Peter Handke

In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus

Roman

Suhrkamp Verlag

Diese Erzählung hat zwar mit dem Ort Taxham bei Salzburg einiges zu tun, wenig oder nichts aber mit gleichwelchem Apotheker oder Zeitgenossen dort.

1

Zur Zeit, da diese Geschichte spielt, war Taxham fast vergessen. Die meisten Bewohner der nahen Stadt Salzburg hätten nicht sagen können, wo der Ort lag. Vielen klang schon der Name fremd. Taxham? Birmingham? Nottingham? In der Tat hatte der erste Fußballklub nach dem Krieg »Taxham Forrest« geheißen, bis er nach dem Aufstieg aus der untersten Klasse umgetauft wurde, nach weiteren Aufstiegen im Lauf der Jahre sogar in »FC Salzburg« (inzwischen könnte er wieder rückbenannt werden). Zwar sahen die Leute in der Stadtmitte gar nicht selten Busse mit dem Stirnschild TAXHAM an sich vorbeifahren, weder voller noch leerer als die sonstigen Busse, aber kaum einer der Städter hatte je einmal selber dort drin gesessen.

Anders als die alten Dörfer im Salzburger Umkreis war Taxham, die Neugründung aus dem Nachkrieg, zu keiner Zeit ein Ausflugsziel. Kein Gasthaus hat da gelockt, keine Sehenswürdigkeit, auch keine abschreckende. Trotz des Schlosses Kleßheim, Spielcasino und Staatsempfangshaus, unmittelbar hinter den Wiesen, war Taxham, nicht Stadtteil, nicht Vorstadt, nicht Bauernland, im Gegensatz zu sämtlichen Orten der Gegend ausgespart von jedem Besuch, aus der Nähe genauso wie aus gleichwelcher Ferne.

Niemand schaute da auch nur kurz vorbei, geschweige denn blieb über Nacht. Denn in Taxham gab es, wieder eine Besonderheit für Salzburg, Stadt oder Land, nie ein Hotel, und als »Fremdenzimmer« diesem Wort entsprechende Nischen, Ausweichstellen, letzte Unterschlüpfe, wenn überall sonst nur noch »belegt« stand. Nicht einmal TAXHAM, der Name, der dabei doch, als Leuchtspur vorn an den Bussen, bis spätnachts durch das dann schon dunklere, stillere Zentrum kurvte und spukte, schien im Lauf der Jahre jemand hinaus an den Ort gelockt zu haben. Gleichwer, selbst der sonst noch so Welt- und insbesondere Allerweltoffene, sagte, zu Taxham befragt: »Nein«, oder es kam ein Achselzucken.

Wohl die einzigen Fremden, die mehr als einmal dorthin gingen, waren ich und mein Freund Andreas Loser, Lehrer für alte Sprachen und selbsternannter Schwellenkundler. Damals bei meinem ersten Besuch in Taxham kehrte ich dann an der Zentralstraße namens »Kleßheimer Allee« (von Schloß und Allee keine Spur) ein in eine Barackenbar, wo ein Mann stundenlang wiederholte, wie er darauf brenne, endlich jemanden zu töten: »Es muß sein!« Und Andreas Loser war es, der an einem Winterabend im fast leeren Salzburger Flugplatzrestaurant (zu jener Zeit fast größer als die Empfangshalle) mir zuflüsterte: »Schau, dort drüben sitzt der Apotheker von Taxham!«

Mein Freund Loser ging inzwischen wer-weiß-wohin. Und ich bin schon sehr lange weg von Salzburg. Und der Apotheker von Taxham, mit dem wir damals dann nicht selten zusammenkamen, hatte zur Zeit, da diese Geschichte spielt, fast ebenso lange nichts mehr von sich hören lassen ‒ ob das nun seine Art war oder nicht.

Daß Taxham so unzugänglich erschien, kam aus seiner Lage, und hatte die Siedlung auch sich selber zuzuschreiben.

Was gleichwelchen Orten heute mehr und mehr zustößt, das kennzeichnete es von Anfang an: abgetrennt oder zumindest schwer erreichbar zu sein von seiner Umgebung und von den Nachbarorten durch alle nur möglichen Verkehrslinien, insbesondere in die Ferne; zu Fuß wie zu Rad unüberwindlich. Im Gegensatz zu den Ortschaften jetzt, erst mit der Zeit in solch eine Zwickelwelt gezwängt, abgeschnitten und eingeengt von den allseits sich mehrenden Tangenten, war Taxham gleich schon innerhalb solcher Barrieren entstanden. Obwohl in einer großen Flußebene gelegen und an der Schwelle einer Großstadt, hatte es so etwas von einer Lager- und Kasernensiedlung, und es gab auch tatsächlich in seinem unmittelbaren Umland, die deutsche Grenze ganz nah, sogar drei Militärkasernen, eine davon im eigenen Bereich. Die Fernzuglinie Richtung München und darüber hinaus, als die eine der Schranken vor Taxham, bestand schon weit länger als dieses, und auch die Autobahn war ja bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut, als Reichsautobahn (noch Jahrzehnte nachher trug der Reichsadler, eingemeißelt mit dem Entstehungsdatum neben die tunnelschmale Unterführung, in den Klauen das Hakenkreuz), und ebenso erschwerte der schon während der ersten österreichischen Republik errichtete Flughafen den Zugang zu dem Gelände des späteren Orts von vornherein.

Hineingebaut in dieses Transportliniendreieck, zu erreichen fast nur auf weitkurvigen, umständlichen Wegen und durch Unterführungen, erschien Taxham nicht nur auf den ersten Blick als eine Enklave.

Enklave wovon? Wozu gehörig? Es war wohl, entschieden augenfälliger als sonstwo bei Salzburg, eine Kolonie von Kriegsflüchtlingen, Vertriebenen, Aussiedlern. Jedenfalls war der Apotheker so einer, Angehöriger einer Familie, die im Osten, schon unter der Habsburger Monarchie, dann in der tschechoslowakischen Republik, dann unter der deutschen Besatzung, eine Arzneimittelfabrik betrieben hatte. Näheres dazu wollte ich von ihm für seine Geschichte hier nicht wissen, worauf er sagte: »Gut so! In der Schwebe lassen!«

Und solche Neuankömmlinge hatten nach dem Krieg in dem Zwickel aus Fernzuggleisen, Autobahn und Flugfeld, in dem Rest Bauernland dort, eben des Bauernguts mit Hausnamen »Taxham« ‒ längst dahin ‒, sich nicht nur niedergelassen, sondern noch zusätzlich abgeschirmt und verschanzt.

Nach Überwindung der äußeren Zugangshindernisse zeigte sich etwas wie ein zweiter Sperrgürtel, kein vorgegebener, sondern ein Eigenbau. Ob hinter dem Bahndamm oder hinter dem Rollfeldzaun: Ganz Taxham erschien danach ein zweites Mal, in seinem inneren Kreis, von Dämmen umgeben, und vor allem eingezäunt, wenn nicht mit Draht, so doch von baumhohen, dichtverzahnten Hartholzhecken, über die fast nur der Quaderturm der einen, der katholischen, Nachkriegskirche herausschaute (der protestantische blieb aus dem Abstand unsichtbar).

Die Landstreifen zwischen den beiden Abschirmsystemen, dem fremdbestimmten äußeren und dem selbstangefügten inneren, dienten entweder als Fußballplatz, Spazierwiese oder struppiges Feld, wo von dem alljährlich für ein paar Tage gastierenden Zirkus im Leeren der fahle Kreis der Arena markiert blieb, und hatten so im ganzen etwas von einer Bastei.

Und in einer anderen Weise war Taxham schon vor einem halben Jahrhundert, wenn auch in einem weit kleineren Maßstab, ein Vorläufer sehr vieler der heutigen Neuansiedlungen, »Neustädte« geheißen: Schwierig, da hineinzufinden, und noch schwieriger, ob zu Fuß oder mit dem Auto, da wieder hinaus. Fast alle Wege, die das verheißen, biegen dann ab und leiten um den Block oder zwischen den Kleinhausgärten zurück an den Ausgangspunkt. Oder sie enden vor wieder so einer undurchdringlichen Hecke, durch die das freie Feld, und was sonst noch weiterführt, gerade nur durchschimmert, mochte die Siedlungsstraße auch nach Magellan oder Porsche benannt sein.

Wirklich tragen ja die meisten Straßen (oder eher Zufahrtswege) des Buschheckenortes Taxham, wegen des angrenzenden Airports, die Namen von Flugpionieren wie »Graf Zeppelin«, »Otto von Lilienthal«, »Marcel Rebard«, den Einwanderern nach dem Krieg wohl eher ungefragt aufgezwungen ‒ sie selber hätten »Gottscheer-« und »Siebenbürgerstraße« wahrscheinlich vorgezogen, aber wer weiß?; der einzige Fliegerstraßenname, der zu ihnen paßte, wäre, so einmal mein Freund Andreas Loser, der nach »Nungesser und Coli« gewesen, jenen zwei auf dem versuchten Erstflug von Europa nach Amerika über dem Atlantik Verschollenen, und das gleich nach dem Verlassen des Festlands.

Und noch in einer dritten Sache war Taxham einer zeitgenössischen Erscheinung seit seinen Anfängen sozusagen voraus: Wie es heutzutage wohl mehr und mehr üblich wird, nicht an den Orten zu wohnen, wo man arbeitet und beschäftigt ist, so war es unter den in der Zwickel- und Heckenkolonie Berufstätigen schon seit damals vor fünfzig Jahren die Regel, die Wohnung oder Behausung woanders zu haben ‒ nicht weit weg von Taxham, aber jedenfalls nicht im Ort. Selbst Kaufmann und Gastwirt kamen nur tagsüber, für das Geschäft. Sogar einer der für die Siedlung bestellten Priester, mir gut bekannt, fuhr dorthin nur zum Messelesen und lebte sonst in der Stadt, wo er ziellos herumzog (er soll inzwischen sein Amt längst aufgegeben haben).

Auch der Apotheker hatte sein Haus außerhalb von Taxham, bei einem der Bauerndörfer, nah dem Grenzfluß Saalach, kurz bevor die in die Salzach fließt, in dem dort natürlichen Zwickel oder »Spitz«.

Dabei hing er an seinem Arbeitsort. Sein Leben verlief in dem Dreieck zwischen dem Haus am Flußdamm, der Apotheke und dem Flughafen, wo er damals, als wir uns begegneten ‒ seine Geschichte spielt zu einer ganz anderen Zeit ‒, regelmäßig zu Abend aß, einmal mit seiner Frau, einmal mit seiner Geliebten.

Die Apotheke, gegründet von seinem um vieles älteren Bruder, war nach dem Krieg der erste Gewerbebetrieb in der Neu- und Notsiedlung Taxham gewesen, oder überhaupt die erste öffentliche, der Allgemeinheit zugängliche Einrichtung, vor der Schule, den beiden Kirchen und sogar vor jedem Laden. Nicht einmal eine Bäckerei gab es davor (Brot war zunächst im ursprünglichen Bauernhof zu kaufen). Für eine gar nicht so kleine Weile war die Apotheke der einzige »Dienstleistungsplatz« für die Nachkriegszuzügler, zuerst, so mein Bekannter, bespöttelt als Medizinhäuschen im Niemandsland, dann allmählich das vorläufige Gemeindezentrum.

Etwas davon war auch Jahrzehnte danach noch herauszuspüren: Obwohl inzwischen, jeder Anschein von Landwirtschaft verschwunden, in Gesellschaft, eher flankiert von den Kirchtürmen und Supermärkten, ließ die Taxhamer Apotheke weiterhin eine Ortsmitte ‒ weniger sehen als imaginieren.

Das kam jedoch ganz und gar nicht von dem Bauwerk. Dieses hatte den Anschein eines kleinen Kiosks, passend für einen Tabak- und Zeitungsverkauf. Und auch drinnen weder die dunkle, ausgeklügelte, wohlplazierte, wie museale Pracht so vieler älterer Apotheken noch die helle, bunte Vielgestaltigkeit ‒ wo bin ich hier? in einem Solarium? einer Parfümerie? einer Strandbude? ‒ so mancher neuerer oder jüngerer. Fast abschreckend farb- und schmucklos sah es darin aus, keine einzelne Sache, ob Medikament oder Zahnpaste, eigens hervorgehoben, und alles das hinter ziemlich massiven und plumpen Barrieren und Vitrinen in einen Abstand gerückt, als handle es sich nicht um Waren, um nichts Verkäufliches, sondern um ein den Unbefugten verbotenes Arsenal, bewacht von zwei, drei Weißgekleideten davor. Nicht einmal jene besondere Schwelle beim Eingang gab es, wie sie doch, laut Andreas Loser, sonst für die Apotheken fast der ganzen Welt so bezeichnend seien, keine Erhabenheit, kein Stolperstein, vielmehr Zeichnungen, Ornamente, Muster, reicher als bei Hauseingängen, und bei Apotheken oft auch, tiefer sogar als bei Kirchen, gemuldet ‒ mir nichts, dir nichts, ohne Schwelle war man in dem Arzneilager.

»Zum Adler«, das war der Name der Apotheke von Taxham, so genannt von dem längst westwärts, nach Murnau in Bayern, weitergezogenen und dort samt Töchtern, Söhnen und Enkeln in der »Apotheke zum Roten Eber« niedergelassenen Gründerbruder. Aber sie hätte, wie auch der Nachfolger meinte, mit ihrem Aussehen zwischen Kiosk und Elektrohäuschen besser »Zum Hasen« oder »Zum Igel« geheißen, oder, wäre es nach ihm gegangen, nach der Landschaft der Vorfahren, »Tatra-Apotheke«.

Nein, was das Flachding von den anderen, selbst für Taxham ungleich repräsentativeren, abhob, war seine Lage dort in dem indessen fast so dicht wie eine Stadt bebauten Ortszentrum: inmitten eines für die Mauerhütte unverhältnismäßig großen Rasen-, fast Wiesenstücks, schütter bewachsen mit niedrigen, dabei alten Bäumen und ebensolchem Gesträuch, wie das Überbleibsel einer einstigen Steppe. »Manchmal am Morgen, wenn ich zum Dienst gehe, sehe ich den Rauch dort aus der Kate steigen«, sagte der Apotheker, in seiner nicht gerade reinösterreichischen Redeweise.

Er hing auch an den Wegen hin und zurück, vom Flußhaus zu seinem Hinterheckenladen, von diesem am Abend entlang dem Rollfeldzaun hinüber zum Flughafen, undsoweiter (bis es eines Tages aus war mit dem Undsoweiter). Er ging entweder zu Fuß, oder fuhr mit einem seiner großen Wagen ‒ immer das neueste Modell ‒, aber auch, wie es kam, mit einem Rad, schwarz, schwer, Marke »Flying Dutchman«, sehr aufrecht, und ein paarmal ist er mir auf Feldwegen mit einem Moped begegnet, schlammbespritzt, zugleich seltsam besinnlich, als kehre er da heim von einer wilden Jagd (und einmal landete er im Traum vor der Apotheke mit seinem Privatzeppelin, seilte sich davon ab ins Steppengras).

Selbstredend, daß die Leute von Taxham, bevor sie einen Arzt aufsuchten, vielleicht auch in der Hoffnung, sich den so zu ersparen, zu ihm kamen. Weniger geläufig aber, daß sie ihn in der Regel selbst danach um Rat und Hilfe baten. »Die Ärzte sind mehr und mehr Spezialisten geworden. Und manchmal bilde ich mir ein, den Überblick zu haben, der ihnen inzwischen fehlt. Und außerdem brauchen die Patienten von mir keine Überweisung und keinen Eingriff zu fürchten. Und mitunter kann ich ihnen auch wirklich helfen.«

Das konnte geschehen, und geschah vor allem, indem er ihnen Medikamente strich, statt welche hinzuzufügen oder durch andre zu ersetzen ‒ nicht alle auf der Rezeptliste, doch das eine und das andere. »Meine Arbeit ist vordringlich ein Aussondern und Ausscheiden. Ein Luftschaffen, nicht in den Regalen, sondern in den Körpern. Ein Luftmachen und Flußbahnen. Und selbstverständlich, meine Herren, ist bei mir, wenn Sie darauf bestehen, alles vorrätig.« (Nachts hatte der Kiosk dort, vergittert, verriegelt, verbarrikadiert, etwas von einem Bunker, »den man schon sprengen müßte, um hineinzukommen«.)

Und tatsächlich gab es in dem Ort nicht wenige, denen er so helfen konnte ‒ »auch weil sie sich so helfen ließen«. Und indem sein Ruf über den Ort nicht hinausdrang, »Gott bewahre«, war zugleich klar, daß der Apotheker von Taxham dabei ganz und gar kein Wunderheiler war.

Die Ortsansässigen, kaum waren sie zu seiner Tür hinaus, vergaßen auf der Stelle ihre Dankbarkeit, und damit auch ihn. Anders als der und jene Taxhamer praktische Arzt, Kaufmann und Fußballer war er auf den Straßen und in den paar Lokalen keine öffentliche Figur. Ob so oder so: Niemand sprach über ihn, empfahl ihn weiter, sang sein Loblied, machte sich, wie doch so anders in den alten Lustspielen, über den Apotheker lustig. Wer ihm draußen, außerhalb seines Kompetenzbereichs, begegnete, der übersah ihn entweder, und zwar ohne Absicht, oder erkannte ihn, und mochte er ihm vor ein paar Augenblicken noch drinnen an der »Theke« dankbar die Hand geschüttelt haben, nicht wieder.

Das kam nicht bloß daher, daß der Apotheker im Freien wo möglich nie mit seinem weißen Kittel ging, sondern in Hut und Anzug, samt Stecktuch, und zwischen den, in Taxham ohnehin seltenen, Passanten hindurchschaute, die Augen »wie von Kindesbeinen an gerichtet auf Baumkronen-, Ähren- und Regentropfen-in-Wegstaub-Höhe und damit, nach Kinderglauben, unsichtbar«. Und es muß auch gesagt werden, daß ebenso er selber, kaum am Abend zu seinem Bunker hinaus, unter den Leuten draußen nie einen als seine Kundschaft, Klientele oder Patienten wiedererkannte ‒ höchstens als den Herrn und die Frau Soundso. Anders als ein Arzt, der beim Verlassen seiner Praxis immer noch »der Arzt« blieb, hörte der Apotheker von Taxham, sowie er seinen Kiosk abschloß, auf, Apotheker zu sein.

Wer oder was war er dann? Ich habe einmal Kinder auf ihn zulaufen sehen. Und während sonst Kinder doch, die auf fremde Erwachsene zulaufen, vor ihnen in der Regel ihren Lauf beschleunigen, wurden diese Kinder dort auf der Höhe des Mannes langsamer und schauten zu ihm auf, von ihm weg, zu ihm auf.

Zur Zeit, da die Geschichte spielt, war es Sommer. Die Wiesen um den Flughafen und um die Heckensiedlung dahinter waren schon einmal gemäht worden, und das Gras stand inzwischen wieder hoch, zu verwechseln von weitem mit dem Getreide, das es in der Gegend kaum mehr gab, anders als das Frühjahrsgras auch fast ohne Blumen, das Grün je nach dem Wind mit Schneisen von Grau, oder umgekehrt.

Es war außerdem die Periode im Jahr fast ohne Früchte, die Kirschen schon geerntet oder von den Vögeln, besonders den Raben, geplündert, und die Äpfel längst noch nicht reif, bis auf die weißen Frühäpfel, solche Bäume freilich mehr denn je eine Seltenheit.

In der Stadt, im Osten, waren bereits die Festspiele im Gang, aber wenn selbst die hintersten Alpentäler, jenseits der Pässe, Tunnels, Flußengen, sogar Grenzen, noch etwas davon abbekamen ‒ das nahe Taxham blieb ausgespart, jene Litfaßsäule draußen am Wiesen- und Heckenrand wie das ganze Jahr über höchstens halb beklebt, ihre der Rollbahn und dem Tower zugekehrte Rundung wie seit je leer.

Für die Strecke südlich von Taxham war von dem ansässigen Wahrsager, wie er zu solchen Orten zu gehören scheint, am Anfang des Jahres ein sommerliches Erdbeben angekündigt worden, und dieses hatte auch tatsächlich gerade stattgefunden, in der Nähe von Kapstadt. Und ebenso sollte westlich von T., wieder laut Wahrsager, noch vor dem Ende des Sommers ein Krieg ausbrechen, ein Dreitagekrieg, aber mit unendlichen Folgen!

Er stand wie üblich früh auf, »mit den ersten Rabenschreien«. Seine Frau schlief noch, im anderen Teil des Hauses. Sie wohnten zusammen und zugleich seit über einem Jahrzehnt getrennt, ein jeder im eigenen Bereich; beim anderen jeweils anklopfend; selbst in den gemeinsamen Räumen, dem Eingang, dem Keller, dem Garten, gab es unsichtbare und sichtbare Trennwände, und wo das schwer möglich war ‒ wie in der Küche ‒, hausten sie in Zeitverschiebung, so wie sie überhaupt, seit sie sich voneinander losgesagt hatten und auf ihre Weise auseinandergegangen waren, den Alltag grundsätzlich zeitverschoben lebten ‒ auch wenn die Frau seinerzeit ganz natürlich zugleich mit ihm aufgestanden war und sich jetzt zum Liegenbleiben vielleicht eher zwingen mußte? Und sich zum Im-Haus-Bleiben zwang, so wie er in den Garten ging? Und in den Garten, so wie er im Haus war? Und in den für morgen geplanten Alleinurlaub, weil er, wie seit langem nun jedes Jahr, Haus und Garten den Sommer über für sich haben wollte?

»Nein«, sagte der Apotheker. »Wir haben keine Probleme miteinander. Unser Leben ist erst so vollkommen friedlich. Diese Ordnung hat sich ohne Zutun ergeben, und wir merken sie auch gar nicht, höchstens als eine uns davor unbekannte Art von Harmonie, aus der heraus wir für Momente, im Vorübergehen, Gemeinsamkeiten erleben, etwas gemeinsam haben können.«

»Ja, im Vorübergehen«, sagte seine Frau. »Zwischen Tür und Angel. Zwischen Fenster und Gartenstuhl. Zwischen Baumkrone und Kellerluke.«

»Zum Beispiel?« fragte ich.

Die Antwort, einmal von ihr, einmal von ihm: »Immer stumm. ‒ Im gemeinsamen Zuhören, was nebenan die Nachbarn reden. ‒ Oder die Leute, die hinter dem Zaun oben auf dem Flußdamm gehen. ‒ Vor allem, wenn irgendwo ein Kind weint. ‒ Wenn eine Ambulanzsirene heult. ‒ Wenn in der Nacht jeder von seinem Zimmer aus in den Gebirgswänden dort jenseits der Grenze das Notsignal blinken sieht. ‒ Als im letzten Frühjahr bei Hochwasser die ertrunkene Kuh flußabwärts trieb. ‒ Beim ersten Schnee. ‒ Ja? Naja. Ich weiß nicht.«

Die Sonne ging auf. Im Garten nach der warmen trockenen Nacht kein Tautropfen. Dafür ein Blinken im Apfelbaum: ein Harzknollen, ausgeschwitzt aus einem Stengel dort, jetzt durchschienen von einem ersten Strahl, die allerwinzigste Lampe. Die Schwalben hoch im Himmel dabei tiefdunkel, wie noch in der Dämmerung. Nur wo eine im Kurven die Flügel kurz senkrecht stellte, auch dort oben jeweils ein Aufleuchten, von der Sonne an dem Gefieder; es war, als spielte der Vogel so mit dem Morgenlicht.

Er gab einem der schon dicken Äpfel, der vor ihm in Stirnhöhe hing, einen Kopfstoß, wie einem Ball, nur sachter; ging dann draußen auf dem Damm flußauf und ließ sich von dem Morgen- und Gebirgswasserwind anwehen. Niemand sonst war unterwegs, die Geröllbänke der Saalach nahmen, wie immer im Sommer, mehr Platz ein als Uferland und Gerinne und streckten sich weit, hell und leer gleichsam bis in den Quellhorizont fern zwischen den Kalkbergen.

Der Apotheker dachte an seine Toten. Dabei kam ihm sein Sohn in den Sinn. Aber der war doch gar nicht tot? Nein, er hatte ihn verstoßen. War das nicht ein zu starkes Wort? Hatte er ihn nicht bloß einfach aufgegeben, aus dem Blick verloren, abgetan, vergessen? »Nein, ich habe ihn verstoßen«, sagte er. »Ich habe mein Kind verstoßen.«

Er schwamm in dem bis auf die Knochen kalten Fluß, erst gegen die starken Wellen, und ließ sich dann treiben, ziemlich genau in der Flußgrenze, wo auch die Grenze zu Deutschland verlief. Ungeheuer schnell, wie im Galopp, zogen die Uferbüsche vorbei. Er tauchte mit dem Kopf so tief unters Wasser, daß ihm die kleinen Kiesel, am Flußgrund treibend, in die Ohrmuschel gerieten, wo sie eine schöne Zeitlang aufeinanderschlugen, knirschten und klirrten. Es war ihm, als könne er immer so unter Wasser bleiben, ohne zu atmen, und das wäre ab jetzt sein Leben.

Fast zwang der Apotheker sich dann, zum Ufer abzubiegen, kurz vor der Steilstufe unten. Ein Frühflugzeug landete, schon tief, über den Baumkronen, und er bemerkte hinter einem der Bordfenster ein Kindergesicht. So scharf sah er nicht nur nach dem Schwimmen in dem eisigen Fluß. Und insofern war der Name, den sein Bruder der Apotheke von Taxham gegeben hatte, vielleicht berechtigt.

Zu Hause duschte er sich das kalkig graue Flußwasser vom Leib und trank den während seines Schwimmens zubereiteten Kaffee, den Blue Mountain aus Jamaika, wie immer das Beste, das er in der Gegend kriegen konnte. Aus dem Bereich seiner Frau kein Laut, während im Flur unten schon ihre Reisetasche stand, obenauf ein Flugticket, in das er aber nicht hineingeschaut hatte. »Wie vor jeder ihrer Abfahrten kam mir plötzlich ein Bild von dem Erdbeerhang«, sagte er, »von dem sie mir einmal erzählt hat, als Kind sei das ihr Sommerplatz gewesen.«

Er selber war früher viel gereist, fast durch die ganze Welt. Inzwischen zog es ihn nicht mehr weg, nirgendwohin. An Ort und Stelle, gerade da, war ihm allmorgendlich, als breche er auf, oder sei schon vor langem aufgebrochen, und die Reise gehe heute um eine Station weiter. »Ich wollte hierbleiben, lange noch, lange noch.«

Auf dem Flußdamm nun, durch die Gartensträucher nur am Bunt ihrer Dressen zu sehen, die ersten Läufer, paarweise, auf dem schmalen Pfad hintereinander (in Taxham jenseits der Wiesen rannte dagegen fast niemand, nicht einmal zum Bus), sich überlaut unterhaltend, als glaubten sie, daß sonst ihre Stimmen nicht trügen.

Und von einem der Nachbargrundstücke das Aufschreien und dann Weinen, gottsjämmerlich, eines Kindes, und desgleichen sofort aus dem Haus zur anderen Hand. Er horchte. Und ebenso lauschte, er war sich gewiß, seine Frau dort hinter der Tür. Sie lauschten miteinander, selbst als das Weinen und Schluchzen links und rechts sich beruhigt hatte und längst übergegangen war in ein Reden und Einander-Rufen, mit Stimmen wie geklärt und weit ausschwingend geworden durch das Geplärre zuvor. Sie hörten auch den Zug drüben am deutschen Ufer vorbeifahren. »Richtung Bad Reichenhall!« ‒ »Ja.«

Der Apotheker nahm an diesem Morgen das Rad seiner Frau; sie würde es in den nächsten Wochen ohnedies nicht brauchen. Er fuhr auf dem Uferweg, eine Strecke durch die Flußauen, bog dann ab über die Felder zum Bauerndorf Siezenheim. Auf dem Friedhof dort gab es eine Ritzzeichnung in einem Konglomeratstein, einen Gekreuzigten ohne Kreuz ‒ dieses erkennbar nur an seiner Haltung ‒, ein übergroßer Wasserkopf an einem Liliputanerkörper, dessen Ärmchen weit ausgebreitet; die Ritzrillen, sonst schwer zu sehen, fast verwittert, an dem nach Osten gerichteten Felsblock jetzt morgendlich vertieft und verdeutlicht.

Es war dem Apotheker dann auch recht, weiter eher nach Osten, der Sonne zu, zu fahren: so vermied er den eigenen Schatten vor sich ‒ ein Anblick, der ihm seit je unangenehm gewesen war. Aus dem Gras, wie vorher aus dem Fluß und dann aus den Steinritzen, roch es von der Trockenheit der letzten Wochen (was von Salzburg und dem Regen erzählt wurde, war oft falsch). An den tarnfleckenfarbigen Baracken der Kaserne von Siezenheim fuhr ein Innenstadtbus vorbei, für die Festspiele so bemalt und ornamentiert, als sei auch er Teil dieser Tarnfarbenfassaden; Flugzeugschatten über dem Gelände wie ein Wimpernzucken.