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IN DIESER AUSGABE

Editorial

Ich und Bewusstsein

Was von der Seele übrig bleibt

In der heutigen Wissenschaft spielt die Idee einer unsterblichen Essenz des Menschen keine Rolle mehr. Zu Recht?

Von Steve Ayan

Interview

»Wir können auch ohne«

Die Philosophin Katja Crone erklärt, warum es ein kultureller Fortschritt ist, dass immer weniger Menschen am Seelenglauben festhalten.

Des Rätsels Kern

Die Suche nach dem »neuronalen Korrelat« von Bewusstsein hat bislang wenig Zählbares ergeben. Manche Philosophen zweifeln, ob dieses Unterfangen jemals von Erfolg gekrönt sein wird.

Von Tobias Schlicht

Denkfallen der Skeptiker

Ist Bewusstsein letztlich unerklärlich? Nein – denn Subjektivität ist ebenso objektiv erforschbar wie andere Phänomene.

Von Michael Pauen

Ich wie Du

Zahlreiche Befunde aus der Sozialund Entwicklungspsychologie legen eine spannende Vermutung nahe. Demnach erwächst Ich-Bewusstsein erst aus der Spiegelung unseres Selbst durch andere Menschen.

Von Wolfgang Prinz

Sorge um das Selbst

Das antike Motto »Erkenne dich selbst!« ist mehr als 2500 Jahre alt. Die alten Griechen verbanden damit jedoch viel mehr als nur den Appell, sich über persönliche Stärken und Schwächen klar zu werden.

Von Bettina Fröhlich

Forschen und Wissen

Interview

»Wir brauchen bessere Theorien«

Der Heidelberger Psychologe Klaus Fiedler und seine Fachkollegin Susann Fiedler fordern mehr Transparenz und tauglichere Modelle für psychologische Studien.

Infografik

Das psychologische Experiment

Worauf es bei der Planung eines Laborversuchs ankommt.

Von Nele Langosch

Ein signifikanter Irrtum

Der p-Wert ist ein statistisches Maß für die Bedeutsamkeit eines Studien resultats. Dieser Kennwert allein sagt allerdings wenig aus und wird oft falsch verwendet.

Von Regina Nuzzo

Jede Menge Murks

Die Psychologie hat ein Problem: Einige ihrer wichtigsten Resultate lassen sich nur schwer replizieren. Was bedeutet das für die wissenschaftliche Praxis?

Von Ed Yong

Psyche und Gesellschaft

Schattenseiten des Mitgefühls

Wenn unsere Gesellschaft von irgendetwas mehr braucht, dann ist es Empathie – oder etwa nicht? Forscher streiten über Vor- und Nachteile dieser mutmaßlichen Grundtugend.

Von Steve Ayan

Porträt

Das Leiden der anderen

Der Germanist und Kognitionsforscher Fritz Breithaupt sieht im menschlichen Empathievermögen ein zweischneidiges Schwert: Es kann zu moralischem Handeln motivieren, aber auch für grausame Taten instrumentalisiert werden.

Von Patricia Thivissen

Die Wirkung des Nichts

Wer untätig zusieht, während jemand in Not ist, macht sich strafbar. Philosophisch ist das jedoch schwer zu begründen, denn wie kann Nichtstun etwas in der Welt bewirken? Offenbar müssen wir unser spontanes Verständnis von »nichts« und von Kausalität überdenken.

Von David Hommen

Was die Psyche wachsen lässt

Gute Gene, ein stabiles soziales Netz, optimistisches Denken: Das sind nur drei Faktoren, die unsere Psyche widerstandsfähig machen. Und jeder kann etwas für sein eigenes Seelenwohl tun.

Von Jana Strahler

Interview

»Resilienz lässt sich trainieren«

Der Mediziner Klaus Lieb erklärt, warum persönliche Krisen nicht nur zum Leben dazugehören. Wir brauchen sie sogar, um ein stabiles Nervenkostüm zu entwickeln.

Es fühlt sich so wahr an

Wenn selbst der US-Präsident wissenschaftliche Fakten wie den Klimawandel bestreitet – was gilt dann überhaupt noch als »wahr«? Psychologen ergründen die Verzerrungen unseres Denkens und wie man ihnen vorbeugt.

Von Theodor Schaarschmidt

Bücher zum Weiterlesen

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EDITORIAL

Von der Macht des Denkens

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Steve Ayan
Redakteur
ayan@spektrum.de

Die Psychologie ist eine wundersame Wissenschaft. Denn fast alles, was sie untersucht, gibt es nur in unseren Köpfen. Niemand hat je einen Gedanken, ein Gefühl oder eine Absicht gesehen. Wer das Kinn sinnend auf eine Hand stützt, wer mit hochrotem Gesicht am Rednerpult steht oder ein Stück Sahnetorte beäugt, dem schreiben wir unwillkürlich bestimmte mentale Zustände zu. Aber existieren sie wirklich?

Dass Psychologen jenseits des beobacht baren Verhaltens rein geistige Phänomene erkunden, hat eine wichtige Konsequenz: Viele ihrer Forschungsobjekte gibt es wohl allein deshalb, weil wir an sie glauben. Sei es die Idee einer unsterblichen Seele (S. 6) oder eines unser Handeln leitenden Bewusstseins (ab S. 16) oder auch die Überzeugung, das eigene Schicksal kontrollieren zu können, als wichtiger Resilienzfaktor (S. 82) – solche Konzepte werden dadurch real, dass wir sie für real halten. Die Fakten schaffende Macht unseres Denkens ist das übergeordnete Thema dieses Hefts, das die besten Artikel aus »Gehirn&Geist« zu den großen Fragen der Neuro- und Verhaltensforschung versammelt.

Wer derlei Wunder und Rätsel wissenschaftlich ausloten will, muss auch hinterfragen, ob die eigenen Methoden dafür tauglich sind. In dem Ressort »Forschen und Wissen« ab S. 42 stehen deshalb die Logik und die Probleme psychologischer Studien im Fokus. Der Versuch, durch strengere Standards und neue statistische Verfahren die empirische Seelenkunde verlässlicher zu machen, ist aktuell in vollem Gang. »Gehirn&Geist« wird auch zukünftig immer wieder die Hürden und Fortschritte auf diesem Weg beleuchten. Denn was nutzen die schönsten Theorien, wenn sie am Ende womöglich nur auf Einbildung beruhen?

Eine anregende Lektüre wünscht Ihr

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Artikelnachweise: Was von der Seele übrig bleibt »Wir können auch ohne« G&G 1/2016 · Des Rätsels Kern G&G 7/2017 · Denkfallen der Skeptiker G&G 8/2017 · Ich wie Du; »Wir brauchen bessere Theorien«; Schattenseiten des Mitgefühls; Das Leiden der anderen; Es fühlt sich so wahr an G&G 9/2017 · Sorge um das Selbst G&G 4/2018 · Das psychologische Experiment G&G 6/2014 · Ein signifikanter Irrtum G&G 9/2014 · Jede Menge Murks Spektrum der Wissenschaft 2/2013 · Die Wirkung des Nichts G&G 2/2018 · Was die Psyche wachsen lässt; «Resilienz lässt sich trainieren« G&G 11/2017

ICH UND BEWUSSTSEIN

Was von der Seele übrig bleibt

ESSENZIALISMUS Besitzt jeder Mensch einen unvergänglichen Wesenskern? Forscher haben diese Idee längst beerdigt – und ergründen, was den Glauben an eine innere Essenz so reizvoll macht.

VON STEVE AYAN

UNSER AUTOR

Steve Ayan ist Psychologe und Redakteur bei »Gehirn&Geist«. Als er an diesem Artikel arbeitete, kaufte er sich bei seinem Lieblingsbäcker regelmäßig eine »Seele«.

Auf einen Blick:
Wer’s glaubt, wird mutig

1 Der Begriff »Seele« ist vieldeutig. Im Kern meinen wir damit eine innere, immaterielle und unsterbliche Essenz des Menschen.

2 Aus der wissenschaftlichen Psychologie ist dieses Konzept zwar weitgehend verschwunden, aber im Alltagsdenken ist es nach wie vor präsent.

3 An die Existenz einer Seele zu glauben, macht Dinge begreifbar, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen, und schmälert die Angst vor dem Tod.

Eine Seele ist etwa 20 Zentimeter lang, kostet 95 Cent und übersteht selten die Mittagspause. Es handelt sich um eine Art kross gebackenes Baguette mit Salz und Kümmel, das besonders im süddeutschen Raum verbreitet ist. Damit hört die empirisch gesicherte Bedeutung dieses Wortes allerdings auch schon auf.

Seele – das klingt nach Geistern und Wiedergeburt, nach Jenseits oder letztem Seinsgrund. Im Alltag bereitet uns das kaum Kopfzerbrechen: »Er ist eine gute Seele«, sagen wir, um die Güte eines anderen zu loben. »In der Seele zerrissen« ist, wer einen Konflikt mit sich ausficht. Und »ein Herz und eine Seele« sind Leute, die sich blendend verstehen. Kaum einen anderen Begriff verwenden wir so selbstverständlich, ohne doch recht zu wissen, was er bedeutet.

In der Forschung ist so viel Vagheit natürlich verpönt, vor allem wenn sie spirituell konnotiert ist. So verschwand die Seele in den vergangenen 100 Jahren nahezu völlig aus der Psychologie, der Wissenschaft vom Erleben und Verhalten. Nach einer Auswertung des Psychologen Ulrich Weger von der Universität Witten/Herdecke enthielten im Jahr 2014 nur 387 Fachartikel in der Datenbank »ISI Web of Knowledge« das Wort »soul« – »brain« (Gehirn) dagegen 37 422. In psychologischen Journalen war von der Seele im gleichen Jahr nur ganze zweimal die Rede. Die Seelenkunde, wie sie manchmal noch genannt wird, hat sich zu einer »Wissenschaft ohne Seele« entwickelt.

Doch nicht nur in der Alltagssprache, auch in unserem vermeintlich so aufgeklärten Denken hält sie sich hartnäckig. Laut einer repräsentativen Umfrage des Onlinedienstes Statista von 2015 glauben 70 Prozent der Deutschen an die Existenz einer Seele – und damit deutlich mehr, als sich ein Leben nach dem Tod (40 Prozent) oder eine Wiedergeburt (18 Prozent) vorstellen können. Von religiösen Überzeugungen im engeren Sinn scheint der Seelenglaube relativ unabhängig zu sein. Ist er nur ein Überbleibsel alter Traditionen, das früher oder später verschwinden wird? Oder entspringt er dem tiefen Bedürfnis des Menschen nach einer dauerhaften, identitätsstiftenden Instanz? Und welchen Unterschied macht es, ob wir an die Seele glauben oder nicht?

Dass wir anderen Wesen ganz intuitiv eine Art geistigen Wesenskern zuschreiben, legt eine originelle Studie von 2012 nahe. Psychologen um Bruce Hood von der University of Bristol machten fünf- bis sechsjährige Kinder zunächst mit einem Hamster vertraut. Die Kleinen spielten mit dem niedlichen Nager und erfuhren erstaunliche Dinge über ihn, etwa dass er ein blaues Herz habe und ihm ein Zahn abgebrochen sei. Im Gegenzug sollten ihm die Kinder ihren Namen verraten und was sie vor dem Spiel gemalt hatten. Nun folgte der witzige Teil des Experiments: Die Forscher taten einfach so, als könnten sie den Hamster duplizieren! Die Frage, ob die Kopie ebenfalls ein blaues Herz und einen lädierten Zahn habe, bejahten gut acht von zehn Kindern. Dass Hamster Nr. 2 zudem ihren Namen kannte und über das Bild Bescheid wusste, glaubten hingegen nur 52 beziehungsweise 39 Prozent. Ganz offenbar lässt sich ein Körper in der kindlichen Vorstellung also leichter vervielfältigen als der Geist.

Hat die tote Maus noch Schmerzen?

Mit einer ähnlichen Methode hatten Jesse Bering und David Björklund bereits 2004 die Seelenvorstellungen von Kindern verschiedenen Alters auf die Probe gestellt. Sie wählten dazu ein Puppentheater, in dem eine Maus die Hauptrolle spielte. Diese war von zu Hause ausgebüxt und hatte sich verlaufen, ehe sie – o Graus! – von einem Krokodil gefressen wurde. Und schon ging die Fragerei der Forscher los … Empfand die tote Maus noch Schmerzen? Hatte sie Durst oder Hunger? Sah sie etwas? Funktionierte ihr Gehirn noch? Musste sie je wieder auf die Toilette? Hatte sie Angst vor dem Krokodil? Wusste sie, dass sie tot war? Hatte sie Heimweh?

Das Ergebnis: Vier- bis Sechsjährige gestanden der Maus ein erstaunliches Maß Unsterblichkeit zu. Zwar diagnostizierten 88 Prozent der Kleinen den Hirntod, doch glaubten gut drei Viertel, dass die tote Maus nach Hause wollte, und sogar 96 Prozent, dass sie ihre Mama immer noch liebte. Unter den ebenfalls befragten Grundschülern meinten das gut die Hälfte (Heimweh) sowie 80 Prozent (Mama). Noch erstaunlicher fielen die Aussagen der Kontrollgruppe aus. Denn auch viele erwachsene Teilnehmer waren der Meinung, der Ausreißer, obwohl biologisch mausetot, wisse über seinen eigenen Tod Bescheid (40 Prozent) und halte Mama für die Beste (64 Prozent).

»Die Seele ist unsterblich und wechselt den Ort, indem sie von einer Art Lebewesen in eine andere übergeht«

Pythagoras, Philosoph und Mystiker (um 570–510 v. Chr.)

Die Annahme, mentale Zustände könnten über den Tod hinaus Bestand haben, bildet laut der Philosophin Manuela di Franco das Zentrum des Seelenbegriffs (siehe Literaturtipp). Demnach verbinden wir damit einen inneren, immateriellen Wesenskern, der dem Menschen, manchmal auch Tieren oder sogar Objekten zugeschrieben wird. Dieser Kern sei unvergänglich, könne aber seine Gestalt oder Hülle wechseln und werde in Mythen und Erzählungen oft als flüchtiger Atem oder »Lebensgeist« dargestellt.

Merkwürdigerweise, so di Franco, attestieren wir der Seele meist räumliche Qualitäten – etwa Tiefe, Zerrissenheit oder örtliche Lokalisierbarkeit. Angesichts ihrer unkörperlichen Natur sei das paradox. Wie ist der Widerspruch zu erklären? Di Franco glaubt: Wir greifen auf Metaphern zurück, um über mentale Zustände zu sprechen, die wir anders als im übertragenen Sinn nicht erfassen können. Der Preis, den wir dafür zahlen, sei ein Kategorienfehler (gefettete Begriffe siehe »Kurz erklärt«), eben die Verdinglichung dessen, was kein Ding ist. »Wir reden zwar Unsinn«, erklärt die Philosophin, »aber wir meinen etwas damit.«

Der Denkfehler des Philosophen

Mit diesem Schnitzer befinden wir uns allerdings in guter Gesellschaft. Schon der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) fiel ihm zum Opfer (siehe »Kurze Geschichte der Seele«). Auch er wies der Seele dingliche Eigenschaften zu, indem er ihren Sitz in der Zirbeldrüse verortete, wo sie sich mit dem Körper verbinde. Descartes’ Idee eines »Seelen-Cockpits« war seine Antwort auf ein bis heute ungelöstes Rätsel: das Körper-Geist-Problem. Wie können sich Materie und Geist, physische und psychische Prozesse überhaupt gegenseitig beeinflussen?

Denn das ist ja ganz offensichtlich der Fall: Eine Hirnverletzung kann Erinnerungen auslöschen oder die Persönlichkeit verändern; umgekehrt jagt uns Angst eine Gänsehaut ein, und Verliebten pocht heftig das Herz. Im Lauf der Zeit sammelten Forscher immer mehr Anhaltspunkte dafür, dass Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Erinnern aus körperlichen Prozessen hervorgehen. Demnach ist Geist das, was das Gehirn macht (oder wie es uns subjektiv erscheint).

Intuitiv sind wir laut vielen Psychologen gleichwohl Dualisten, denn wir leben in einer mentalen Sphäre, die sich von der physischen grundlegend unterscheidet. Von klein auf lernen wir, dass in der Vorstellung vieles möglich ist, was in der realen Welt keinen Platz hat – von fliegenden Teppichen bis zu Feen, die auf Einhörnern reiten. Mehr noch: Was wir tun und lassen, müsse in unserem Denken und nicht in körperlichen Vorgängen gründen, sonst wären wir nichts weiter als Automaten! Folglich sagen wir etwa, wir besitzen ein Gehirn, das wir für dies und jenes benutzen (oder auch nicht).

Der Haken: Wer sollte sich meines Gehirns bedienen, wenn nicht mein Gehirn selbst? Es gibt keinen »unbewegten Beweger«, keinen in meinen Hirnwindungen hausenden Homunkulus, der mir irgendwelche Entschlüsse und Handlungsbefehle einflößt. Diese Idee ist unsinnig – es sei denn, man bringt die Seele ins Spiel.

Die Psychologen Jesse Preston, Kurt Gray und Daniel Wegner titulierten in einem Fachartikel den freien Willen daher als »the godfather of soul«. Er stehe dem Seelenglauben Pate, denn wer seine Willensfreiheit ernst nehme, komme um diese fiktive Instanz kaum herum. 2013 zeigte Preston dann zusammen mit anderen Kollegen, dass wissenschaftliche Erklärungen eine harte Konkurrenz für die Seele darstellen.

Die Forscher legten Studierenden verschiedene Beschreibungen von Unikursen vor, die sich nur im Titel unterschieden. So wurde ein Psychologieseminar mal mit »Mechanismen der Liebe«, mal mit »Mysterien der Liebe« angekündigt. Anschließend sollten sich die Probanden entscheiden, ob sie für eine riskante Marsmission eher eine Transportmethode bevorzugten, die ihren Körper sicher »hinüberbeamte«, aber die Seele beschädigen konnte, oder umgekehrt. Okay, ein etwas weit hergeholtes Beispiel. Doch wie sich zeigte, führte schon eine wissenschaftlichere Kursbezeichnung dazu, dass den Befragten eine unversehrte Seele nicht mehr so wichtig erschien – wer weiß schon, ob sie überhaupt existiert? Ein weiteres Experiment ergab zudem, dass es den Glauben an die Seele stärkt, wenn man auf Erklärungslücken der Hirnforschung hinweist.

Refugium für das, was uns ausmacht

Solche Beobachtungen stützen die Vermutung, unser Seelenglaube resultiere letztlich aus der Art und Weise, wie wir über uns (und andere) denken. Wenn wir von der Seele sprechen, meinen wir nicht umsonst oft bestimmte Werte, die uns wichtig sind: »Er hat seine Seele verkauft« bedeutet, dass jemand des Geldes oder anderer Vorteile wegen seine wahre Überzeugung verriet. Die Seele erscheint uns als eine Art Refugium für das, was uns im Innersten ausmache – und was nicht durch Naturgesetze determiniert sei.

Es gibt jedoch noch mindestens zwei weitere Theorien. Der einen zufolge brauchen wir die Seele als Kompensation dafür, dass uns das eigene Nichtsein unbegreiflich ist. Der Psychologe Jesse Bering von der University of Otago (Neuseeland) prägte hierfür den etwas sperrigen Namen »simulation constraints theory«, zu Deutsch etwa »Theorie des beschränkten Nachvollziehens«. Die Idee dahinter ist an sich einfach. Man muss sich nur einmal Folgendes vorzustellen versuchen: Wie wird es sein, wenn ich tot bin? Egal, wie sehr Sie auch Ihre Fantasie bemühen, ob Sie an die Himmelspforte klopfen, durch tiefschwarze Nacht schweben oder in ein gleißendes Licht eintauchen, Sie sehen sich dabei selbst stets von außen. Der Grund: Wie es ist, tot zu sein, übersteigt schlichtweg unsere Vorstellungskraft.

Diesem Erklärungsansatz zufolge ist der Seelenglaube also das Resultat eines grundlegenden Mankos. Unser Denken kapituliert vor der Möglichkeit der eigenen Nichtexistenz. (Das meinte übrigens auch René Descartes, als er betonte, man könne an allem zweifeln, nur nicht an diesem Zweifel selbst.)

»Ich habe so viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden«

Rudolf Virchow, Mediziner (1821–1902)

Ein Kniff fürs »Terror-Management«?

Gefühlsmäßig macht es für uns auch einen Unterschied, ob wir unser Nichtsein in die Vergangenheit oder in die Zukunft projizieren. Während wir es schulterzuckend hinnehmen, dass wir vor 100 Jahren noch nicht existierten, können wir uns viel schlechter damit anfreunden, dass wir in 100 Jahren nicht mehr sein werden. Wollen wir das vielleicht einfach nicht wahrhaben?

Dies führt zum dritten Erklärungsversuch in Sachen Seele: Sie sei in erster Linie nur ein Kniff, mit dem wir die Angst vor dem Tod vertreiben. Für diese »Terror-Management-Theorie« gibt es inzwischen eine Fülle von empirischen Belegen. In solchen Studien konfrontiert man Menschen üblicherweise mit ihrer eigenen Sterblichkeit – was dramatischer klingt, als es ist: Psychologen tun dies etwa, indem sie Probanden Besinnliches zu lesen geben oder Wörter wie »Alter« oder »Jenseits« in Texte einstreuen. Im Anschluss betonen die Testpersonen nicht nur gemeinschaftliche Werte, sie bejahen im Schnitt auch eher die Frage, ob es eine unsterbliche Seele gibt.

Der Glaube daran dürfte noch lange erhalten bleiben, denn er erfüllt gleich mehrere Funktionen – als hypothetische Quelle des Ichs, als Ersatz für das, was wir uns nicht vorstellen können, und als Beruhigungspille. Mit der Seele ist es wohl ähnlich wie mit dem freien Willen: Ob es sie gibt, ist offen; doch beide tun uns einfach gut.

Und die Wissenschaft? Für sie spielt die Seele nur noch insofern eine Rolle, als etwa Psychologen den Glauben daran zu ihrem Forschungsgegenstand machen. Wissenschaft versucht, auf der Basis möglichst weniger Prämissen möglichst viel zu erklären. Gegen diese Forderung – nach dem Scholastiker Wilhelm von Ockham (um 1288–1347) auch »Ockhams Rasiermesser« genannt – verstößt der Animismus. Phänomene wie Déjà-vus oder so genannte Nahtoderfahrungen lassen sich ganz ohne Seele und Jenseits erklären. Und so schreitet die Naturalisierung des Geistes, seine Erklärung auf Basis naturwissenschaftlicher Gesetze, voran.

Zu Recht, meint die Philosophin Katja Crone (siehe Interview). Sie sieht keinen Grund, warum wir uns von der klassischen Konzeption der unsterblichen Seele nicht verabschieden sollten. Auch intuitive Überzeugungen seien flexibel und veränderten sich mit der Zeit. Viele Menschen verstünden »Seele« schon heute nur noch als Umschreibung für die Gesamtheit unserer geistigen Fähigkeiten. Am Ende entpuppt sich das eingangs beschriebene Manko des Seelenbegriffs vielleicht als sein Erfolgsrezept: Er ist so vieldeutig, dass ihn jeder auf seine Art mit Sinn füllen kann. ★

Kurze Geschichte der Seele

Die Idee einer unvergänglichen Essenz des Menschen ist viel älter als die abendländische Philosophie. Bereits in den Höhlenmalereien von Lascaux im Südwesten Frankreichs, die vor mindestens 15 000 Jahren entstanden, ist der Geist der Toten als Vogel dargestellt. Der Naturphilosoph und Zahlenmystiker Pythagoras von Samos (um 570–510 v. Chr.) formulierte als einer der ersten Denker des Abendlands eine Theorie der Seelenwanderung und Wiedergeburt, die eine lange buddhistische und hinduistische Tradition hatte. Die Denker der Antike sprachen von der »Psyche«, abgeleitet von dem altgriechischen Wort »psyché« für Atem. Das deutsche Wort Seele ist vermutlich urgermanischer Herkunft und könnte mit »saiwaz« für See verwandt sein.

In seinem Dialog »Phaidon« lässt Platon (um 428–348 v. Chr.) seinen Lehrer Sokrates (469–399 v. Chr.) für die Unsterblichkeit und Unkörperlichkeit der Seele argumentieren, ehe dieser den Schierlingsbecher leert. Den platonischen Idealismus kennzeichnet die Vorstellung, die Seele umfasse auch das Erkenntnisvermögen: Nur dank ihrer habe der Mensch Zugang zu der Sphäre »reiner Ideen«.

Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) hingegen betrachtete die Psyche als das »belebende Prinzip« und unterschied sie von intellektuellen Fähigkeiten, dem Geist (nous). Der Sitz der Seele wurde meist im Herzen angesiedelt, nur der Arzt Alkmaion (spätes 6. / frühes 5. Jahrhundert v. Chr.) aus dem süditalienischen Kroton erkannte bereits im Gehirn das »Seelenorgan« des Menschen.

In der Neuzeit war besonders René Descartes (1596–1650) mit der Lehre von den beiden Substanzen »res extensa« (das Ausgedehnte) und »res cogitans« (das Denkende) einflussreich, auch Substanzdualismus genannt. Eine heute weit verbreitete Sichtweise ist der so genannte Eigenschaftsdualismus, wonach das Geistige ein Produkt oder eine Begleiterscheinung neuronaler Prozesse ist. Eine solche Position vertritt etwa der australische Philosoph David Chalmers (* 1966).

Der wichtigste Gegenentwurf zum Dualismus ist der Monismus, der in seiner materialistischen Spielart besagt: Alles ist Körper, Geist ist lediglich eine andere (subjektive) Art, ihn zu beschreiben. Ein Exponent dieser Haltung ist der Bewusstseinsphilosoph Daniel Dennett (* 1942).

Bei aller Verschiedenheit der Seelenvorstellungen quer durch die Epochen und Kulturen prägte die Idee einer unsterblichen Essenz jahrhundertelang das Selbstverständnis der Menschen. Erst in neuerer Zeit rückten mehr und mehr Denker davon ab.

KURZ ERKLÄRT

KATEGORIENFEHLER

Verwechslung logischer Bezugssysteme, etwa wenn man abstrakten Konzepten physische Eigenschaften wie Gewicht oder Ausdehnung zuschreibt

KÖRPER-GEIST-PROBLEM

Grundfrage der Neurophilosophie: Wie hängen körperliche und geistige Phänomene miteinander zusammen, und wie beeinflussen sie sich gegenseitig?

DUALISMUS

Unterscheidung von physischen und geistigen Seinsbereichen oder Eigenschaften von Dingen

HOMUNKULUS

(lateinisch für »Menschlein«) irrige Annahme einer vollkommen freien, unbedingten Instanz, die unsere

Bewusstseinsakte und Handlungen steuere

ANIMISMUS

Glaube an die Beseeltheit von Menschen, Tieren oder sogar des Universums

NATURALISIERUNG

Zurückführung geistiger Phänomene auf körperliche, zum Beispiel neurophysiologische Vorgänge

LITERATURTIPP

Di Franco, M.: Die Seele. Begriffe, Bilder und Mythen. Stuttgart, Reclam 2009
Die Philosophin Manuela di Franco erläutert, was wir meinen, wenn wir von der Seele reden.

QUELLEN

Bering, J. M.: The Folk Psychology of Souls. In: Behavioral and Brain Sciences 29, S. 453–498, 2006

Heflick, N. et al.: Death Awareness and Body-Self Dualism: A Why and How of Afterlife Believe.

In: European Journal of Social Psychology 45, S. 267–275, 2015

Hood, B. et al.: Do Children Think that Duplicating the Body also Duplicates the Mind? In: Cognition 125, S. 466–474, 2012

Preston, J. L. et al.: Neuroscience and the Soul: Competing Explanations for the Human Experience.

In: Cognition 127, S. 31–37, 2013

Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1371767

ICH UND BEWUSSTSEIN

»Wir können auch ohne«

SEELENGLAUBE Die Philosophin Katja Crone erklärt, warum die Seele heute nicht mehr das ist, wofür Menschen sie einst hielten.

Katja Crone wurde 1970 in Lüdenscheid geboren. Sie studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Montpellier und Hamburg und habilitierte sich 2015 an der Humboldt-Universität zu Berlin über das Problem der Identität von Personen.
2014 wurde sie auf den Lehrstuhl für Philosophie des Geistes an die TU Dortmund berufen.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ich-Bewusstsein, phänomenales Erleben sowie die personale Identität.

Frau Professor Crone, spielt die Seele im zeitgenössischen Denken noch eine Rolle?

Nein, dieser Begriff ist aus der aktuellen Philosophie so gut wie verschwunden. Der Seelenbegriff hat zwar eine sehr lange Geschichte, in deren Verlauf er in vielen Varianten auftauchte, aber inzwischen ist er aus der Mode gekommen.

Gibt es überhaupt keinen guten Grund dafür, eine unsterbliche Essenz des Menschen anzunehmen?

Vereinzelt findet man durchaus noch Positionen, die dem traditionellen Seelenbegriff verwandt sind. Allen voran der Substanzdualismus, für den etwa meine Kollegen Martine Nida-Rümelin oder Uwe Meixner argumentieren. Dass es neben der körperlichen Welt auch eine geistige gibt, einen eigenen immateriellen Seinsbereich – diese Ansicht findet man heute aber nur selten, und wenn, taucht die Seele darin kaum auf, weil dieser Begriff von so vielen Glaubenslehren überfrachtet ist.

Im Alltagsdenken ist er jedoch nach wie vor sehr präsent. Warum können wir uns von der Idee eines unvergänglichen Wesenskerns des Menschen so schwer verabschieden?

Natürlich erscheint uns die Trennung von Körper und Geist zunächst einmal plausibel. Wenn ich nach den Ursprüngen meiner geistigen Zustände forsche, haben die für mich anscheinend gar nichts Körperliches an sich. So fühlt es sich eben subjektiv an. Ich glaube jedoch, die Erkenntnisse der kognitiven Neurowissenschaften und philosophische Reflexionen führen hier allmählich zu einem Umdenken.

Inwiefern?