Peter Handke

Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos

Roman

Suhrkamp Verlag

»Du wirst gehen zurückkehren nicht sterben im Krieg«

Lateinisches Orakel

»Hab' Erbarmen mit ihr, die reist an solch einem Tag«

Ibn 'Arabî

»Aber vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten«

Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo

Don Quijote de la Mancha

1

Sie wünschte, es wäre ihre letzte Reise. Da, wo sie seit langem wohnte und ihre Arbeit hatte, war es ihr immer wieder neu und abenteuerlich genug. Land und Gegend waren andere als die ihrer Geburt, und sie hatte schon von Kind an in mehreren grundverschiedenen Landstrichen und Ländern gelebt.

Aufgewachsen bei vielreisenden oder eher vagabundierenden Großeltern, die mit jeder Grenze ihre Nationalität zu wechseln schienen, hing sie in der Jugend zeitweise ihrem abwesenden ostdeutschen Geburtsland nach, ihr vertraut aus keinerlei Erinnerung, vielmehr allein aus Erzählungen und später auch Träumen.

Nach einigen Besuchen in jenem Land studierte sie dann teilweise dort, sagen wir, in Dresden oder Leipzig, eine gute Fahrradstunde entfernt von ihrem Geburtsdorf, und in der Folge, einige Länder und zwei oder drei Erdteile danach, wurde sie da, zwei Autostunden weg von ihrem angeblichen, inzwischen abgerissenen und durch einen Neubau ersetzten Geburtshaus, dort sogar für ein paar Jahre ansässig, und arbeitete; damals noch nicht als Bankfrau.

Danach, nach wieder diesem und jenem anderen Land und Kontinent, Arbeiten und zwischendurch auch Vagabundieren, einem von dem einst ihrer Großeltern freilich verschiedenen ‒ fast immer allein ‒, verlor die Geburtsgegend sich allmählich, unbemerkt, aus ihrem Sinn; spurlos verschwunden eines Tages aus ihrem Innern das ausgedehnte, großmächtige Deutschland, während von ihrem speziellen, kleinteiligen Deutschland eine Zeitlang wenigstens noch einige Spuren blieben, ein Bach mit den Schatten von Wasserläufern unten im Kieselbett, ein abgeerntetes Maisfeld, aus dessen Furchen die zerhäckselten Blätter aufwirbelten, ein in die steppenkalte Gegend verirrter Maulbeerstrauch.

Und auch diese kleinen Spuren schwanden. Die Bilder kamen nicht mehr von selber. Sie mußte sie vorsätzlich herbeirufen. Und so blieben sie ohne Bedeutung. Höchstens in manchen Traum griffen sie noch ein. Und dann verloren sie sich auch aus den Träumen. Das Land ging ihr nicht mehr nach. Sie hatte kein Land mehr, auch kein anderes, auch nicht das jetzt hier. Und das war ihr nur recht. Wie recht ihr das war! Wie geformt und bloß zusätzlich verschönt sie, und nicht bloß ihr Gesicht, war von den Ewigkeiten in der Fremde.

Eine klare, frostkalte Nacht Anfang Januar an der Peripherie einer nordwestlichen Hafenstadt. Wie hieß die Stadt? Name des Landes? Dem Autor, den sie mit dem Buch über sie, ihre Unternehmungen und ihre Abenteuer beauftragt hatte, war es zugleich untersagt worden, Namen zu verwenden. Wenn es anders nicht ging, sollte er ihretwegen Ortsbezeichnungen einsetzen. Von diesen mußte aber von vornherein klar sein, daß es in der Regel die falschen ‒ geänderte oder erfundene ‒ wären. Stellenweise stand es dem Autor, mit dem sie einen klassischen Lieferantenvertrag abschloß, auch frei, einen richtigen Namen mitspielen zu lassen; der Kreis der Leser hätte, so oder so, allein der großen Geschichte zu folgen und sollte, kraft der Geschichte wie auch des Erzählens, so frei sein, jeden anfänglichen Gedanken an eine Fährtensuche oder ein Nachschnüffeln schon mit dem ersten Umblättern zu vergessen. Womöglich sogar schon mit dem ersten Satz ihres Buches hatten solche Gedanken oder Hintergedanken das Feld zu räumen für nichts als das reine Lesen.

Das gleiche, so ihre Vertragsbedingungen, galt entsprechend für die Personennamen und die Zeitangaben. Personennamen nur, wenn sie klar Ausdruck der Phantasie sind. »Welcher Phantasie?« (der Autor). ‒ »Der Phantasie des jeweiligen Abenteuers und der Liebe« (sie). »Wessen Liebe?« ‒ »Meiner. Und Zeitangaben einzig ungefähr so: An einem Wintermorgen. In einer Sommernacht. Im folgenden Herbst. Damals zu Ostern, mitten im Krieg.«

Sie hatte schon seit langem fast keine Verwandten mehr. Und wenn, so waren auch diese ihr mit der Zeit aus dem Sinn geraten. Irgendwo ‒ »wo?« ‒ »weißnicht« ‒ lebte angeblich noch ein Halbbruder, angeblich ein Wohnwagenverleiher, oder ein Mikrochiptechniker? oder beides?

Viele Jahre hatte sie dabei mit ihren Vorfahren, angefangen bei den nie bewußt wahrgenommenen Eltern, einen stillen, insgeheimen und umso glühenderen Kult betrieben. Die Vorfahren, ausgenommen höchstens die lange allzu gegenwärtigen Großeltern, bildeten, wiederum durch Erzählungen, und wenn auch noch so fragmentarische, gerade durch fragmentarische!, und dann Träume, während wohl »zwei Dutzend von Sommern und mehr noch von Wintern« ihre oft täglich neu beweinte Liebe.

Sehnte sie sich nach ihren Ahnen? Ja, aber nicht mit ihnen zu sein, sondern bloß so einen Augenblick bei ihnen vorbeischauen zu können, sie zu trösten, sich bei ihnen zu bedanken und, mit einem Schritt zurück in den gebührenden Abstand, sie anzubeten.

Und inzwischen waren diese Vorfahrenumrisse kraftlos geworden. Und auch das hatte sich ganz allmählich ereignet. Ihre verehrten Toten, so sah sie es eines Sommeroder Wintermorgens, waren Teil der zigmilliarden seit dem Beginn der Zeiten in das Erdreich versickerten, hinweggesinterten, verkrümelten oder in sämtliche Windrichtungen verpufften Nichtmehrvorhandenen, Niewiederzurückrufbaren, von keiner Liebe mehr Wiederbelebbaren, in alle Ewigkeit unersehnbar Gewordenen. Wohl agierten sie noch, wie früher, ab und zu in den Träumen, aber bloß so im Gewimmel, unter »ferner liefen«: dieses Ab und Zu hatte, anders als früher, nicht mehr die Bedeutung von »zu allen heiligen Zeiten«.

Und auch dieser zweite Tod ihrer Vorfahren war ihr dann, wie zuvor das aus ihr entschwundene kleine und große Geburtsland, recht. Die Kräfte, die sie lange Zeit weniger aus dem ganzen Land als aus den kleinen Landbruchstücken, weniger aus einem geglückten ganzen Leben eines Ahnen (es gab freilich nicht einen einzigen dieser Art) als aus dem Unglück und dem einsamen Sterben (das galt für alle ihre Vorgänger) bezogen hatte, erschienen ihr inzwischen erschwindelt. Solche Kräfte, fragte sie sich, machten sie nicht tyrannisch und rücksichtslos? Wirkten zu Lasten derer, mit denen man jetzt war, lebte, arbeitete, umging, jetzt in der Gegenwart? Solche Kräfte waren begleitet von einer Art Hoffart, welche die Tage wie auch die Nächte der Zeitgenossen, der einem so oder so nah kommenden, behindern, ja beschädigen, ja zerstören konnte? Ihre Ahnenverehrung losgeworden, wurde sie frei für andere Kräfte? Impulse? Nein, so ganz recht war ihr das Bedeutungslos- und Unscheinbarwerden der Vorfahren trotzdem nicht. Sie ließ es eher, Bitterkeit nicht nur auf der Zunge, geschehen.

Seit Wochen schon herrschte ein harter Frost in ihrer nun bald langjährigen Gegend. Sie wollte dem Autor diese Angabe, die sich kaum mit der von ihr als Wohnort vorgesehenen »nordwestlichen Hafenstadt« ‒ der Golfstrom das Klima mildernd ‒ vereinbaren ließ, zunächst ausreden. Doch dann ließ sie sich überzeugen, daß »Hafen« auch ein »Flußhafen« sein konnte, im Binnenland, weit weg von der wärmenden Küste in einem halb schon kontinentalen Kaltgebiet. Basel. Köln. Rouen. Newcastle upon Tyne. Passau. Was zählte: daß sich in einer solchen Stadt der Zentralsitz ihrer Bank befand. Aber auch der Name der Bank durfte in ihrer Geschichte nicht vorkommen.

Am Morgen ihrer Abreise stand sie noch früher auf als üblich. Wie vor jeder Reise war es eine beflügelte, leichte Nacht gewesen; wohl auch, weil sie wieder einmal geschlafen hatte im Bett ihres ausgezogenen Kinds. Die Sachen waren schon gepackt ‒ eher verstaut, in einem Tragsack, der, gekauft einst am Ende ihrer Mädchenzeit, inzwischen halb so alt war wie sie selber. Nur wirkte er unvergleichlich älter: zerschlissen, eingerissen, angeschabt; wie ein Relikt aus dem Mittelalter, da man ganz anders gereist war als heutzutage; ein Ranzen aus Hermelinfell? Immer wieder, vor jeder ihrer Alleinfahrten, und nicht nur in die Sierra, hatte sie ihn wegwerfen oder zumindest in einen Winkel verstauen wollen. Und jedesmal war er doch noch einmal, »ein letztes Mal«, an die Reihe gekommen. Ihre längst auf und davon gegangene Tochter pflegte seinerzeit als Kind, sooft eines der miteinander gespielten Spiele zuende gespielt war, die Mutter um ein »letztes Mal Spielen« zu bitten, und danach, nach so einem »letzten Mal«: »Bitte, noch einmal ein letztes Mal!« Das war dann nicht mehr ein Bitten, sondern schon ein Flehen. Der Autor: Ob er das in ihr Buch übernehmen könne? Sie: Wenn das nicht ‒ was dann? Ihr Tragsack blieb auf der ganzen Reise halb offen. Aber es fiel nie etwas aus ihm heraus. Und ihre Schuhe? Waren alt und allseits angerauht ‒ gut zum Felsklettern.

Es war noch tiefe Nacht, und der Frost knisterte außen an den Scheiben. Sie machte kein Licht; der Fastvollmond, obwohl im Abnehmen, leuchtete das ganze vielfenstrige, vorhanglose Haus aus. Die Flußhafenstadt zog sich hier an der Peripherie hin bis an den Fuß eines teils bewaldeten, teils nacktfelsigen Hügelrückens. Der Hügel, schwarz im Mondgegenlicht und sehr nah, erschien als ein Bestandteil des weiten und im Augenblick eher leer wirkenden Hauses. Von Raum zu Raum ‒ und es gab nicht wenige Räume ‒ entwarf die Beinahleere ein verschiedenes Bild: hier war die Bewohnerin längst endgültig ausgezogen; hier stand das bis auf zwei, drei Dinge und Geräte ausgeräumte Zimmer bereit für den Arbeitsbeginn; jetzt der verlassene Flur zeigte die Spuren einer Flucht; jetzt der Tisch im Salon glänzte für eine kurz bevorstehende Konferenz; dort jetzt in dem einzigen, dafür kesselgroßen Topf in der Küche war vorausgekocht für eine ganze Gesellschaft, oder für eine ganze Woche.

Eine Art Fülle oder eher Vollgestopftheit ähnlich dem Tragsack allein in dem ersten der drei aufeinanderfolgenden Kinder- bis Schüler- bis Studentinzimmer: bis in die hintersten Ecken standen und lagen da neben- und übereinander Spiele, Spielfiguren, Spielsachen. Nur hatten die Dinge in dem Rucksack ein jedes seinen Platz, seinen Zweck, seinen Plan, ergänzten sich untereinander und deuteten eins auf das andere. Hier in dem Kinderzimmer dagegen wurde an den hundert dahingewürfelten und -geschobenen Spielzeugen kein einziges Spiel erkennbar. Nicht einmal im Ansatz zeigte sich ein gleichwie vertrautes und nachvollziehbares Spielschema, und das nicht bloß wegen des Mondlichts. Und doch war in dem Zimmer gespielt worden, mit allen den Sachen da auf dem Boden, und mit denen allen gemeinsam, gleichzeitig, und wie! Voll Begeisterung, im Schweiße der Achseln und des Angesichts, unter Anfeuerungsrufen und Absingen unerhörter Lieder, Spiel, Spiel und nichts als Spiel. Und das Spielen schien noch gar nicht so lange aus. Es würde im nächsten Augenblick neu einsetzen.

Der Reisekaffee (oder -tee) an einem der Südfenster. In diese Richtung sollte sie nun. Dabei war mit gleichwelchem Süden doch längst nichts mehr anzufangen, ebenso wie mit dem Meer und mit sämtlichen anderen Richtungen ‒ recht so ‒, eingeschlossen den Himalaja und die Fahrt hinauf zum Mond. Der spiegelte sich jetzt unversehens in der Tasse und verschwand gleich wieder. Sie versuchte ihn einzufangen. Aber er entschlüpfte jedesmal. Sie saß auf einem zusammenklappbaren sogenannten Reisestuhl und wünschte, weiter und weiter so zu sitzen.

Ein Ruck jetzt: jemand beäugte sie oder ihre Silhouette von außen, aus der Finsternis: der Autor, der Lieferant. Ein erster einzelner Glockenschlag von der Stadtrandkirche, und fast zugleich die Stimme des Muezzin vom benachbarten Minarett, beantwortet von einem wiederholten Eulenruf aus dem Waldhügel. Das erste Frühflugzeug als Blinkspur neben den starr funkelnden Wintersternen, und als drittes jetzt ein Streichholz angerissen über den ganzen Himmel und schon wieder erloschen: eine Januarsternschnuppe.

Nein, kein Autor. Und doch gab es den. Er war sogar ein Grund und eins der Ziele ihrer bevorstehenden Reise. Und es ging dabei nur beiläufig oder nebenbei darum, daß sie ihm ihr Leben oder was auch immer erzählte. Hauptsächlich ging es um Geld. So wie sie und er zuerst den Liefervertrag über ihr Buch abgeschlossen hatten, so sollten sie beide nun miteinander einen Vertrag vereinbaren, worin sie oder ihre Bank ‒ die Bank und sie, zumindest ihr Name, standen seit langem für ein und dasselbe ‒ freie Hand zur Verwaltung und Vermehrung des Autorengeldes bekämen.

Üblicherweise befaßte sie sich mit derlei nicht mehr. Die Bank hatte eine eigene Abteilung dafür, und sie agierte inzwischen außer- und oberhalb der Abteilungen. In diesem Fall aber mußte sie eine Ausnahme machen. Sie selber hatte sich in eine solche Lage gebracht, indem sie, anstelle der nichtendenwollenden Zeitungsartikel und Farbmagazin-Reportagen, ein richtiges Buch über sich, ihre Bank, auch deren Geschichte, wünschte. Dabei waren die Geldsummen, die der Autor anlegen wollte (oder konnte), nicht nur im Vergleich mit den üblichen Geschäften ihrer Bank eine Kleinigkeit. Und auch die Person des Autors selber schien, nach dem einzigen bisherigen Treffen zwischen ihnen beiden, eher dazu angetan, ihr aus dem Weg zu gehen.

Wie war sie auf ihn gekommen? Warum hatte sie den Buchvertrag nicht mit einem Journalisten, oder einem Historiker, oder, am nächstliegenden, mit einem Historienjournalisten, vereinbart? Von vornherein bestand sie auf einem mehr oder weniger zünftigen Schriftsteller; einem Erzähler; meinetwegen einem Erfinder, was ja nicht heißen mußte, daß der die Fakten verbog oder fälschte ‒ er hantierte vielleicht nur da und dort mit zusätzlichen, anderen, ungeahnten, Fakten und verschwieg oder, warum nicht, vergaß in deren Schwung dafür so manche selbstverständlichen, unnötig zu erwähnenden? »Fakten statt Mythen«, so hatte einer der historischen Journalisten, als er sich für das Buchprojekt anbot, als den Untertitel vorgeschlagen. Und unter andern Sprüchen hatte auch dieser, gerade der, sie auf die Gegen- oder eher Nebenspur, die des Autors, gebracht: in dessen Falle sie sich momentweise trotzdem sah.

So oder so aber versprach sie sich von ihm, er werde in die Folge der Fakten möglichst viel anderes miteinfließen lassen; und das, was miteinfließe, werde entscheidend sein für die Geschichte. Geschichte? Eher so: wie andere in die Geschichte eingehen wollten, so wollte sie eingehen in die »Erzählung«. Und diese sollte unverfilmbar sein, oder für einen Film, wie es ihn noch nie gegeben hatte.

Sie war einmal eine Leserin gewesen. (Sie las auch jetzt noch, doch das war für sie kein Lesen mehr. Sie las nicht mehr recht. Und zugleich kam sie sich ohne Lesen verwaist vor.) Und in jener Zeit hatte der ‒ nicht nur der erzwungenen Reise wegen ‒ vermaledeite Autor ihr weniger als Held denn Lotse?, nein, sie brauchte keinen Lotsen, gedient; gedient? ja, gedient. Und obwohl seine letzten Bücher schon länger zurücklagen und sie diese auch nicht mehr gelesen hatte, war ihr dann unversehens die Idee mit ihm als dem Verfasser ihres Buchs gekommen. Er oder keiner. Und er würde sich umgehend für sie an die Arbeit machen. Niemand, auch er nicht, konnte ihr Angebot ablehnen. Schon eine Bedenkzeit wäre ihr unverständlich. Einmal, in einem anderen Erdteil zu Gast in der Residenz eines für ihre Bank fast lebenswichtigen, im übrigen sehr auf Würde bedachten Staatspräsidenten, »sagen wir, dem von Singapur«, forderte sie diesen mitten in den Verhandlungen auf, ihr eins der im Hotel vergessenen Dokumente ‒ nicht etwa holen zu lassen, sondern persönlich holen zu gehen. »Und er hat es auf der Stelle geholt!«

Der Autor, obwohl seit einem Jahrzehnt ohne neues Buch, war zugleich, fast zu seinem eigenen Leidwesen, »fast«, ganz und gar kein Vergessener. Ohne auch nur annähernd reich zu sein, litt er an keinerlei Geldmangel. Und von ihr und ihrer erdumspinnenden Legende als Bankfrau und Geldexpertin wußte er bis zu dem ihm durch einen autorisierten Boten an die Gartentür expedierten Ansinnen gar nichts, und das nicht wegen seines etwa abgeschiedenen Daseins in einem Mancha-Dorf (wo gab es das noch, ein freiwillig abgeschiedenes Dasein?).

Und auch er, der Formenforscher und Rhythmenmensch, und sonst eher Gesellschaftsunfähige oder eher -unwillige, alt, wie er zudem fast schon war, spurte auf der Stelle. Er kaufte sich in der einzigen Dorf-Tienda eine Telefonkarte und sagte sich aus der einzigen Dorf-Telefonzelle direkt bei ihr für den folgenden Morgen in der Flußhafenstadt an (bis zum nächsten Flugplatz war es immerhin für ihn eine Halbtagesreise). Treffen hier dann in ihrem Büro unterm Dach: »Ich werde Ihr Buch schreiben. Das Geld war mir seit je eins der größten Geheimnisse. Und ich will endlich hinter dieses Geheimnis kommen. Und außerdem habe ich mir immer schon solch einen Auftrag gewünscht: Kein Werk, sondern eine Lieferung. Eine Bestellung.« Rhythmenmensch? Welcher Art Rhythmen? »Vor allem der Rhythmus des Verstehens, als des umfassendsten der Gefühle, Hand in Hand mit dem Rhythmus des Schweigens und Verschweigens.«

Sie kannte Photographien des Autors von viel früher. Aber sein Gesicht hatte sich wie gar nicht verändert. Nur die Gestalt wirkte kleiner als gedacht, hutzelig, wie vertrocknet, stachlig, wie aus der Meseta-Steppe dahergeweht. Er war ihr dabei auf den ersten Blick vertraut, so wie nur ein Dorfmensch einem anderen Dorfmenschen; vertraut, wie ein Dorfmensch einem anderen Dorfmenschen sein konnte besonders an einem auswärtigen Ort, ob in der nächsten Stadt oder, was immer häufiger vorkam, in einem für sie beide fremden Land: schien es doch, als seien mehr und mehr Dorf- oder Kleinstadtbewohner, gerade solche, inzwischen in der ganzen Welt verstreut, weniger als Touristen denn als ansässig Gewordene, Arbeitende, an den fernsten Orten Verheiratete, die mit den einheimischen Japanern oder Schwarzen gezeugten Kinder durch eine Seitenstraße von Osaka oder Djibouti transportierend.

Der Zustand solcher Vertrautheit hielt freilich nicht an. Der Autor, wie er vor ihr stand ‒ er wollte sich nicht setzen ‒, wurde ihr schnell unheimlich. So unheimlich konnte einem nur jemand werden, den man sofort hatte in die Arme schließen wollen und bei dem man schon im ersten Schritt auf ihn zu gegen unsichtbares Glas stieß.

Auf nichts sonst achtete sie in ihrem Bereich ‒ und wo immer sie sich gerade befand, war ihr Bereich ‒ mehr als auf den Abstand. Der Abstand aber, den dieser Mensch (und sie sah in der Folge: nicht nur zu ihr) einhielt, war eine Art des Vor-den-Kopf-Stoßens. Es gab diejenigen, die zu gleichwelchem Reden sich einem auf Nasenlänge näherten, wie für die Großaufnahme in einem Film. Er dagegen blieb während ihres ganzen Dialogs um gut einen Schritt hinter der üblichen Distanz von Verhandlungspartnern oder miteinander Konferierenden zurück; ging sie unwillkürlich mitten in einem Satz auf ihn zu, wich er schleunigst aus und tat dazu noch, als sei nichts. Auch solche Leute da, genauso wie die sich Bauch an Bauch zu ihr Stellenden, waren Rüpel. Und zugleich: Wenn er einmal ruhig stand, war er da aufgepflanzt in ihrem Office wie auf eigenem Grund und Boden (die Bauern standen längst nicht mehr so), breitbeinig, die Fäuste in den Hüften ‒ fehlte bloß noch, daß er regelrecht in die Grätsche ging wie manche Militärs, die so ihr Terrain markierten. Und zugleich blickte er die ganze Zeit entweder an ihr vorbei oder über sie hinweg zum Dachfensterhimmel, oder starrte sie an oder lächelte unversehens, oder seufzte auf einmal schwer, oder stieß das Fragment eines unbekannten Gesangs aus, oder blieb eine Zeitlang sogar völlig unansprechbar, so daß sie, in der Annahme, er verstehe ihre Sprache nicht (es war dabei doch ihrer beider Sprache?), ins Englische, Französische, Spanische, Russische überwechselte ‒ und erst, wenn er dann offenbar gar nichts mehr verstand, gerade dann!, horchte er wieder auf oder erwachte, und die Vertragsgespräche konnten weitergehen. Friedlich erschien er ihr, und zugleich reizbar, oder umgekehrt. Zu friedlich? Zu reizbar?

Trotzdem hatte sie ihn schließlich mit dem Projekt beauftragt. Noch am selben Morgen war die Liefervereinbarung, von ihr rasch aufgesetzt, wobei er bei der Reinschrift, auf einmal Satz für Satz kräftig und geistesgegenwärtig, eingriff, unterzeichnet und gesetzkräftig. Sie gewann eine Art von Vertrauen zu dem Autor zurück, ein anderes als das auf den ersten Blick, mit dem Moment, da ihr aufging, daß sein ständiges Vergrößern jedes Grundabstands aus einem Schuldgefühl kam. Das ging ihr auf, einmal, indem es ihr Instinkt sah oder roch ‒ alle Artikel sagten ihr nach, sie sei »ganz Instinkt« ‒, und dann, indem sie unvermittelt an dem Mann da ihre eigene Schuld sah und herausroch; große Schuld; unbelangbar aber, solange man im Abstand blieb. Und wie war das bei ihr? Sie schützte sich anders. Und solange sie so geschützt war, konnte keine Rede von Schuld sein, sondern sie hatte ein Geheimnis. Und sie war stolz auf ihr Geheimnis. Sie würde dieses Geheimnis verteidigen um den Preis ihres Lebens.

Der Autor war wohl der richtige. Inzwischen aber ‒ da sie sich nun auf die Geschichte eingelassen hatte ‒ war es, als verlangte ihr Buch noch nach einem anderen, keinem Bankartikelfachmann, einem Dritten. Wie war doch eine Frage des Autors gewesen?: Sollte das Buch mehr dem Mündlichen oder mehr dem Schriftlichen folgen? Für ihn gelte die Mündlichkeit als der Grund- oder eher Untergrundzug, und zudem als die Gegenprobe. Die Schriftlichkeit jedoch sei der wesentliche Zusatz der Erzählung, sei deren Bereicherung ‒ die Bereicherung.

Umkreisen des Hauses im vormorgendlichen Garten, bei anhaltendem Mondschein. Eins der immer häufigeren Flugzeuge vorbeiziehend am Mond, der Mondlichtschatten quer durch den Garten zwinkernd, so anders als Flugzeug- oder Vogelschatten in der Sonne; eulenhaft. Die von den Bodenwürmern vor dem Frost aufgeworfenen abertausend Erdhäufchen, tiefgefroren, bei jedem Schritt ein Anstoß unter den Sohlen. Sie war neu in Yucatán und stieg dort vor Sonnenaufgang die Stufen des Mayatempels hinauf.

Aus dem dichtverflochtenen, frostverkrümmten und verzahnten Efeulaub über der Mauer am Ende des Gartens schnellten und spritzten im Bogen die kleinen, braunschwarzen, blaubehauchten Fruchtkugeln, jetzt zu Winteranfang reif geworden, und sie hörte im Innern der Hecke ein Picken, Schnäbeln und Schmatzen. Der Isonzo strömte, dort wo er noch nicht trüb war von den Zementwerken, flußab über weiße Kiesel, die auch die Ufer bildeten, vergessen die Million der Toten (nein, nicht vergessen). Die Amsel, frühester Tagesvogel?, schoß aus dem Busch, wie immer fast den Boden streifend, und wie immer mit angelegten Flügeln die Kurve kratzend und durch die längst vorgesehene Fluchtlücke mit Gezeter hinaus ins Freie tauchend.

Sie hielt inne. Die Straße der Kesselschmiede in Kairo hallte wider; Rauch und Metallstaub stoben aus den zur Straße offenen Werkstätten, und sie sah und roch die Schwaden jetzt ungleich eindringlicher und nachhaltiger als an dem Tag, da sie dort, obwohl ganz Auge und Ohr, durchgegangen war.

Solche Bilder kamen ihr täglich, vor allem morgendlich. Sie lebte von ihnen, bezog aus ihnen ihr stärkstes Daseinsgefühl. Es waren keine Erinnerungen, weder willkürliche noch unwillkürliche: dazu kamen diese Bilder zu blitzartig oder meteoritenhaft, und ließen sich weder verlangsamen noch anhalten noch gar einfangen. Wollte man sie stoppen und in Ruhe betrachten, so waren sie längst zerstoben, und mit solchem Eingriff zerstörte man sich im nachhinein auch noch die Wirkung des so jäh verschwundenen wie jäh erschienenen und einen durchkreuzenden Bruchsekundenbilds.

Wie wirkten die Bilder? Sie erhöhten ihr den Tag. Sie bekräftigten ihr die Gegenwart. Sie lebte von ihnen: das hieß auch, sie benutzte und nutzte sie. Sie verwendete sie sogar für ihre Arbeit; ihre Unternehmungen; ihre Geschäfte. Wenn sie so, beinahe sagenhaft (»legendär«, laut den Artikeln), bei der jeweiligen Sache sein konnte, mit einer »zauberischen Geistesgegenwart im entscheidenden Moment«, sämtliche Zahlen und Daten nicht nur im Kopf, sondern mit ihnen dem Partner oder Widerpart »ein wahres Hexeneinmaleins hinblätternd«, dann verdankte sie das ‒ noch keinem Interviewer hatte sie es verraten, mit was für Worten auch? ‒ dem Eingriff ihrer Bilder in ihren Arbeitstag.

Demnach waren diese doch dem Willen unterworfen und nach Belieben und/oder Bedarf abzurufen? Nein. Sie blieben unvorhersehbar. Aber im Lauf der Zeit hatte sie die eine oder andere Methode entdeckt, mit deren Hilfe ihre »Reservearmee« zu aktivieren war. Es handelte sich dabei nicht um Methoden und schon gar nicht Tricks, vielmehr um bestimmte Grundhaltungen und eine ganze Lebensweise.

Ja, sie hatte ihr Leben, und nicht nur ihren Beruf und ihre »Finanzfürstin«-Existenz, ausgerichtet auf solcherart Bildeinschießen. Welche Grundeinstellungen und Verhaltensweisen waren dazu beispielsweise besonders fruchtbar? Sie, die, von Natur oder von Berufs wegen?, wenig Scheu kannte, hatte Scheu, darüber zu reden, konnte dann aber einiges andeuten: eine gewisse Sorgsamkeit in den alltäglichen Handhabungen; Umwegsbereitschaft; Momente der Abwesenheit in Gegenwart anderer nicht etwa bekämpfen, sondern sich ihnen im Gegenteil überlassen; körperliche ‒ nicht sportliche, sondern am besten handwerkliche ‒ Anstrengung über längere Zeit und im Gleichmaß, bis an den Rand der Erschöpfung, wo es dann, vielleicht, zum Bilderglühen kommt … (statt eines Gymnastikraums hatte sie eine Werkstatt in ihrem Haus).

So wie sie von dem Bildwerden lebte, in jedem Sinn, so lebte sie für es. Und ihre Reservetruppe ‒ »dieses Wort nie mehr verwenden!« bedeutete sie dem Autor ‒ benutzte sie ganz und gar nicht zu gleichwelchem Kriegführen. Ein einziges solches sich und sie aktivierendes Bild am Tag, und der bekam sein Friedensmuster. Diese Bilder, obwohl durchwegs menschenleer und ereignislos, handelten von der, einer, einer Art Liebe. Und sie hatten sie schon von Kind an durchwirkt, an manchen Tagen weniger, an manchen Tagen als ganze Sternschnuppenschwärme ‒ immer als zuvor tatsächlich, im Vorbeigehen, Erlebtes ‒, an manchem Tag ausbleibend: Un-Tag. Und sie war überzeugt, daß das jedem mehr oder weniger so zustieß. Wohl gehörte das jeweilige Bildobjekt zu eines jeden persönlicher Welt. Aber das Bild, als Bild, war universell. Es ging über ihn, sie, es hinaus. Kraft des offenen und öffnenden Bildes gehörten die Leute zusammen. Und die Bilder waren zwanglos, anders als jede Religion oder irdische Heilslehre. Nur hatte noch niemand so recht von solcherart Bildern erzählen können? Es auch nicht so weltbedeutend wie sie gefunden? Es auch nicht gewagt? (Sie schon gar nicht?)

So scheu, oder bescheiden, war sie in Wahrheit auch bei diesem, ihrem Herzensthema, nicht. Im Lauf der Jahre hatte es sie immer wieder gedrängt, ihre zumindest merk- und denkwürdigen Erfahrungen mit den Bilderfunken oder Funkenbildern zu verbreiten. Gab es das bei einer Frau, nicht nur im Mittelalter, sondern in der Jetztzeit: eine Art von Sendungsbewußtsein? Ständig stärker wurde der Gedanke: sie mußte heraus damit. Und zuletzt hatte es ihr buchstäblich vor Augen gestanden: Jetzt oder nie. Das Phänomen war endlich mitzuteilen, der Welt! Und seltsam ‒ als gehörte das zu ihrer Sendung ‒: bald würde es dafür zu spät sein, nicht bloß für sie, sondern wiederum weltweit. Die Bilder waren am Aussterben, überall unter dem Himmel. Sie hatte sich dem einen oder dem anderen Autor anzuvertrauen, ihm ‒ nein, nicht etwa alles haarklein aufzutischen, sondern dies und jenes anzudeuten, und er sollte frei von dem Problem erzählen. Denn es handelte sich für sie um ein Problem, ein epochales, ein zukunftsentscheidendes, ein endlich fruchtbar zu machendes, vor allem aber ein schönes. Und ein schönes Problem, war das nicht das Ideal für eine Expedition, und so auch eine erzählerische?

Der Missionsdrang war etwas Neues an ihr. Es gab welche, die meinten, er komme aus ihrem Erfolg, welcher schon seit längerem beständig, nicht mehr zu überbieten und, vor allem, ungefährdet war: Missionarstum aus maßlosem Erfolg im Verein mit Gefahrlosigkeit. Andere dagegen fanden die Ursache in ihrem freiwilligen stolzen Alleinsein. Und wieder welche, so zum Beispiel der zuletzt mit der Geschichte beauftragte Autor, vermuteten oder »hatten die Eingebung«, ihr »Rittertum« wolle eine »furchtbare Schuld« umschreiben ‒ unversehens hatte er so bei ihrem ersten Gespräch den Spieß gleichsam umgedreht. »Und von diesem Umschreiben erwarten Sie sich eine Art von Entsühnung?« Keine Antwort.

In der Tat, auch wenn das nicht ihre spezifische Schuld war, hatte sie mit ihrem Bild-Einwirkenlassen im All- und Arbeitstag schon viele Leute getäuscht. Das war kaum je Absicht gewesen. Die Bilder kamen ja nie auf Befehl, sondern, wenn überhaupt, unwillkürlich. Sooft so ein Bild dann aber in sie einschoß, ging von ihr, in der Gesellschaft des Bildes, ein zusätzliches und augenblicks raumfüllendes Strahlen aus. Ihr Gegenüber, der oder die, welche gerade ihre Gesellschaft darstellten, konnten dann gar nicht anders, als dieses Strahlen auf sich zu beziehen. Im Geschäftsbereich fühlten sie sich dann auf der Stelle durchschaut, verloren jeden Hintergedanken und ließen sich ganz auf sie als Partnerin und Kontrahentin ein; folgten ihr, geradezu in dem Sinn von: gehorchten ihr.

Und in der Regel war das auch nie zu des oder der anderen Nachteil ‒ fast immer gewannen sie beide. Die Bild-Wirkung war keine Illusion! Ging es ausnahmsweise schlecht aus, so auch wiederum für sie beide. Es kam dann vor, daß so ein vermeintlich Getäuschter ihr handgreiflich auf den Leib rücken wollte (sie wurde im Geschäft nicht als »Frau« wahrgenommen): und da nun griffen jene Bilder auf die vielleicht merkwürdigste Weise ein in das Geschehen: Angesichts der Bedrohung ‒ nicht bloß einmal auch mit einer Waffe ‒ stellte sich so unvermittelt wie gesetzmäßig ein Bild ein, jeweils nur ein einzelnes, welches dafür aber so stark war, daß es ein Strahlschild zwischen sie und den Angreifer projizierte. Da, ein leerer Sandspielplatz neben einem Kanal von Gent, und der Feind war kein Feind mehr. Da, das Bibliothekshäuschen an der Stadtmauer von Ávila, mit Blick durch die Fenster auf die Vorberge der Sierra de Gredos, und die Angegriffene wurde dem Angreifer unantastbar.

Nicht wenige Schäden, sogar Zerstörungen und Verheerungen, richteten die Bilder, so wurde allgemein erzählt, aber an im privaten Leben. Dort nämlich gaukelten sie, hieß es, gewaltig. Das Strahlen, oder der Glanz, der, mit ihnen zusammen, von ihr, der Frau, ausging, konnte in den Augen des oft zufälligen Gegenüber nur Huld ‒ nein, Versprechen, Bereitschaft, Hingabe sein. Nichts Helleres, Offeneres, Nackteres als das Gesicht dieser mir unversehens zugewandten Fremden in seinem jedes Frauenlächeln übersteigenden Glanz. Begehren, Liebe, Barmherzigkeit: all das in einem. Dann freilich der Rückprall. Der Glanz jedoch blieb. Und das war es, das uns getäuschte Liebhaber entweder zu Rasenden oder zu Kümmerern oder zu beidem machte. Und da Gewalt bei ihr, der Frau!, nicht in Frage kam, mußten Schmähen und Lästern her. »Du hast dein Versprechen nicht gehalten.« ‒ »Du hast mich betrogen.« ‒ »Du führst jeden hinters Licht.« ‒ »Sie ist die Leere und Kälte in Person.« ‒ »Sphinx, die uns mit leuchtenden Augen in den Abgrund fallen sieht.«

Vielleicht liebte sie aber tatsächlich niemanden und nichts? War allein verliebt oder verschossen in das Rätsel jenes einen aus dem Nichts daherschweifenden Bildes, in dem sie jeweils ganz Gegenwart wurde, das sie endgültig ‒ war sie nicht darauf aus? ‒ zu einer Art Königin der Jetztzeit krönte? Und war es denn diesem und jener zu verdenken, daß er oder sie, von ihr im Moment so eines Bilds an der Hand berührt, über die Stirn gestreichelt, am Haarschopf gepackt, mit der Hüfte angeschubst oder gar angeblasen (nicht bloß behaucht), der Frau, die so liebevoll mit ihnen war, verkörperte Verheißung, und sie dann einen Moment später stehen- oder sitzenließ, Treulosigkeit und noch viel Ärgeres nachsagten? Liebe: davon wollte sie jedenfalls nichts hören. Und auch von Freundschaft nicht. Und das war schon seit jeher so gewesen?

Andererseits aber wünschte und wollte sie, daß ihre und unsere Geschichte jetzt in einer Zwischenzeit spielte ‒ in einer Zwischenzeit, da es noch und wieder Überraschungen gab. »In den Haupt- und Staatszeiten, da diese Geschichte nicht spielen soll« ‒ erklärte sie, »ereignen sich bekanntlich ja keinerlei schöne Überraschungen mehr.«