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„Tatort Schreibtisch: Ausgezeichnet!“ präsentiert eine Reihe von Novellen oder Kurzgeschichten, die in der Vergangenheit mit einem Literatur- oder Krimipreis ausgezeichnet oder für einen Preis nominiert wurden. Gezeigt werden soll, wie breit die stilistische Vielfalt herausragender Texte ist und welche unterschiedlichen Ansätze möglich sind, preisverdächtige Geschichten zu schreiben. Das ist zum einen spannende und anspruchsvolle Unterhaltung, zum anderen ein praktischer Exkurs über das Schreiben.

 

Die Kurzgeschichte „Zwang heilt die Natur“ wurde im Jahr 2014 für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Kurzkrimi nominiert.

 

 

 

 

 

Raoul Biltgen

 

 

 

 

Zwang heilt die Natur

 

 

 

 

 

 

 

 

KICK Verlag

 

Erste noch müde Sonnenstrahlen fallen durch die schwarzen Äste der frühlingskahlen Bäume und lassen die zwirbelnden Wellen des Flusses glitzern wie zerspringende Diamanten, ein Entenpärchen, sie unscheinbar braun, er mit grün schimmerndem Hals, die Schnäbel ins Gefieder gesteckt, döst im geschützten Halbrund zwischen den wie ein zerschlagener Unterkiefer im Wasser liegenden Betonblöcken vor sich hin. Die Enten lassen sich nicht stören durch das wilde Frühstücksgezwitscher der Vögel, genauso wenig wie durch den nach und nach anschwellenden Lärm der Autos und Laster auf der Autobahn, hundert, vielleicht zweihundert Meter weit weg, im Rücken des Mannes, der, die schwarze Lederjacke fest um den Körper, die Arme um die Jacke geschlungen auf der morgenfeuchten Erde am Rande des kleinen Beckens am reißenden Fluß sitzt und scheinbar den Enten zuschaut. Man fragt sich, warum er nicht auf der Bank sitzt. Man fragt sich, wie lange der Mann schon dort sitzt. Man fragt sich, was mit dem Mann ist, da er vollkommen reglos da sitzt. Und wenn ich sage vollkommen, dann meine ich vollkommen, denn nicht einmal jenes unwillkürliche Auf und Ab der Schultern, das beim Atmen entsteht, ist zu sehen.

Der Mann ist tot.

Und der Mann bin ich.