere. Die häuten ihr Essen nicht.«

Leonard nickt. »Und bauen auch keine Jagdhütten. Hast du von dieser schon einmal gehört oder gelesen, Mutter?«

Eugenia verneint. »Sie scheint ziemlich alt zu sein. Vielleicht noch aus der Zeit vor König Laureyn. Hätte König Enrik sie bauen lassen, wüsste das ganze Schloss davon.«

»Sehen wir sie uns an!« Riekes Augen leuchten. »Vielleicht finden wir etwas Spannendes.«

Auch mich hat die Neugier gepackt. Verwitterte Fensterläden versperren den Blick ins Innere der Hütte und auch die einzige Tür ist abgeschlossen. »Das haben wir gleich.« Zwei kräftige Stöße mit Leonards Schulter und das alte Holz gibt nach. Das Licht, das durch die Türe fällt, reicht nur einige Schritte weit. Ich erkenne einen Tisch, zwei Stühle, einen Herd, ein Fenster. Leonard öffnet es und entriegelt die Fensterläden. Sie knarren, als er sie aufdrückt. Nachdem er auch das zweite Fenster geöffnet hat, treten wir alle ein und sehen uns um. Viel hat die Hütte nicht zu bieten: Ein paar Regale mit Töpfen, Schüsseln, Tellern und Besteck. Hinten in der Ecke ein auffallend breites Bett, daneben zwei Truhen, ein Raumteiler und dahinter eine hölzerne Wanne. Ein Tischchen mit noch einem Stuhl, darunter ein Korb mit Nähzeug, Wolle und Stricknadeln.

Eine Türe zwischen dem Bett und dem Raumteiler führt in eine kleine, dunkle Kammer voller Regale. Ein paar bis fast zur Unkenntlichkeit verschrumpelte Rüben und Äpfel, mehr ist von den Vorräten nicht übrig geblieben.

»Wer hat hier gewohnt?«, fragt Rieke verwundert.

Das frage ich mich auch. »Eine Frau.« Ich deute auf die Wollknäuel. »Vielleicht ein Paar?«

Eugenia ist an die erste Truhe herangetreten und klappt diese auf. Ihre Augen weiten sich und sie atmet scharf ein.

»Was ist, Mutter?«, fragt Leonard und stellt sich neben sie.

Die Regentin bückt sich und zieht ein Kleid aus der Truhe. Es ist cremeweiß mit weiten Ärmeln, einem runden Ausschnitt, unter der Brust gerafft und verziert mit breiten, roten Samtbändern. »Das ist mein Kleid«, sagt sie mit bebender Stimme. »Ich habe es mir in dem Frühling nähen lassen, als ich dich in mir getragen habe, Leonard.«

Ein Kleid nach dem anderen holt sie aus der Truhe. Acht an der Zahl. Alles Kleider, die sie zwischen dem fünften und siebten Schwangerschaftsmonat getragen hat. Die zweite Truhe ist mit sackartigen Gewändern aus Leinen gefüllt, Umhängen aus Wolle, Unterwäsche, Nachtgewändern, Bettzeug, Waschfetzen, Socken.