Arturo Pérez-Reverte

Der Tod, den man stirbt

Roman

Aus dem Spanischen von Petra Zickmann

Insel Verlag

Für Jorge Fernández Díaz,
Messerschmied in Buenos Aires.

Für die Bruderschaft. Für die Ehre.

Wenn du in das Herz einer Frau vordringst,

begibst du dich auf eine gefährliche Reise.

Hans Hellmut Kirst, Die letzte Karte spielt der Tod

»Tragen Sie noch weitere Waffen bei sich?«

»Meine Hände. Doch dagegen können die Zollbeamten nichts einwenden.«

W. Somerset Maugham, Ein Abstecher nach Paris

1. Norddeutscher Lloyd Bremen

Heute Nacht will ich nicht sterben, dachte Lorenzo Falcó.

Nicht auf diese Art.

Doch jetzt war es fast so weit. Die Schritte in seinem Rücken kamen näher und wurden immer schneller. Sie hatten es zweifellos eilig. Er hatte den Schrei seines Informanten gehört, als dieser hinter ihm in der Dunkelheit von der Aussichtsterrasse Santa Luzia gestürzt war, und dann das Aufschlagen des Körpers fünfzehn oder zwanzig Meter tiefer in einer dunklen Gasse des Lissaboner Stadtteils Alfama. Und nun waren sie hinter ihm her, um ihre Arbeit vollständig zu erledigen. Die Sache rundzumachen.

Auf der abschüssigen Straße kam er rasch voran, das galt aber auch für seine Verfolger. Es waren zwei Männer, so viel hatte er erkennen können, als ihm sein V-Mann — dessen Gesicht für ihn kaum mehr gewesen war als ein Schnurrbart unter einer Hutkrempe im Dämmerlicht einer fernen Laterne — wie verabredet den Umschlag zusteckte, unmittelbar bevor er die beiden Fremden bemerkte und einen Warnruf ausstieß. Sie hatten sich schleunigst getrennt, der V-Mann war am Geländer der Aussichtsplattform entlanggelaufen — weshalb sie ihn zuerst erwischt hatten —, und Falcó die Straße hinuntergerannt. Am Fuß des höher gelegenen Stadtteils glommen verstreut die Lichter der Stadt, und das breite schwarze Band des Tejo verlor sich in der Nacht, weit weg, unter einem mondlosen, sternenübersäten Himmel.

Es gab einen Fluchtweg auf der linken Seite, verborgen im Schatten. Er erinnerte sich an die Stelle, weil er sich am Morgen bei Tageslicht in weiser Voraussicht einen gründlichen Überblick verschafft hatte. Dies war ein uraltes, sehr praktisches Berufsprinzip: Ehe man sich an einem Ort in Gefahr begibt, schaue man nach, wie man ihn, notfalls in Eile, wieder verlassen kann. Falcó entsann sich des auf eine Mauerkachel gemalten Straßennamens: Calçadinha da Figueira. Es war ein schmales Gässchen, sehr steil, das man über eine zweiläufige Steintreppe mit Eisengeländer erreichte. Und so bog er scharf links ab und hastete, eine Hand am Geländer, um im Dunkeln nicht zu stolpern, die Treppe hinunter. Am Ende, wo die Gasse im Neunziggradwinkel nach rechts abknickte, befand sich ein Torbogen, der so eng war, dass nur eine Person hindurchpasste.

Die Schritte näherten sich. Schon waren sie auf der Treppe zu hören. Heute Nacht werde ich nicht sterben, wiederholte Falcó bei sich. Ich habe Besseres vor: Frauen, Zigaretten, Restaurants. Solche Dinge. Wenn also unbedingt jemand daran glauben muss, mögen es die anderen sein. Er nahm den Hut ab, schob die Finger zwischen den Filz und das Schweißband und holte das Papierchen mit der Rasierklinge hervor, die immer dort versteckt war. Auf dem letzten Wegstück bis zu dem Bogendurchgang wickelte er sie aus und zog das Einstecktuch aus der Brusttasche seines Sakkos, um damit seine Hand zu schützen, wenn er die Rasierklinge zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Er erreichte den Bogen, wandte sich nach rechts und blieb dann sofort stehen. An die Wand gepresst, konnte er die nahenden Schritte trotz seines hämmernden Pulsschlags deutlich hören.

Als der erste seiner Verfolger unter dem Bogen erschien, sprang Falcó ihn an und schnitt ihm mit einer flinken Bewegung von rechts nach links die Kehle durch. Ein kurzes helles Aufblitzen im Gesicht des Mannes — seine Zähne im entsetzt aufgerissenen Mund —, und dann ging sein überraschter Aufschrei in ein ersticktes Röcheln über, als entwiche die Luft aus seinen Lungen mit dem Blutstrom aus seiner klaffenden Gurgel. Er sackte augenblicklich zusammen wie eine kraftlose Gliederpuppe. Ein quer unter dem Bogen liegendes Bündel. Die Gestalt, die hinterherkam, hielt in einiger Entfernung abrupt inne.

»Komm schon, du Mistkerl«, tönte Falcó. »Noch ein bisschen näher … Na, los!«

Drei Sekunden Reglosigkeit. Vielleicht fünf. Falcó und der andere still in der Gasse, das Bündel auf dem Boden mit seinem heiser blubbernden Wimmern. Nach einer Weile gab der zweite Verfolger auf und trat vorsichtig den Rückzug an.

»Ach Mann«, sagte Falcó. »Lass mich jetzt nicht hängen, ich bin gerade so schön in Schwung.«

Die Schritte entfernten sich hastiger, eilten durch die Gasse, die Treppe hinauf und verklangen. Falcó atmete tief durch und verhielt sich weiter still, bis sein Puls aufhörte, ihm in den Ohren zu dröhnen. Nachdem sich auch das leichte Zittern seiner Finger gelegt hatte, wischte er sich die klebrige Flüssigkeit von der Hand und warf Klinge und Einstecktuch weg.

Er kauerte sich neben den Liegenden, der endlich ruhig war, und durchsuchte ihn: ein Messer in einer am Gürtel befestigten Scheide, Zigaretten, Streichhölzer, ein paar Münzen. In der Innentasche der Jacke steckte eine Geldbörse, die Falcó an sich nahm. Dann richtete er sich auf und blickte sich um. Die Umgebung war wie ausgestorben, und in den benachbarten Häusern herrschte fast überall Dunkelheit. In einigen schimmerte etwas Licht durch die Fensterritzen, und von irgendwoher erklang Radiomusik und eine Frauenstimme, die einen Fado sang. In der Ferne bellte ein Hund. Am schwarzen Himmel standen noch immer so viele Sterne, dass Lissabon wie von einem Schwarm unbewegter Irrlichter bedeckt schien.

Einen Moment lang haderte er, ob er am Fuß der Aussichtsplattform nach seinem Verbindungsmann suchen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Neugier ist der Katze Tod, warnte ein altes Sprichwort. Ob er nach diesem Sturz aus fünfzehn oder zwanzig Metern Höhe noch lebte oder nicht — mit großer Wahrscheinlichkeit war er tot —, war nicht mehr Falcós Angelegenheit. Er wusste nichts weiter, als dass er Portugiese war, bezahlt oder aus Überzeugung für die nationalistische Seite arbeitete und ihm Dokumente übergeben hatte, die er an Francos Hauptquartier in Salamanca weiterleiten sollte. Es war besser, sich das Leben nicht unnötig schwer zu machen. Ein zufälliger Passant, ein Anwohner oder Polizist konnte dort vorbeikommen; oder womöglich überlegte es sich der zweite Verfolger anders und kehrte zurück, um seinen Gefährten zu rächen. In diesen Dingen hatte man nie wirklich Gewissheit. Lorenzo Falcós Gewerbe beruhte auf Unvorhersehbarkeit; ein Schachspiel voller Risiken und Eventualitäten. Andererseits befand sich der Umschlag, der Grund für die nächtliche Zusammenkunft, bereits in seiner Tasche. Nichts sonst interessierte ihn an dem Mann, der für ihn nur ein Schnurrbart unter einem Hut gewesen war, ein anonymer Söldner in einem schmutzigen Krieg, der sowohl auf Spaniens Schlachtfeldern als auch in der Etappe und sogar im Ausland an finsteren, schäbigen Orten wie diesem ausgetragen wurde. Dreckige Aktionen, wie sie einem dreckigen Gewerbe eigen waren. Gesichtslose Spione wie der republikanische Agent, dem er eben die Kehle aufgeschlitzt hatte, oder der Kerl, der sich, aus Angst, dasselbe Schicksal zu erleiden wie sein Kamerad, vorsichtshalber aus dem Staub gemacht hatte. Unbedeutende Bauernopfer in einem Spiel, bei dem andere die Figuren auf dem Brett bewegten.

Auf dem Weg zur Rua de São Pedro blickte er sich immer wieder sichernd um. In seiner rechten Schläfe pochte der Schmerz, wahrscheinlich eine Folge der Anspannung, und instinktiv tastete er nach dem Röhrchen Cafiaspirinas in der Sakkotasche. Dies war sein Schwachpunkt, die Migräneanfälle, die ihn immer wieder außer Gefecht setzten, lähmten, nach Luft schnappen ließen wie einen Fisch auf dem Trockenen. Er brauchte einen Schluck Wasser, um eine zu nehmen, aber das ging jetzt nicht. Das Wichtigste war, dort wegzukommen. Und zwar schnell.

Er wählte breite Straßen, um einem eventuellen Hinterhalt zu entgehen. Als er Alfama schließlich hinter sich gelassen hatte, hielt er auf der Rua dos Bacalhœiros inne, zog im feuchten Dunst, der aus dem nahen Fluss heraufstieg, den Umschlag aus der Tasche und riss ihn auf, um im fahlen Licht einer Straßenlaterne nachzusehen, was er enthielt. Überrascht stellte er fest, dass es sich um einen Prospekt der Schifffahrtsgesellschaft Norddeutscher Lloyd Bremen handelte. Das war alles. Ein einseitig bedrucktes Faltblatt mit dem Bild eines Überseedampfers und darunter einer Liste der Schiffe und Routen nach Amerika und in die östlichen Mittelmeerländer. Er schob das Blatt wieder in das Kuvert und durchsuchte die Brieftasche des Toten. Darin fand er eine beträchtliche Summe in portugiesischen Escudos, die er bedenkenlos einsteckte, einen Fahrschein für die Lissaboner Straßenbahn, die Fotografie einer jungen Frau und zwei Ausweise mit demselben Gesicht — dunkel, hager, spärliches gelocktes Haar —, aber unterschiedlichen Namen. Einen, der ohne Zweifel gefälscht war, auf den Namen João Nunes, kaufmännischer Angestellter. Der andere war spanisch, trug das Emblem des Militärischen Nachrichtendienstes und den Stempel der Republik und lautete auf Juan Ortiz Hidalgo. Letzteren nahm er an sich. Den Rest warf er mitsamt der Brieftasche in eine Mülltonne und entfernte sich rasch, wenn auch nicht hastig genug, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Als er die Tür zum Martinho da Arcada aufstieß — einem kleinen Café-Restaurant mit schlichten weißen Wänden unter der Kolonnade der Praça do Comércio —, bemerkte Falcó Blutflecken auf seiner rechten Manschette. Während er den Kellner begrüßte, sah er Brita Moura mit dem Rücken zur Tür am letzten Tisch neben dem Fenster sitzen. Er ging schnurstracks zur Toilette, riegelte sich ein, schluckte zwei Cafiaspirinas, die er mit etwas Wasser aus der hohlen Hand hinunterspülte, schlüpfte dann aus dem Jackett, nahm den goldenen Knopf aus der gestärkten Manschette und wusch diese, bis das Blut fast nicht mehr zu sehen war. Mit dem Handtuch trocknete er den Ärmel und zog das Sakko wieder an. Die Patek Philippe an seinem linken Handgelenk zeigte elf Minuten Verspätung. Das war noch halbwegs im Rahmen, und die wartende Frau würde nicht allzu böse sein. Oder nicht allzu lange.

Er klopfte gegen die Tasche, um sich zu vergewissern, dass der Umschlag noch da war. Dann betrachtete er sich forschend im Spiegel, ob er noch weitere Spuren der vorangegangenen Auseinandersetzung aufwies, sah aber nur das Bild eines attraktiven Mannes von siebenunddreißig Jahren in einem tadellos geschnittenen dunklen Anzug, das schwarze Haar nach hinten gekämmt und glänzend vor Brillantine. Er strich es mit der flachen Hand noch ein wenig glatter und richtete seinen Krawattenknoten. Mit jeder dieser Gesten wurde sein durch jahrelange Anspannung verhärtetes Gesicht weicher und nahm den freundlichen, selbstironischen Ausdruck eines gutaussehenden Mannes an, der zu spät zum Rendezvous kommt, sich mit einem Lächeln wappnet und sicher ist, dass ihm verziehen wird.

»Verflucht«, schimpfte die Frau. »Seit einer halben Stunde sitze ich hier und warte auf dich wie eine Idiotin.«

»Tut mir leid«, erwiderte Falcó. »Ich wurde von einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit aufgehalten.«

»Geschäfte um diese Zeit. Und dann bestellst du mich auch noch in so ein Lokal.«

Mit einem ruhigen Lächeln blickte Falcó um sich.

»Was ist daran auszusetzen?«

»Es ist ein einfaches Gasthaus. Wir hätten in ein besseres Restaurant gehen können, mit Musik.«

»Mir gefällt es hier. Die Kellner sind nett.«

»Was für ein Unsinn.«

Brita Moura war es nicht gewohnt, dass Männer sie warten ließen. Sie war brünett, hatte einen großen, sinnlichen Mund und handfeste Kurven, mit denen sie jeden Abend das Theater Edén füllte — Solteira e sem compromisso hieß die Musikrevue —, dazu falsche Wimpern und tiefrote Lippen à la Crawford. Die halblange schwarze Mähne hatte sie, wie Falcó, mit Festiger nach hinten frisiert, und die freie Stirn verlieh ihr ein leicht männliches Aussehen. Ihr Gesicht war bekannt durch Werbeplakate und Titelfotos der portugiesischen Illustrierten. Vor siebenundzwanzig Jahren in einem kleinen Dorf in Alentejo geboren, war Brita eine dieser Frauen, an die die Jungen ihr Herz und die Alten ihr Geld verloren. Ihr Weg zum Bühnenstar war hart gewesen, und sie hatte keine Hemmungen, die wenigen Glücklichen, die es in ihre Nähe schafften, dafür zahlen zu lassen. Falcó hingegen war eine ihrer Schwächen. Sie hatten sich fünf Wochen zuvor beim Roulette im Kasino von Estoril kennengelernt und trafen sich hin und wieder.

»Worauf hast du Lust?« Unbeeindruckt schlug Falcó die Speisekarte auf.

Sie rümpfte unwillig die Nase. Noch immer verärgert.

»Mir ist der Appetit vergangen.«

»Ich werde den Kabeljau vom Grill nehmen. Möchtest du Wein?«

»Du bist rücksichtslos und dreist.«

»Nein. Ich habe bloß Hunger.« Der Kellner wartete beflissen. »Für dich auch Fisch?«

Es war gelogen. Er hatte überhaupt keine Lust zum Essen, aber solche prosaischen sozialen Rituale halfen ihm, innerlich zur Ruhe zu kommen. Indem er Zuflucht suchte hinter einem banalen Wortwechsel mit einer schönen Frau. Auf diese Weise ordnete er seine Einfälle und Vorhaben. Und die Erinnerung an jüngste Geschehnisse.

»Nur eine leichte Suppe«, sagte Brita. »Ich bin zu dick.«

»Das ist absurd, Liebste. Du bist perfekt.«

»Findest du?«

»Ja. Einfach prächtig.«

Ihre Miene wurde freundlicher. Sie berührte ihre Hüfte.

»Die von der Zeitschrift Ilustração behaupten, ich hätte zugenommen.«

Falcó lächelte. Er hatte sein Zigarettenetui aus Schildpatt hervorgeholt und bot ihr eine Player's an.

»Die von der Zeitschrift Ilustração sind Deppen.«

Sie beugte sich über den Tisch und näherte ihre Zigarette der Flamme seines echtsilbernen Parker Beacon.

»Deine Manschette ist ja ganz feucht«, bemerkte sie.

»Stimmt«, erwiderte Falcó. »Ich habe sie mir beim Händewaschen nassgespritzt.«

»Wie ungeschickt.«

»Ja.«

Sie rauchten, während sie auf das Essen warteten. Falcós Kopfschmerzen hatten sich gelegt. Brita erzählte von ihrer Arbeit, dem Kassenerfolg, dem Vertrag für die neue Show, die in etwa zwei Monaten Premiere haben würde. Von einem Kinoprojekt, das man ihr angetragen hatte. Falcó wirkte interessiert und höflich, blickte der Frau scheinbar aufmerksam die ganze Zeit in die Augen und, als folgte er einem Drehbuch — was es letzten Endes ja auch war —, ließ er dann und wann eine passende Bemerkung oder eine angelegentliche Frage fallen. Eine deiner perversesten Tugenden, hatte der Admiral einmal gesagt, besteht in deiner Fähigkeit zuzuhören, als wäre das, was man dir sagt, ausschlaggebend für den Rest deines Lebens. Das Wichtigste von der Welt. Und bis dein Opfer den Trick durchschaut hat, ist es zu spät, weil du ihm bereits den Geldbeutel geklaut oder ein Messer in die Leiste gerammt hast. Oder, falls es sich um eine Frau handelt, in ihrem Bett liegst.

»Wohin gehen wir hinterher?«, wollte Brita wissen.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

Was zutraf. Er war gedanklich noch ganz mit dem Umschlag in seiner Tasche beschäftigt, mit den beiden Toten und dem Entkommenen, der mittlerweile seine Leute über den Vorfall in Kenntnis gesetzt haben dürfte. Mit der Frage, wie wohl die portugiesische Polizei reagieren würde. Mit dem Prospekt der Norddeutschen Lloyd Bremen und den dort aufgelisteten Schiffen und mit der Übermittlung der Botschaft an den SNIO — den spanischen Geheimdienst Servicio Nacional de Información y Operaciones —, sobald er sie entschlüsselt hätte. Im Grunde war es nicht eilig, da er sich am nächsten Morgen ohnehin mit Salamanca verständigen wollte; doch nicht einmal die Schönheit der Frau, die ihm gegenübersaß, vermochte sein ungutes Gefühl zu zerstreuen. Etwas am Inhalt dieses Kuverts, an dem, was sich eine halbe Stunde zuvor in Alfama ereignet hatte, war nicht, wonach es aussah. Und er würde keine Ruhe geben, bis er herausgefunden hatte, was daran faul war.

»Möchtest du noch Wein?«

Er näherte die Flasche ihrem Glas. Ihr Lächeln bewies, dass sich auch die letzten Wolken verzogen hatten. Das Eis war geschmolzen. Alles in Ordnung.

»Danke, Liebling.«

Immerhin hatte Falcó schon mehrmals mit Brita Moura geschlafen. Viermal, um genau zu sein: einmal im Hotel Palacio in Estoril und dreimal in Lissabon, in dem luxuriösen Appartement, das sie auf der Travessa do Salitre besaß. So besehen, erwartete ihn also nicht viel Neues bei einer vorübergehenden Rückkehr in die Intimität, die ihr Körper versprach. Letztlich handelte es sich um zwei oder drei angenehme Stunden, bevor er, die Hände in den Manteltaschen, den Kragen hochgeschlagen, frühmorgens den Wasserschläuchen der städtischen Straßenfeger ausweichend, in sein Hotel zurückkehren würde, denn er war kein Freund davon, seine Haut zu riskieren, indem er in fremden Häusern schlief. Das war die Kehrseite. Alles in allem kein Programm, das Begeisterungsstürme hervorrufen konnte.

»Wir könnten tanzen gehen«, schlug sie vor. »Ins Bairro Alto. In der Nähe vom Tavares hat ein neues Lokal aufgemacht, da spielt ein amerikanisches Jazzorchester mit schwarzen Musikern.«

»Das wäre eine Möglichkeit.«

Brita neigte sich ihm wieder zu, stützte den Ellbogen auf den Tisch und hielt die Zigarette mit den Lippenstiftflecken in den hochgereckten Fingern. Ihre straffen Brüste streiften das Tischtuch.

»Rate mal, was ich darunter anhabe«, raunte sie.

Sie lächelte verheißungsvoll. Falcó musterte das drapierte Kleid von Balenciaga aus violettem Crèpe. Bei ihrem letzten Beisammensein hatten sie über weibliche Unterwäsche gescherzt, somit war die Antwort, wie er glaubte, einfach.

»Schwarze Seide?«

»Nichts.« Sie senkte die Stimme noch ein wenig mehr. »Ich habe nichts darunter.«

»Beschreib mir dieses Nichts«, schmunzelte Falcó.

»Ich meine nichts, du Dummkopf. Gar nichts.«

»Überhaupt nichts?«

»Ganz recht. Ich trage weder Unterrock noch Schlüpfer.«

»Oh.«

Als er eine Stunde später beim Tanzen in dem neuen Jazzclub Brita Mouras Hüften streichelte, fand er das Nichts bestätigt. Der Stoff schmiegte sich direkt an ihre Haut, und ihre sinnlichen, dem Takt folgenden Bewegungen erregten Falcó ausreichend, um die beruflichen Sorgen aus seinem Kopf zu verbannen. Vielleicht, dachte er, wäre es am Ende doch keine so schlechte Idee, mit in ihr Appartement zu gehen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, hallo und tschüss und alles andere später. Als Alibi war es nicht übel. Die Nacht war lang, der Umschlag steckte noch in seiner Tasche, und in Salamanca, wo sie um diese Zeit schlafen dürften — der franquistische Kreuzzug zur Rettung der Nation zwang den Neuen Spaniern einen gesitteten Lebenswandel auf —, erwartete man vor dem nächsten Morgen keine Nachricht von ihm. Außerdem würde es seine Deckung verstärken, sollte die portugiesische Polizei wegen der Leichen in Alfama herumschnüffeln.

»Ich finde es toll hier«, sagte Brita zum wiederholten Mal.

Das Lokal, das O Bandido hieß, war in Lissabon groß in Mode: Jazz und stets die neuesten Rhythmen. Kellner mit Champagner in Flaschenkühlern, Tabletts voller Whiskygläser und Cocktails mit unmöglichen Namen flitzten zwischen den Tischen hin und her. Ein Orchester aus schwarzen Amerikanern — zumindest taten sie amerikanisch — war mit Leib und Seele bei der Sache, und eine schwitzende, wogende Menge, größtenteils in Abendgala, hatte offenbar mächtig Spaß auf der Tanzfläche; alle schienen völlig ungerührt von der Tatsache, dass auf der anderen Seite der Grenze in einer Entfernung von wenigen hundert Kilometern ein grausamer Krieg tobte, der Flüchtlinge in Strömen auf die Feldwege trieb, die Gefängnisse mit Unglücklichen füllte und auf den Schlachtfeldern, in den Straßengräben und an den Friedhofsmauern Massen von Toten hinterließ. Mit einer sarkastischen Grimasse entsann sich Falcó für einen Augenblick der letzten Silvesterparty vor dem Krieg — er hatte im Grillrestaurant des Palace de Madrid mit einer Freundin gefeiert und getanzt — und fragte sich, wie viele von denen, die dort Luftschlangen geworfen, einander zugeprostet und Glück für 1936 gewünscht hatten, inzwischen tot waren oder es bald sein würden.

»So ein Mist«, sagte Brita. »Schau nicht hin. Da ist dieser dämliche Manuel Lourinho.«

Falcó schaute hin, aus dem Augenwinkel. Ein stattlicher, braungebrannter Typ im Smoking, der mit einer Gruppe von Leuten an einem Tisch saß. Es wurde getrunken und gelacht.

»Der Schönling da drüben?«

»Genau der. Kennst du ihn?«

»Habe ihn schon mal irgendwo gesehen.«

»Er spielt Polo. Manchmal ist er in der Zeitung.«

»Ah, ja.« Jetzt dämmerte es Falcó. »Was ist mit ihm?«

»Der hat sich zu einem richtigen Quälgeist entwickelt. Wir hatten eine kurze Affäre, die er aber zu ernst genommen hat, und jetzt lässt er mich nicht mehr in Ruhe … Abgesehen davon ist er verheiratet.«

»Ich bin auch verheiratet«, witzelte Falcó.

Sie krallte ihm die Nägel in die Arme.

»Angeber. Wer sollte sich denn an einen Lebemann wie dich binden wollen?«

Sie setzten sich. Dieser Lourinho hatte sie gesehen und durchbohrte Brita mit seinem Blick. Falcó umfasste den Hals der Flasche Bollinger, die in dem Eiskübel steckte, und stellte fest, dass sie fast leer war.

»Bestelle ich noch eine?«

»Lieber nicht.« Brita hatte ihre Handtasche geöffnet und puderte sich die Nase. »Diesen Fatzke zu sehen, hat mir restlos die Laune verdorben.«

»Restlos?«

Sie klappte die Puderdose zu und sah aus der Höhe ihrer weiblichen Überlegenheit auf ihn herab.

»Bist du blöd, oder was?«

Falcó schaute auf die Uhr. Dann erinnerte er sich daran, wie sich die Haut der Frau unter dem Seidenkleid anfühlte.

»Gehen wir?«

»Wird wohl besser sein. Ehe uns der Idiot noch den Abend ruiniert.«

Falcó winkte dem Kellner, zahlte und legte ein großzügiges Trinkgeld dazu. Die Frau erhob sich. In diesem Moment stand auch Manuel Lourinho auf — er war ein großer, kräftiger Mann — und schritt auf sie zu. Brita ging an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Falcó dagegen betrachtete ihn sich genauer. Um ein Haar hätte er ihm zugezwinkert, als wollte er sagen, heute ich, morgen du, Kamerad, aber er hielt sich zurück, weil ihm die Miene des Kerls nicht geheuer war. Der starrte ihn an, als machte er ihn für seine Schmach verantwortlich.

»Hey«, redete er Falcó an.

Sein Atem roch nach einem Whisky von guter Qualität und bösen Konsequenzen. Falcó hielt einen Moment inne. Der andere überragte ihn um fast eine Handbreit.

»Ja, bitte, mein Freund.«

»Ich bin nicht Ihr Freund«, knurrte sein Gegenüber. »Und ich werde Ihnen die Fresse polieren.«

Falcó seufzte schicksalergeben. Beinahe versöhnlich.

»Sie jagen mir Angst ein«, sagte er.

Damit folgte er der Frau, die schon ein Stück vorausgegangen war. Sie holten Britas Mantel und seinen Hut an der Garderobe ab — Falcó war nur im Jackett unterwegs — und traten hinaus auf die Straße. Am Halteplatz gegenüber des Jazzlokals standen zwei Taxis und drei Pferdedroschken. Gerade als Falcó den Portier bitten wollte, ihm einen Wagen zu holen, hörte er hinter sich Schritte. Er wandte sich um, und im Schein der Laterne über dem Eingang stand Lourinho.

»Du gehst ohne ein Wort, Brita.«

Schlechter Zug, dachte Falcó. Der Abend wurde problematisch.

»Ich habe keine Lust, mit dir zu reden«, entgegnete sie.

»Das ist aber sehr ungehörig.«

»Lass mich in Frieden.«

Sie hatte Falcós Arm fester umfasst. Den rechten. Vorsichtshalber ließ er sie die Seite wechseln.

»Ich habe mehrmals versucht, dich anzurufen«, beharrte Lourinho.

»Viele Leute versuchen, mich anzurufen.«

Die vom Portier georderte Kutsche fuhr vor. Lourinho vertrat ihnen den Weg.

»Luder«, stieß er hervor.

Falcó verzog das Gesicht. Die Sache schien aus dem Ruder zu laufen. Zumindest konnte es jeden Augenblick so weit sein.

»Entschuldigen Sie uns«, sagte er und wollte Brita zur Kutsche ziehen.

»Er hat mich Luder genannt«, beschwerte sie sich aufgebracht. »Und du sagst nichts?«

»Steig ein, mach schon.«

Doch Lourinho stellte sich erneut dazwischen. Bedrohlich spreizte er die Arme ein wenig vom Körper ab wie ein kampfbereiter Ringer.

»Ich bringe dich um«, sagte er zu Falcó.

Der seufzte noch einmal tief auf und entzog Brita seinen Arm. Er blickte dem anderen direkt ins Gesicht, das sehr nah und ein Stück oberhalb des seinen war.

»Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen umgebracht«, sagte Falcó sehr langsam.

Vielleicht war es der Ton, vielleicht die Miene. Falcós Blick. Lourinhos Züge verrieten alles auf einmal. Eine Reihe von Empfindungen. Verblüffung zuerst, dann Erkenntnis und Misstrauen. Er tat einen Schritt zurück. Irgendwie hatte er sich das anders vorgestellt, und sein alkoholvernebeltes Hirn versuchte zu ergründen, was geschah. Doch mehr als zwei Sekunden gestand ihm Falcó dafür nicht zu, vielmehr machte er den Schritt, den der andere zurückgewichen war, nach vorn und hob lächelnd die Arme, als wollte er ihn zum Zeichen ihrer Eintracht freundschaftlich umfangen. Und in derselben Bewegung, immerzu mit einem breiten Lächeln — wenn der andere lächelt, vernachlässigt jeder die Abwehr —, versetzte er ihm einen Kniestoß in die Hoden, worauf sich Lourinho zusammenkrümmte, zunächst vor Schreck, dann vor Schmerz. Falcó wusste, dass diese Art von Schlägen drei oder vier Sekunden brauchte, um ihre volle Wirkung zu entfalten, also rammte er ihm, um die Sache abzukürzen, noch den Ellbogen ins Gesicht. Der große Kerl fiel auf die Knie, eine Hand vor den Augen, die andere im Schritt, und atmete so schlagartig aus, als hätte er einen Blasebalg statt Lungen.

Falcó hatte sich dem Portier zugewandt und ihm einen gefalteten Geldschein gereicht.

»Wie Sie sehen, ist dem Herrn nicht wohl«, sagte er sehr ruhig. »Er ist gestolpert und hingefallen.«

Der Türsteher steckte das Trinkgeld in seine betresste Jacke. Das Entsetzen war aus seiner Miene verschwunden, stattdessen reichte sein Grinsen jetzt von einem Ohr zum anderen.

»Ja, das sehe ich, der Herr.«

Auch Falcó lächelte verschwörerisch. Das Lächeln eines Mannes, der unerschütterliches Vertrauen in die Grausamkeit, Dummheit und Habgier der Menschen besitzt.

»Offenbar zu viel Whisky.«

»Bestimmt.«

Draußen war es noch Nacht. Durch die Schlafzimmervorhänge drang das Licht der Neonreklame für Portwein Sandeman am Haus gegenüber. Nackt unter Britas Mouras Bademantel, den er um die Schultern gelegt hatte, saß Falcó in einem Sessel, rauchte und betrachtete im Dämmerlicht die schlafende Frau. Die Heizung sorgte für eine angenehme Temperatur, und Brita schlief fest, unbedeckt, auf dem Rücken. Falcó hörte ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge. Reglos lag sie da, in einer Pose, in der eine weniger schöne Frau vulgär gewirkt hätte. Das schwache Licht erreichte sie wie durch ein violettes Sieb und erzeugte ein großartiges Spiel aus Licht und Schatten entlang der Konturen ihres Körpers. Der dunkle Busch ihres Schamhaares verbarg die schwindelerregenden Abgründe, die sich zwischen ihren Schenkeln auftaten.

Kühl dachte er an den Mann, den er in Alfama getötet hatte. An das sprudelnde Geräusch seiner Kehle, an die in Form von Blasen mit dem Blutschwall entweichende Luft. Er reflektierte, wie es zu seinen Gewohnheiten und zu seinem Berufsalltag gehörte, über Flüssigkeiten und Körpersäfte. Über die erstaunliche Leichtigkeit, die rettungslose Geschwindigkeit, mit der ein Mensch gut fünf Liter Blut verströmen, hilflos auslaufen konnte, sodass kein Verband, kein Fingerdruck, keine improvisierte Aderpresse imstande gewesen wäre, die massive Blutung zu stoppen. Und einmal mehr fragte er sich, wie es anderen gelang, zu überleben, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass es genügte, die wenigen Schritte zu dieser prachtvollen schlafenden Frau hinüberzugehen und ihr mit einem simplen Schnitt den Hals zu durchtrennen, um sie in ein Stück totes Fleisch zu verwandeln.

Er drückte den Zigarettenstummel in einem Aschenbecher aus, stand auf und rieb sich die schmerzenden Lenden: Brita war ohne Zweifel eine sehr resolute Frau. Dann band er den Bademantel zu und ging barfuß über den Parkettboden zu seiner Jacke, die über einer Stuhllehne hing. Er holte den Umschlag heraus und nahm ihn mit ins Bad, wo er das elektrische Licht andrehte und sich einen Moment im Spiegel begutachtete, den quadratischen Unterkiefer, verschattet vom sprießenden Bart, das schwarze zerzauste Haar über der Stirn, die grauen, harten Augen, deren Pupillen noch erweitert waren von dem Kokain, das Brita ihm vor zwei Stunden gegeben hatte. Sein Mund war trocken und klebrig.

Er öffnete den Wasserhahn, trank gierig einen langen Schluck und zog dann den Prospekt des Norddeutschen Lloyd Bremen aus dem Kuvert. Vor kaum acht Stunden waren wegen dieses unscheinbaren Zettels zwei Männer gestorben. Eine Zeit lang studierte er sehr aufmerksam die aufgeführten Namen der Schiffe und deren Routen, ohne irgendein Zeichen oder einen Hinweis zu entdecken. Schließlich hob er das Blatt an die Nase und roch an dem bedruckten Papier. Das Ergebnis zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.

Auf der gläsernen Ablage über dem Waschbecken stand ein Kerzenständer, daneben lag eine Schachtel Streichhölzer. Falcó räumte die Glasplatte leer, legte das Papier darauf, strich es glatt und entzündete die Kerze. Diese hielt er nun darunter, ließ die Flamme vorsichtig hin und her gleiten, sodass sie das Glas erwärmte und mit ihm das Papier, ohne es zu beschädigen. Und nach etwa einer halben Minute erschienen, ganz allmählich, erst Striche in rötlichem Ocker, dann immer deutlicher erkennbare Großbuchstaben und schließlich Wörter, mit Zitronensaft, Urin oder einer anderen unsichtbaren Tinte an den Rand des bedruckten Blattes geschrieben:

Mount Castle, Kapitän Quirós. Reederei Noreña y Cía., Cartagena—Odessa, Donnerstag, 9.

Um Viertel nach neun am Morgen stand ein schlanker, nicht sehr hochgewachsener Mann mit schwarzem Oberlippenbart und braunem Zweireiher, dessen Jacke ihm ein wenig zu groß war, in der Glastür zum Frühstückssalon des Hotels Avenida Palace, ohne den Hut abzunehmen. Nachdem er ein paar Worte mit dem Oberkellner gewechselt hatte, schaute er sich suchend um und hielt dann auf den Tisch unter dem großen Kristalllüster zu, an dem Falcó saß, O Século und das Jornal de Notícias vor sich ausgebreitet, in der Nähe eines Fensters, durch das er den Obelisken auf der Praça dos Restauradores sehen konnte.

»Das ist ja eine Überraschung«, sagte Falcó und schob die Zeitungen beiseite.

Ohne zu antworten, richtete der andere den Blick erst auf die Schlagzeile Massive Luftangriffe gegen Madrid, dann auf Falcó. Schließlich zog er den Hut von der sonnengebräunten Glatze und legte ihn auf einen Stuhl. Er setzte sich und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Bartstoppeln zeigten sich auf seiner fettigen Haut, und er machte einen erschöpften Eindruck.

»Immer gut untergebracht«, bemerkte er nach einem Rundblick. »Das Zimmer zu hundertzwanzig Escudos, glaube ich.«

»Hundertvierzig.«

Der Mann nickte resigniert.

»Mir würde ein Kaffee guttun«, sagte er schwach. »Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Falcó rief nach dem Kellner. Im Gegensatz zu dem anderen war er frisch geduscht und hatte sich nach seinen allmorgendlichen dreißig Liegestützen im hoteleigenen Friseursalon rasieren lassen. Das Haar nach hinten gekämmt, perfekter Scheitel, bleifarbener Dreiteiler — Anderson & Sheppard stand auf dem Etikett im Innenfutter des Sakkos — und Seidenkrawatte. Die grauen Augen studierten seinen Besucher in aller Ruhe: Hauptmann Vasco Almeida von der gefürchteten PVDEPolícia de Vigilância e Defesa do Estado —, dem portugiesischen Geheimdienst. Sie waren alte Bekannte. Ihre Freundschaft oder auskömmliche Beziehung stammten aus der Zeit, zu der Falcó noch auf Rechnung von Basil Zaharoff mit Waffen gehandelt und dazu unter anderem den Hafen von Lissabon genutzt hatte. Holzkisten ohne Aufdruck oder Lieferpapiere, die als Industrieanlagen oder andere Güter deklariert waren, aus- und eingehende Frachten in dieser schäbigen Welt aus Kränen, Kaschemmen, gesprungenen Fliesen an den Hausfassaden, engen Gassen und Bordellen für die Seeleute der Schiffe, die in diesem Hafen, dessen Molen sich von Alcântara bis Cais do Sodré zogen, vor Anker gegangen waren. Leben und leben lassen, das war ihre Devise. Beide hatten schon öfter Winkelzüge, Vertraulichkeiten, Bestechungsgelder und Profite brüderlich geteilt. Portugal war, wie Almeida zu sagen pflegte, ein kleines und armes Land. Mit niedrigen Gehältern.

»Zwei Tote. In Alfama.«

Dabei schaute er nicht Falcó an, sondern die dampfende silberne Kaffeekanne, die ein Kellner soeben auf den Tisch gestellt hatte. Er goss sich eine Tasse randvoll, ohne Zucker.

»Ein Spanier und ein Portugiese«, ergänzte er, bevor er den ersten Schluck nahm.

Falcó sagte nichts. Seine Manschetten waren rechts und links seines leeren Milchglases — Kaffee trank er schon lange nicht mehr — und des Tellers mit den Resten einer Scheibe Buttertoast an die Tischkante gestützt. Er wartete. Nach zwei weiteren nachdenklichen Schlucken tupfte sich Almeida den Schnurrbart ab und sah Falcó an.

»Wo warst du gestern Abend, mein Freund?«

Falcó hielt seinem Blick stand und wölbte nur leicht die Augenbrauen zum Zeichen seines Erstaunens.

»Essen.«

»Und danach?«

»Tanzen.«

»Allein?«

»Nein.«

Almeida nickte langsam, als hätte er genau das gehört, was er erwartet hatte. Wieder strich er sich mit einer Hand über sein unrasiertes Gesicht.

»Ein Spanier und ein Portugiese«, wiederholte er barsch. »Der eine abgestochen wie ein Schwein.«

»Und?«

»Deinem Landsmann hat man die Papiere geklaut, aber ein Botschaftsbeamter hat ihn vor einer Weile identifiziert. Er war ein republikanischer Spitzel. Der andere, der Portugiese, stürzte aus großer Höhe, oder man hat ihn gestürzt. Ein gewisser Alves. Angestellter eines Konsignatars von Schiffen in der Rua do Comércio.«

»Und warum erzählst du mir das alles?«

»Alves hat für die Deinen gearbeitet.«

Falcó blinzelte ein paarmal.

»Und wer sind die Meinen?«

»Scher dich zum Teufel.«

Schweigen. Lange. Almeida trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee aus. Dann akzeptierte er die Zigarette, die Falcó ihm anbot. Falcó besaß die seltene Gabe, eine Freundschaft nach monate- oder jahrelanger Unterbrechung an genau demselben Punkt wieder aufzunehmen, als wäre die Zeit stehengeblieben. Dazu genügte eine Geste, eine Hand auf dem Arm oder der Schulter, eine gemeinsame Erinnerung, ein Lächeln. Bei Almeida war es eine Zigarette.

»Kannst du beweisen, dass du gestern Abend nicht allein warst?«, wollte der Geheimpolizist wissen und blies den Rauch aus.

»Natürlich.«

»Mann oder Frau?«

»Frau.«

»Bekannt?«

»Ziemlich.« Falcó grinste schief. »Deshalb wäre ich dir dankbar, wenn du es nicht an die große Glocke hängen würdest.«

»Dann sag mir wenigstens, wo.«

»Im Martinho da Arcada und im O Bandido.«

»Und anschließend?«

»In ihrer Wohnung. Bis vor vier Stunden.«

»Wo?«

»Travessa do Salitre, in der Nähe des Hotels Tivoli.«

Almeida schien einen Moment nachzudenken.

»Kanntest du den Spanier?«, fragte er schließlich. »Ortiz hieß er.«

»Nein.«

»Und den Portugiesen?«

»Noch weniger.«

»Hast du ich liebe dich zu ihr gesagt?« Almeida schmunzelte wie ein kleiner Junge. »Es ist nämlich nicht ratsam, mit einer Frau, die später als Alibi herhalten soll, die Nacht zu verbringen, ohne ihr mehrmals zu sagen, dass du sie liebst.«

»Bei dieser war das nicht nötig.«

»Bist eben ein Glückspilz.«

»Ja.«

Sie schauten sich in die Augen, als trügen sie an einem der neun Tische des Café Chave d'Ouro eine Partie Billard aus, wie sie es in weniger spannungsgeladenen Zeiten oft getan hatten. Nach einer Weile wies Falcó auf die Zeitungen.

»Benfica hat Sporting geschlagen.«

»Na und?«

»Benfica ist doch dein Verein, oder nicht?«

Wieder verstummten sie für einige Zeit und beobachteten einander.

»Wie lange kennen wir uns jetzt?«, fragte Almeida dann. »Sechs Jahre?«

»Acht.«

»Ich habe dich schon aus mehr als einem Schlamassel gerettet.«

»Und ich dich.«

»Alles hat seine Grenzen, mein Freund.«

»Ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst?«

»Diese Leichen stellen mich vor ein Problem.«

»Diese Leichen sollten Angelegenheit der Polizei sein, Vasco. Nicht deine.«

»Wenn es sich um Geheimagenten handelt, auf dem Pflaster zerschmetterte portugiesische Staatsangehörige und spanische Spione, denen man die Kehle durchgeschnitten hat, dann ist das meine Angelegenheit. Verstehst du? Meine Vorgesetzten verlangen Ergebnisse. Und dabei zählen weder Freunde noch gute Bekannte.«

»Kommt darauf an. Dein Präsident Salazar sympathisiert mit den Nationalisten.«

Der andere widmete ihm einen grimmigen Blick. So ähnlich, dachte Falcó, muss er wohl dreinschauen, während ihm einer von zehn Gefangenen — so die mutmaßliche Statistik, die über den verbissenen Antikommunisten Vasco Almeida in Umlauf war — beim Verhör heulend unter den Händen wegstarb oder kurz entschlossen aus dem Fenster sprang. Mit finsterer Miene sah sich der Portugiese rasch nach allen Seiten um.

»Heute Morgen«, sagte er mit gesenkter Stimme, »geht mir mein Präsident Salazar am Arsch vorbei.«

Er machte eine Pause und nahm einen so langen Zug aus seiner Zigarette, dass er sie beinahe aufrauchte.

»Ganz abgesehen davon«, fügte er hinzu, »hat meine Regierung deine immer noch nicht anerkannt.«

Falcó rührte sich nicht und betrachtete ihn mit Wohlwollen.

»Und was willst du von mir?«

Almeida schüttelte den Kopf.

»Ein Bürgerkrieg, um die Farbe einer Fahne zu ändern, das sind harte Bandagen. Ihr Spanier habt sie nicht mehr alle. Ihr saugt die Streitlust schon mit der Muttermilch auf.«

»In so vielen Pluralen finde ich mich nicht wieder«, lächelte Falcó. »Von wem sprichst du?«

»Egal. Von den Roten und von den Faschisten.« Der Geheimpolizist seufzte und schaute auf die Zigarette, gereizt, als hätte Falcó etwas Offensichtliches infrage gestellt. »Weil ihr auf uns Portugiesen nicht mehr eindreschen könnt, drescht ihr jetzt aufeinander ein … Hauptsache, ihr habt jemanden zum Verdreschen.«

»Du hast mir noch gar nicht verraten, welchem Umstand ich die Ehre verdanke, mit dir frühstücken zu dürfen. In deiner herrlichen Stadt.«

Der andere verzog den Mund.

»Du bist doch nicht in Lissabon, um Urlaub zu machen.«

»Ich bin geschäftlich hier, das weißt du doch. Import und Export.«

»Klar.« Almeida drückte den Zigarettenstummel in die leere Kaffeetasse. »Und ich drehe Däumchen.«

»Beweise es.«

»Dass ich Däumchen drehe?«

»Was du mir unterstellst.«

»Ich kann dich festnehmen lassen«, sagte er und blickte ihn streng an. »Dir eine Weile wehtun. Dieser Frau, mit der du angeblich die Nacht verbracht hast, das Leben schwermachen.«

»Hör auf.«

»Dann überspann den Bogen nicht.«

»Was hättest du davon? Dass ich dir die Freundschaft aufkündige?«

Der Geheimpolizist seufzte müde.

»Behandle mich nicht wie einen Trottel.«

»Das würde ich nie wagen …«

Almeida unterbrach ihn, indem er die Hand hob.

»Ich habe nichts dagegen«, sagte er schneidend, »wenn ihr euch jenseits der Grenze die Köpfe einschlagt oder deutsche und italienische Waffen über den Hafen von Lissabon heranschafft, solange ihr die richtigen Stellen schmiert. Das soll jeder handhaben, wie er meint. Die PVDE mischt sich da bislang nicht ein. Aber wir werden nicht zulassen, dass eure Abrechnungen hier stattfinden. Dass ihr uns mit eurem Dreck bespritzt.«

Falcó gestattete sich einen Anflug von Ungeduld.

»Hör zu. Diese Unterhaltung führt zu nichts. Ich habe mit der Sache in Alfama, was auch immer dort passiert sein mag, nichts zu schaffen.«

»Ein bisschen wirst du doch wissen, ich bin mir sicher. Erzähl mir etwas, woran ich mich halten kann. Irgendetwas, muss nichts Großes sein. Und danach gehen wir beide unserer Wege.«

»Sollten nationalistische Agenten beteiligt gewesen sein, gehöre ich nicht dazu. Ich schwöre dir, ich habe keine Ahnung von der Geschichte.«

»Du und keine Ahnung?«

»Nicht den blassesten Schimmer.«

»Gib mir dein Ehrenwort.«

»Du hast mein Ehrenwort.«

Almeida sah ihn sekundenlang fest an. Dann prustete er los.

»Alter Hurensohn.«