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Rüdiger Vaas

Hawkings
neues
Universum

Wie es zum Urknall kam

Umschlaggestaltung von Büro Jorge Schmidt, München, unter Verwendung einer Illustration von Mark Garlick/Science Photo Library/Agentur Focus

 

Fotos: A. Guth (1), A. Linde/D. Linde (3, 4), NASA/STScI (5), NASA/WMAP Science Team (6, 7), R. Vaas (10, 11), A. Zytkow (12).

Illustrationen: Gerhard Weiland nach Vorlagen von G. Ellis/R. Vaas (13), H. Genz (14, 15), H. Genz/R. Vaas (16), A. Guth (17), S. Hawking (18), A. Linde/R. Vaas (19), V. Petkov (20), R. Vaas (21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30).

 

 

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© 2010, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-440-12726-1

Produktion: Markus Schärtlein, Constanze Schäfer

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Das Bekannte ist endlich, das Unbekannte unendlich. Geistig stehen wir auf einer kleinen Insel inmitten eines Ozeans von Unerklärlichkeiten. Unsere Aufgabe ist es, in jeder Generation ein bisschen mehr Land trocken zu legen.

 

Thomas Henry Huxley (1825–1895),
britischer Biologe und Philosoph

Einführung

„Wir sehen uns in einer befremdlichen Welt leben. Wir möchten verstehen, was wir um uns herum wahrnehmen, und fragen: Wie ist das Universum beschaffen? Welchen Platz nehmen wir in ihm ein, woher kommen und wohin gehen wir? Warum ist es so und nicht anders?“ Stephen Hawking hat keine Scheu vor den großen und grundlegenden Fragen. Und sein Anspruch klingt auch nicht gerade bescheiden: „Mein Ziel ist einfach: das vollständige Verständnis des Universums – warum es ist, wie es ist, und warum es überhaupt existiert.“

Aber man wächst bekanntlich mit seinen Aufgaben. Und die Neugier ist eine der stärksten und konstruktivsten Triebkräfte des Handelns. „Es ist sehr wichtig, dass junge Menschen sich das Staunen bewahren und immer wieder nach dem ‚Warum‘ fragen. Ich bin selbst ein Kind, in dem Sinn, dass ich immer noch suche“, sagte Hawking im Jahr 2007. Anlass war die Veröffentlichung seines Buchs Der geheime Schlüssel zum Universum. Verfasst hat er es mit seiner Tochter Lucy, die als Journalistin in London arbeitet, aber auch als Schriftstellerin erfolgreich ist. Ihr erster Roman, Fix und alle, erschien 2004. „Ich wollte ein Buch schreiben, das meinem Sohn William die Chance gibt, das zu verstehen, was mein Vater geleistet hat“, erläuterte die studierte Sprachwissenschaftlerin, wie es zur Idee des Kinderbuchs kam. Im Herbst 2009 erschien eine Fortsetzung: Die unglaubliche Reise ins Universum.

Eine Studie des britischen Fernsehsender BBC zufolge ist Hawking der berühmteste lebende Wissenschaftler. Das verwundert nicht, wurde sein 1988 veröffentlichtes Buch Eine kurze Geschichte der Zeit doch zum internationalen Bestseller schlechthin. Angeblich jeder 750. Mensch hat das populärwissenschaftliche, in über 40 Sprachen übersetzte Kosmologie-Sachbuch erworben (aber bestimmt nicht gelesen).

Doch obwohl der Erfolg Hawkings Bekanntheitsgrad nach oben katapultierte, liegt darin nicht der Grund dafür. Dieser ist in Hawkings schrecklicher Krankheit zu finden, die selbst Boulevard-Bedürfnisse bedient, so dass Berichte über den Physiker sogar immer wieder durch die einschlägigen Massenblätter geistern. Stephen Hawking hat Amyothrophe Lateralsklerose: eine fast vollständige Muskellähmung, die normalerweise innerhalb weniger Jahre zum Tod führt. Mit diesem tragischen Schicksal passt der Kosmologe perfekt zum Klischee des an den Leib gefesselten genialen Geistes, der alle Grenzen zu sprengen trachtet – zumindest die Grenzen der Erkenntnis.

„Mit Stephen W. Hawking hat die Kosmologie ein Gesicht erhalten“, beschrieb Klaus Mainzer, der an der Universität Augsburg Philosophie lehrt, das historisch einmalige Phänomen. „Es ist das Bild einer schwerstbehinderten und gebrechlichen Gestalt, stumm und bewegungsunfähig an einen Rollstuhl gefesselt, nur über Computer und Stimmsynthesizer mit der Umwelt verbunden. Der Kopf ist fixiert, und nur noch Augen und Mimik sind zu Reaktionen fähig.“ Und die französische Philosophin und Anthropologin Hélène Mialet, die am Department of Anthropology der University of California in Berkeley forscht und zurzeit ein Buch über Stephen Hawking fertig stellt, Hawking Incorporated, hat die Symbolgestalt des Wissenschaftlers so charakterisiert: „Weder Alter noch Tod fürchtend, wurde Hawking zu einer Art von Engel. Der ist gleichermaßen unsterblich (er lebt immer noch, obwohl er zu einem frühen Tod verurteilt wurde), immateriell (er braucht keinen Körper um zu denken, und kann als reiner Geist betrachtet werden) und allgegenwärtig (er befindet sich überall und nirgends, so dass man schwer wissen kann, wo er sich gerade aufhält).“

Hawking sieht es ähnlich: „Ich bin sicher, dass meine Behinderung eine Rolle spielt, warum ich so bekannt bin. Die Menschen sind fasziniert von dem Kontrast zwischen meinen sehr eingeschränkten physischen Kräften und der gewaltigen Natur des Universums, mit der ich mich beschäftige. Ich bin der Archetypus des behinderten Genies. Doch ob ich ein Genie bin, kann bezweifelt werden.“ Seinen Intelligenzquotienten kennt er übrigens nicht. „Ich habe keine Ahnung“, sagt er. „Leute, die mit ihrem IQ protzen, sind Verlierer“.

Die Kombination von kosmologischer Größe und gravierender Krankheit hat aus Hawking sogar eine Art Filmstar werden lassen. Ein TV-Spielfilm über seine Jugend bis zur Dissertation (Hawking von Philip Martin, 2004) und ein Kinofilm über seine Forschungen mit vielen Interviews seiner Weggefährten (A Brief History of Time von Errol Morris, 1991) existiert bereits. Für die nahe Zukunft ist außerdem ein großer Kinofilm in Arbeit, Beyond the Horizon, der Hawkings Leben und Werk veranschaulichen soll – mit ihm selbst in der Hauptrolle.

Einerseits genießt Hawking die öffentliche Aufmerksamkeit und ist sich der Vorteile und Pflichten auch gut bewusst, die damit verbunden sind, und nutzt sie, um die Wissenschaft fachlich wie didaktisch zu fördern. Andererseits hat er sich vom Ruhm nicht korrumpieren lassen, macht sich sogar darüber lustig. Bernard Carr von der Cambridge University, der bei Hawking promovierte, verdeutlicht das mit einer Anekdote: „Stephen und ich sprachen beim Mittagessen über den Ruhm, und er kam mit der Definition, Ruhm sei ein Zustand, in dem uns mehr Menschen kennen, als uns bekannt seien. Nach dem Essen gingen wir zum Institut zurück, als jemand vorbeikam und sagte: ‚Hallo!‘ Ich hatte keine Ahnung, wer er war, und fragte deshalb: ‚Wer war das, Stephen?‘ Stephen sah mich an und meinte: ‚Das war der Ruhm.‘“ Und wenn Hawking in Cambridge von Touristen angesprochen wird, ob er der berühmte „Steven Hawkins“ sei, hat er die Standardantwort parat, dass er immer wieder mit dieser Person verwechselt würde.

Trotz seiner Behinderung ist Hawking keineswegs menschenscheu. Zuweilen spricht er sogar aktiv Leute an. So auch den Autor auf einem Kosmologie-Symposium 2003 an der University of California in Davis während einer Kaffeepause. „Hallo!“ tönte Hawkings Computerstimme. Was folgte, war ein naturgemäß etwas einseitiges Gespräch. Doch so ergab sich die Gelegenheit, Stephen Hawking etwas Persönliches zu fragen: Angenommen, eine allwissende Fee würde eine beliebige Frage verständlich beantworten – welche würde Hawking ihr stellen? Er grinste und klickte sich durch die Buchstaben und Wörter seines Sprachprogramms – ein minutenlanger Vorgang, der etwas Orakelhaftes an sich hat. Ob die M-Theorie – der momentan vielleicht aussichtsreichste Kandidat für eine „Weltformel“ zur Erklärung aller Kräfte, Materie- und Energieformen im Universum – vollständig sei, wollte Hawking schließlich wissen: „Is M-Theory complete?“

Die Antwort würde Hawking helfen, die schwierigsten Rätsel zu knacken – nicht nur seiner eigenen Forschung, sondern überhaupt: Was hat den Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren ausgelöst? Haben Raum, Zeit, Materie und Energie einen Anfang oder sind sie ewig? Ist es überhaupt sinnvoll zu fragen, was vor dem Urknall geschah? Existieren noch weitere Universen, und welche Rolle spielt der Mensch im Kosmos?

Diese letzten Grenzen der menschlichen Erkenntnis wollen Stephen Hawking und seine Kollegen überwinden. Das klingt vielleicht vermessener als es ist. Denn Hawkings bisherige Forschungen zum Urknall waren wegweisend und sind es in jüngster Zeit wieder (davon handelt dieses Buch). Und deshalb ist er nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch in der wissenschaftlichen Fachwelt weithin bekannt und hoch geachtet. Die fernste Zukunft des Universums, die Stellung des Menschen im Kosmos und die Suche nach einer „Weltformel“ beschäftigen ihn ebenso wie Zeitreisen und Wurmlöcher (hypothetische Tunnel durch die Dimensionen). Immer wieder wendet er sich auch den Schwarzen Löchern zu. 1974 berechnete er, dass diese ominösen Schlünde in der Raumzeit, die scheinbar alles verschlucken, aufgrund von Quantenprozessen eine Temperatur besitzen und daher eine extrem schwache Strahlung abgeben, die aber irgendwann so stark wird, dass selbst das massereichste Schwarze Loch eines Tages in einer Explosion verdampft. 1975 folgerte Hawking, dass mit dieser Auflösung auch die physikalischen Informationen der einst verschlungenen Materie und Energie vernichtet wären, was fundamentale Prinzipien wie den Satz von der Erhaltung der Energie verletzen würde. Aber im Jahr 2004 verkündete er, warum Schwarze Löcher doch keine irreversiblen Informationsvernichter sein können. (Über alle diese faszinierenden Erkenntnisse hat der Autor in seinem Buch Tunnel durch Raum und Zeit ausführlich berichtet, Neuausgabe 2010.)

So kann es also nicht verwundern, dass Hawking in vielen Hinsichten eine Ausnahmeerscheinung im bekannten Universum ist – publizistisch, wissenschaftlich, aber auch menschlich. Trotz aller Schwernisse, den persönlichen wie den fachlichen, hat Hawking nicht aufgegeben und sich sogar einen sprühenden Humor bewahrt. Was darf man „heroisch“ nennen, wenn nicht dieses?

„Wie allen düsteren Prognosen und Prophezeiungen zum Trotz ein erfülltes Leben möglich ist, hat Stephen Hawking mit seinem Leben gezeigt“, schrieb der Philosoph Klaus Mainzer vor einigen Jahren. „Seine Kraft, sein Lebensmut und seine Lebenslust sind sicher eine ebenso wertvolle Botschaft wie seine Leistungen als Wissenschaftler.“

Teil I
Lebenszeit

Wir hinterlassen im Universum unsere Spuren, und das alles gehört dazu. Die Erde ist eine Blume, die ihren Blütenstaub aussendet. Dinge gehen von ihr aus, und nun, da wir uns fortentwickeln, werden sie bedeutender und reichen weiter. Und das muss so sein, weil wir uns ins Universum ausdehnen müssen.

 

Neil Young (geb. 1945),
kanadischer Musiker und Poet

Kindheit: Über die Sterne hinaus

Stephen William Hawking wurde am 8. Januar 1942 geboren, genau 300 Jahre nach dem Tod des berühmten Physikers und Astronomen Galileo Galilei, wie er gerne betont – nicht ohne gleich einzuschränken: „Ich schätze, dass rund 200.000 andere Babys an diesem Tag ebenfalls das Licht der Welt erblickten. Ich weiß aber nicht, wer sich davon später auch für Astronomie interessierte.“ Obwohl seine Eltern damals in dem Akademikerviertel Highgate wohnten, einem Vorort von London, kam Stephen in Oxford zur Welt – eine nicht gerade einladende Welt, denn es herrschte Krieg. Zwischen August 1940 und Frühjahr 1941 griff die deutsche Luftwaffe immer wieder London und den Süden von England an. Einmal explodierte eine Bombe in der Nachbarschaft des Hauses, in dem Isobel und Frank Hawking lebten. Fenster barsten und Glassplitter schossen wie Pfeilspitzen durch den Raum. Hawkings Eltern wollten daher kein Risiko eingehen, auch wenn die Attacken inzwischen aufgehört hatten, und bevorzugten das sichere Oxford. Wie Cambridge wurde es verschont, weil es einen Pakt gab, wonach die Royal Air Force im Gegenzug keine Angriffe auf Heidelberg und Göttingen flog.

Hawkings Mutter war mit ihren sechs Geschwistern in Glasgow aufgewachsen. Ihr Vater arbeitete als Arzt. Er ermöglichte ihr trotz der Kosten ein Studium an der Oxford University – in den 1930er Jahren für Frauen noch keine Selbstverständlichkeit. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften, Politik und Philosophie. Dann arbeitete sie als Finanzbeamtin und in anderen Berufen, die ihr keine Freude machten, und schließlich als Sekretärin in einem medizinischen Forschungsinstitut, dem National Institute of Medical Research. Dort lernte sie ihren späteren Mann kennen. Der Tropenmediziner war in Yorkshire aufgewachsen und hatte ebenfalls in Oxford studiert.

1943, 18 Monate nach Stephen, wurde seine Schwester Mary geboren. „Es heißt, ich sei über diesen Zuwachs nicht sehr erfreut gewesen“, erinnert sich Hawking später. „Unsere ganze Kindheit hindurch lag eine gewisse Spannung zwischen uns, die durch den geringen Altersunterschied genährt wurde. Später, als wir erwachsen wurden und verschiedene Wege gingen, hat sich unser Verhältnis gebessert.“ Zur Freude des Vaters wurde Mary Ärztin. 1946, als Stephen fast fünf war, kam seine zweite Schwester Philippa zur Welt. „Ich weiß noch, dass ich mich auf ihre Geburt freute, wegen der Aussicht, zu dritt spielen zu können. Sie war ein sehr aufgewecktes Kind. Ich habe immer viel auf ihr Urteil und ihre Meinung gegeben.“ Als Stephen 14 war, kam noch Edward, 1955 geboren, als Adoptivkind in die Familie. Er wurde später Bauunternehmer.

Bis 1950 lebte Stephen mit seinen Eltern in einem viktorianischen Haus in Highgate. Als er mit zweieinhalb Jahren einen Privatkindergarten besuchen sollte, wehrte er sich schreiend – was seine früheste Erinnerung ist –, so dass seine Eltern ihn erst eineinhalb Jahre später wieder dorthin brachten. Statt eine staatliche Grundschule besuchte er dann die private Byron House School, profitierte davon aber wenig. „Die Lehrer glaubten nicht an die damals üblichen Methoden, Kindern den Stoff einzutrichtern. Stattdessen sollten sie lesen lernen, ohne zu merken, dass es ihnen beigebracht wurde“, erinnerte er sich später. „Schließlich lernte ich doch lesen, aber erst, als ich bereits mein achtes Lebensjahr erreicht hatte.“

1950 zog das Forschungsinstitut, in dem Frank Hawking mittlerweile die Parasitologie-Abteilung leitete, nach Mill Hill um, einem Außenbezirk Londons. Deshalb kauften sich die Hawkings ein geräumiges viktorianisches Haus 15 Kilometer weiter nördlich, in der Kleinstadt St. Albans. Sie galten dort als exzentrische Außenseiter – auch weil Frank Hawking sehr sparsam war, das Haus kaum renovierte, keine Zentralheizung einbauen ließ und mit einem alten Londoner Vorkriegstaxi herumfuhr, dem eine Wellblechbaracke als Garage diente. „Die Nachbarn waren schockiert, konnten aber nichts dagegen tun. Wie die meisten Jugendlichen hatte ich ein großes Konformitätsbedürfnis und fand das Verhalten meiner Eltern peinlich. Das hat sie aber nie gestört.“

„Ich habe die Hawkings mehrfach zu Hause besucht“, erinnerte sich Basil King später, Stephens Mitschüler und Freund. „Wenn man dort zum Abendessen eingeladen war, durfte man sich zwar mit Stephen unterhalten, aber die anderen Familienmitglieder saßen am Tisch und lasen ein Buch – ein Verhalten, das in meinen Kreisen nicht gerade als schicklich galt, das man aber bei den Hawkings hinnahm, weil man ja wusste, wie exzentrisch sie waren – sehr intelligent, sehr klug, aber eben doch ein bisschen spinnert.“ Das Haus war mit Büchern vollgestopft. In den meisten Regalen standen sie in zwei Reihen hintereinander, und darauf lagen noch andere waagrecht. „Frank Hawking litt unter auffälligem Stottern. Wir glaubten alle, die Hawkings seien so intelligent, dass sie beim Sprechen nicht mit ihren Gedanken Schritt halten konnten.“ Auch Stephen verfiel manchmal in dieses „Hawkinesisch“.

Die Aufnahmeprüfung in die St. Albans School, eine Privatschule, bestand er ohne große Mühe. Doch sein Ehrgeiz war nicht besonders ausgeprägt, so dass er nicht mit überdurchschnittlichen Leistungen glänzte. „In der Schule gehörte ich immer zum Durchschnitt der Klasse (es war eine sehr gute Klasse)“, resümierte er. „Meine Arbeiten machte ich sehr unordentlich, und mit meiner Handschrift brachte ich die Lehrer zur Verzweiflung.“ Dazu Basil King: „Stephen war der einzige mir bekannte Junge an der Schule, der ein Schönschreibheft führen musste, weil seine Schrift so miserabel war.“ Auch zählte Stephen zu jenen, die als Letzte in die Fußballmannschaften gewählt wurden, aber das machte ihm nicht viel aus. „Er war nicht sehr gut in der Schule, doch aus irgendeinem Grund galt er immer als sehr intelligent“, erinnerte sich Stephens Mutter. „Einmal hat er sogar den Preis im Religionsunterricht bekommen. Das war kein Wunder, denn sein Vater hatte ihm von früh an Geschichten aus der Bibel vorgelesen. Er kannte sie alle.“ Und seine Schwester Mary erinnerte sich: „Vaters Spezialität waren theologische Debatten, und wir machten alle mit. Das ist eine hübsche, sichere Sache – man kann auf Fakten und ähnlich störendes Zeug verzichten.“ Unter seinen Klassenkameraden erhielt Stephen den Spitznamen „Einstein“. „Als ich zwölf war, wettete einer meine Freunde mit einem anderen um eine Tüte Bonbons, dass ich es nie zu etwas bringen würde“, erzählte er einmal und fügte schmunzelnd hinzu: „Ich weiß nicht, ob diese Wette jemals entschieden worden ist, und wenn, zu wessen Gunsten.“ Stephen spielte gerne mit seiner elektrischen Eisenbahn und baute mithilfe eines Schulkameraden – er selbst war nie sehr geschickt – Modellflugzeuge und -schiffe. 1958 konstruierten die Freunde sogar einen Computer namens LUCE, der verschiedene logische Operationen ausführen konnte – und das zu einer Zeit, als Computer noch kaum verbreitet waren. Mehrere britische Zeitungen berichteten darüber und die Schulzeitung TheAlbanian prognostizierte sogar, dass in nicht zu ferner Zukunft jeder einen Computer in der Tasche haben könnte. Stephen liebte auch Brettspiele, wobei ihm Monopoly bald zu langweilig wurde, und er erfand zusätzliche Regeln und zeichnete weitere Felder auf den Spielplan. Dann entwickelte er neue Spiele. „Da gab es ein Produktionsspiel mit Fabriken, die verschiedenfarbige Produkte herstellten, Straßen und Schienenstränge, auf denen sie befördert wurden, und einen Aktienmarkt. Es gab ein Kriegsspiel, das auf einem Brett mit viertausend Quadraten gespielt wurde, und sogar ein Ritterspiel, bei dem jeder Spieler eine ganze Dynastie mit eigenem Stammbaum repräsentierte“, schrieb er in einem autobiographischen Artikel. Die Spiele dauerten Stunden, manche sogar eine ganze Woche. Später formulierte er eine interessante psychologische Deutung: „Ich glaube, diese Spiele entsprangen, genau wie die Eisenbahnen, Schiffe und Flugzeuge, meinem Drang herauszufinden, wie die Dinge funktionierten, und sie zu beherrschen. Seit ich mit meiner Promotion begann, konnte ich dieses Bedürfnis in der kosmologischen Forschung stillen. Wenn man weiß, wie das Universum funktioniert, beherrscht man es in gewisser Weise.“

Mit seinen Freunden führte Stephen lange Diskussionen über Gott und die Welt, „von Radar bis Religion, von Parapsychologie bis Physik. Unter anderem unterhielten wir uns auch darüber, wie das Universum entstanden sein könnte und ob Gott zu seiner Erschaffung notwendig gewesen sei“ – Themen also, die ihn alle weiteren Jahrzehnte beschäftigen sollten. „Mein Mann hat Stephens Interesse an der Astronomie geweckt“, erzählte Hawkings Mutter einmal. „Oft lagen wir alle im Gras und guckten durch das Fernrohr nach oben, um die Wunder der Sterne zu betrachten. Stephen hatte immer einen ausgeprägten Sinn für das Wunderbare, und mir wurde klar, dass es ihn zu den Sternen zog ... und über die Sterne hinaus.“

Studium: Von einem anderen Stern

„Ich habe mich immer sehr dafür interessiert, wie Dinge funktionieren, und baute sie auseinander, um es herauszufinden, aber nur selten ist es mir gelungen, sie wieder richtig zusammenzusetzen. Meine praktischen Fähigkeiten haben nie mit meinem theoretischen Wissensdrang Schritt halten können“, schrieb Stephen Hawking in einem autobiographischen Aufsatz. „Mein Vater hat mein Interesse an der Wissenschaft gefördert und mir sogar in Mathematik geholfen, bis ich ihn überholt hatte. Angesichts dieser Voraussetzung und des Berufs meines Vaters war es für mich selbstverständlich, in die wissenschaftliche Forschung zu gehen. In jungen Jahren machte ich keinen Unterschied zwischen den Wissenschaften. Doch seit ich dreizehn oder vierzehn war, wusste ich, dass ich mich der Physik zuwenden wollte, weil sie die fundamentalste Wissenschaft ist. Daran hat mich auch nicht der Umstand gehindert, dass Physik in der Schule das langweiligste Fach war, weil dort alles so leicht und offenkundig ablief. Chemie machte sehr viel mehr Spaß, weil ständig unerwartete Dinge passierten, zum Beispiel Explosionen. Doch von der Physik und der Astronomie erhoffte ich mir die Antworten auf die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen. Ich wollte die fernen Tiefen des Weltalls ergründen.“

Hawkings Vater hätte es gern gesehen, dass Stephen Medizin studierte, aber diese erschien seinem Sohn, wie Biologie, „zu deskriptiv und nicht fundamental genug“. „Stephen hat sich nie besonders für die Arbeit seines Vaters interessiert. Er konnte der Biologie nichts abgewinnen und hat sich auch keine Tiere gewünscht. Von Anfang an baute er Sachen, dachte über Sachen nach und redete viel“, erinnerte sich seine Mutter. Und so bewarb sich Stephen 1959 um ein Stipendium für ein Physik-Studium an der Oxford University, das er auch erhielt und mit 17 begann. Zunächst fühlte er sich dort einsam und wenig motiviert. „Damals gehörte es in Oxford nicht zum guten Ton, fleißig zu sein. Entweder war man ohne irgendwelche Mühe brillant, oder man fand sich mit seinen Grenzen ab und nahm einen drittklassigen Abschluss in Kauf“, meinte Hawking rückblickend, der sich vor allem als Steuermann des Achters im Bootsclub auf der Themse mit gewagten Manövern hervortat. „Ich habe einmal ausgerechnet, dass ich in den drei Jahren in Oxford ungefähr tausend Stunden gearbeitet habe, was einem Durchschnitt von einer Stunde pro Tag entspricht. Ich bin nicht stolz darauf.“

Die Praktika kollidierten mit den Trainingszeiten des Bootsclubs, und so schönten oder erfanden die Studenten oft Messdaten und unterzogen sie aufwendigen Datenanalysen. „Wir mussten die Leute, die die Experimente beurteilten, davon überzeugen, dass wir alles Notwendige getan hatten – und das, obwohl sie wussten, dass wir nicht im Labor gewesen waren“, erzählte Hawkings Freund und Kommilitone Gordon Berry, der später als Kernphysiker am Argonne National Laboratory forschte und seit 1994 Physik-Professor an der University of Notre Dame in Indiana ist. „Beim Schreiben der Berichte über unsere Experimente mussten wir sehr sorgfältig vorgehen. Wir haben nie geschummelt, sondern nur intensive Interpretationsarbeit geleistet.“

Trotzdem wussten viele, das Hawking keine Niete war – im Gegenteil. „Stephen hat nie großes Interesse an dem Stoff gezeigt, den man ihm vorschrieb“, berichtete Patrick Sandars, damals Physik-Dozent und einer von Hawkings Tutoren. Einmal sollte sein Schüler ein Kapitel eines Buchs über statistische Physik durcharbeiten und zwei Aufgaben lösen. „Am Ende der Woche hatte er keine der Aufgaben gelöst, sondern nur Fehler im Buch angekreuzt. Er legte es mir vor, und wir führten eine kurze Diskussion über das Thema, wobei sich herausstellte, dass er mehr darüber wusste als ich.“ Ähnlich urteilte ein anderer Tutor, Robert Berman: „Er war ohne Zweifel der begabteste Student, den ich jemals hatte. Ich bilde mir nicht ein, ihm irgendetwas beigebracht zu haben.“ Derek Powney, einer von Hawkings Kommilitonen, schilderte folgendes Erlebnis: „Wir sollten ein Kapitel in einem Buch namens Electricity and Magnetism lesen. Am Ende folgten 13 Fragen – alles Fragen aus dem Abschlussexamen. Unser Tutor Bobby Berman sagte: ‚Beantwortet so viele, wie ihr könnt.‘ Also versuchten wir es, und mir wurde sehr bald klar, dass ich keine einzige beantworten konnte. Richard war mein Partner in dem Tutorenkurs. Wir arbeiteten eine Woche zusammen, und es gelang uns mit vereinten Kräften, anderthalb Fragen zu bewältigen, worauf wir sehr stolz waren. Gordon wollte keine Hilfe und schaffte eine Frage aus eigener Kraft. Stephen hatte, wie immer, noch nicht begonnen. Also erklärten wir ihm: ‚So geht das nicht, Hawking, du musst morgen zum Frühstück aufstehen.‘ Das wäre an sich schon ein Ereignis gewesen, weil er normalerweise nie zum Frühstück aufstand. Er schaute uns nachdenklich an, und am nächsten Morgen stand er tatsächlich auf. Wir machten uns brav auf den Weg zu unseren drei Morgenvorlesungen, während Stephen zurückblieb. Er ging um neun auf sein Zimmer. Wir kehrten gegen zwölf zurück, und Stephen kam zu uns herunter. ‚Ah, Hawking‘, sagte ich. ‚Wie viele hast du denn geschafft?‘ ‚Na ja‘, sagte er, ‚die Zeit hat nur für die ersten zehn gereicht.‘ Wir brachen in Gelächter aus, das uns aber auf den Lippen gefror, weil er uns so fragend anblickte. Uns wurde plötzlich klar, dass er die Aufgaben tatsächlich geschafft hatte – die ersten zehn. Ich glaube, da begriffen wir, dass er von einem anderen Stern war.“

Am Ende des dritten Jahres gab es die viertägige Abschlussprüfung. Hawking hielt sich an die Aufgaben in Theoretischer Physik, wo es am wenigsten auf Faktenwissen ankam. „Ich schnitt nicht besonders gut ab – zwischen Eins und Zwei. Also wurde ich noch einmal zu einem Gespräch gebeten, in dem endgültig über die Examensnote entschieden werden sollte. Sie fragten mich nach meinen Zukunftsplänen. Ich sagte, ich wolle in die Forschung gehen. Wenn sie mir eine Eins gäben, würde ich nach Cambridge gehen, wenn ich eine Zwei erhielte, würde ich in Oxford bleiben. Sie gaben mir eine Eins.“

Schock: Das Todesurteil

1961, in seinem dritten Jahr an der Oxford University, bemerkte Hawking, dass er immer ungelenker wurde. Mehrfach stürzte er ohne Grund und konnte nicht mehr richtig rudern. Dann kamen auch Artikulationsprobleme hinzu. Er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, vertraute sich allerdings nicht einmal seiner Familie an, sondern behielt seine Sorgen für sich. Im Sommer 1962, nach dem Abschlussexamen, reiste er mit einem Kommilitonen in den Iran, wo er schwer erkrankte. Seine Bewegungsstörungen wurden danach schlimmer. Im darauffolgenden Winter rutschte er beim Schlittschuhlaufen bei St. Albans aus und konnte nicht mehr selbstständig aufstehen. Kurz nach seinem 21. Geburtstag ging er deshalb ins Krankenhaus, um sich untersuchen zu lassen. „Sie entnahmen meinem Arm eine Muskelprobe, pflanzten mir Elektroden ein, injizierten ein Kontrastmittel in meine Wirbelsäule und beobachteten seine Bewegungen auf dem Röntgenschirm, während sie das Bett kippten. Man diagnostizierte bei mir ALS: Amyotrophe Lateralsklerose.“

ALS ist eine irreversible Degeneration der motorischen Neuronen von Gehirn und Rückenmark und des peripheren Nervensystems. Das Absterben dieser Nervenzellen, die die Muskeln steuern, führt meistens zwei bis fünf Jahre nach dem Beginn der Symptome zur vollständigen Lähmung und dann zum Tod durch Ersticken, wenn auch die Atemmuskulatur versagt. Zuvor kommt es zu Nervenschmerzen, oft auch zu Depression und Schlaflosigkeit. 20 bis 50 Prozent der Patienten haben außerdem kognitive Beeinträchtigungen. Lungenentzündungen sind ebenfalls häufig, auch als Todesursache, da die Muskelschwäche zu einer schlechten Belüftung führt und das Schlucken beeinträchtigt ist; außerdem geraten Speisereste in die Atemwege. Allein in Deutschland leben beziehungsweise sterben jährlich rund 6000 Menschen an ALS. Der eigene Körper als Gefängnis – was aus einem Horrorfilm entsprungen scheint, trifft jedes Jahr ein bis drei von 100.000 Menschen, meistens zwischen 45 und 65 Jahren, Männer etwas häufiger als Frauen. Diese schreckliche Nervenkrankheit wurde erstmals 1869 von dem französischen Arzt Jean-Marie Charcot wissenschaftlich beschrieben. Ihre Ursache ist bis heute völlig ungeklärt. Über Viren, Neurotoxine, Schwermetalle, Enzym- oder Immunsystem-Abnormalitäten wird diskutiert. Fünf bis zehn Prozent der ALS-Erkrankungen sind allerdings erblich bedingt; vier Gene wurden hier bereits identifiziert. ALS ist bislang unheilbar. Nur das Medikament Riluzol kann – wenn früh verabreicht – die Lebenserwartung um ein paar Monate erhöhen.

Prominente ALS-Kranke waren der Baseballspieler Heinrich Ludwig „Lou“ Gehrig, der 1941 mit 37 Jahren starb (daher heißt ALS in den USA auch Lou-Gehrig-Syndrom), der Philosoph Franz Rosenzweig, der Maler Jörg Immendorff, der Archäologe und Ötzi-Forscher Konrad Spindler, der 33. amerikanische Vizepräsident Henry A. Wallace sowie der chinesische Politiker Mao Zedong. Nur etwa zehn Prozent der Erkrankten leben zehn Jahre oder länger nach der Diagnose. Warum Stephen Hawking täglich einen neuen medizinischen Rekord aufstellt, Jahrzehnte nach der Diagnose von 1963, ist den Medizinern ein Rätsel. „Die Erkenntnis, dass ich an einer unheilbaren Krankheit litt, an der ich wahrscheinlich in ein paar Jahren sterben würde, war ein ziemlicher Schock. Wie konnte mir so etwas passieren?“, schrieb Hawking später. „Doch während meines Krankenhausaufenthalts wurde ich Zeuge, wie ein Junge, den ich flüchtig kannte, im gegenüberstehenden Bett an Leukämie starb. Es war kein schöner Anblick. Ich fühlte mich zumindest nicht krank. Seither denke ich immer an diesen Jungen, wenn ich versucht bin, mich zu bemitleiden.“

Die Ärzte rieten Hawking, mit seiner gerade begonnenen Promotion fortzufahren. Aber er kam nicht gut voran und wusste nicht einmal, ob er lange genug leben würde, um sie abschließen zu können. „Ich fühlte mich als tragische Gestalt. Damals hörte ich viel Wagner, aber die Zeitschriftenberichte, denen zufolge ich unmäßig getrunken habe, sind übertrieben.“

Auch für Hawkings Familie war die Diagnose ein Schock. Sein Vater konsultierte andere Ärzte und machte sich kundig, aber dadurch erschien das Todesurteil nur noch unausweichlicher. Seine Schwester Mary erlebte alles aus unmittelbarer Nähe, weil sie an der Klinik arbeitete, als ihr Bruder dort war.

„Bevor meine Erkrankung diagnostiziert worden war, hatte mich mein Leben gelangweilt“, erinnerte sich Hawking später. „Nichts schien mir irgendeiner Mühe wert zu sein. Doch kurz nachdem ich aus dem Krankenhaus gekommen war, träumte ich, ich solle hingerichtet werden. Plötzlich begriff ich, dass es eine Reihe wertvoller Dinge gab, die ich tun könnte, wenn mir ein Aufschub gewährt würde. In einem anderen Traum, der sich mehrfach wiederholte, opferte ich mein Leben, um andere zu retten. Wenn ich schon sterben müsste, konnte ich wenigstens noch etwas Gutes tun. Aber ich bin nicht gestorben. Trotz des dunklen Schattens, der über meiner Zukunft lag, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich das Leben jetzt mehr genoss als früher.“

Wendezeit: Liebe und Physik

Noch vor der ALS-Diagnose hatte Stephen Hawking mit einem Stipendium seine Promotion an der Cambridge University begonnen. In der Theoretischen Physik gab es nur zwei Forschungsgebiete, die ihm als grundlegend genug erschienen: Kosmologie, die Erforschung des ganz Großen, und Teilchenphysik, die Erforschung des ganz Kleinen. Letztere blühte zwar gerade experimentell ungeheuer auf, weil immer neue Teilchen entdeckt wurden – schließlich sprach man von einem „Teilchenzoo“ mit über 200 Spezies –, aber es gab noch keine umfassende Theorie. „Bestenfalls konnte man die Teilchen, wie in der Botanik, in Familien einordnen. In der Kosmologie dagegen gab es eine eindeutig definierte Theorie, Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie“, begründete Hawking seine Wahl. Und weil in Oxford niemand darüber forschte, ging er nach Cambridge, um bei Fred Hoyle zu promovieren. Dieser war damals der bedeutendste britische Astronom, der durch seine Arbeiten zur Entstehung der schweren Elemente in den Sternen durch Kernfusion und durch seine Beiträge zur Kosmologie hoch geachtet war. Doch weil er häufig im Ausland war und zu wenig Zeit hatte, wurde Dennis Sciama als Hawkings Doktorvater bestimmt – was Hawking zunächst enttäuschte, rückblickend jedoch einen Glücksfall bedeutete. Sciama war, unter anderem, ein versierter Experte in Allgemeiner Relativitätstheorie und Kosmologie. Neben Hawking promovierte er zahlreiche später ebenfalls berühmt gewordene Kosmologen und Physiker, darunter George Ellis, Brandon Carter, Martin Rees, Gary Gibbons, John D. Barrow und David Deutsch.

„Wenn einem ein früher Tod droht, begreift man, welchen Wert das Leben hat“, erkannte Hawking und stürzte sich in die Arbeit. Er begann sich in die Relativitätstheorie einzudenken und machte gute Fortschritte. Und er verliebte sich.

Im Januar, kurz vor seiner Diagnose, lernte er auf einer Neujahrsparty in St. Albans Jane Wilde kennen, die gerade ihr Abitur machte und im folgenden Herbst am Westfield College in London Sprachen zu studieren begann. „Die Begegnung mit Jane war ein echter Ansporn“, erinnerte sich Hawkings Mutter später. „Er traf den richtigen Menschen zur richtigen Zeit. Das ist ein weiteres Beispiel für das Glück, das Stephen in seinem Leben hatte.“ Hawking sah es ähnlich: „Ich lernte Jane Wilde kennen, was mein Leben änderte. Das gab mir etwas, wofür es sich lohnte zu leben.“

Obwohl Jane von Hawkings Krankheit wusste, verlobten sich die beiden. „Wir glaubten, dass alles möglich sei, trotz allem“, sagte sie 2004 in einem Interview. „Dass Stephen seine Physik betreiben konnte, dass wir eine wunderbare Familie und ein nettes Haus haben konnten und ein glückliches Leben.“ Das lag auch an der spannungsgeladenen Zeit des Kalten Kriegs. „Damals herrschte die Meinung vor, dass unsere Generation sowieso unter einer furchtbaren nuklearen Wolke lebte – dass die Welt nach einer vierminütigen Vorwarnung untergehen könnte. Das gab uns das Gefühl, unseren Teil zu tun, einem idealistischen Lebensweg zu folgen. Das mag heute naiv erscheinen, aber es war genau der Zeitgeist in den 1960er-Jahren, als Stephen und ich versuchten, das Beste aus dem zu machen, was uns gegeben war.“ Und dieser bekannte: „Ohne sie hätte ich es sicher nicht geschafft. Die Verlobung mit ihr hat mich aus der tiefen Verzweiflung gerissen, in der ich mich befand.“

Jane Wilde besuchte Stephen Hawking immer wieder in Cambridge. Um zu heiraten, brauchte er freilich einen Beruf. Daher bewarb er sich um eine Forschungsstelle am Gonville and Caius College in Cambridge und erhielt zu seiner großen Überraschung auch ein Fellowship – eine Auszeichnung. Ein Fellow konnte sich ganz ohne Lehrverpflichtung auf seine wissenschaftliche Arbeit konzentrieren. Daraufhin heiratete das Paar im Juli 1965. „Ich gelangte zu einer Entscheidung und hielt an ihr fest“, erinnerte sich Jane Hawking später. „Er befand sich bereits im Anfangsstadium seiner Krankheit, als ich ihn kennen lernte. Deshalb habe ich nie einen gesunden, nicht behinderten Stephen erlebt.“ Die kirchliche Trauung fand in der Kapelle des Trinity College statt. Ihr schloss sich eine einwöchige Hochzeitsreise nach Suffolk an – für mehr reichte das Geld nicht –, und dann begleitete Jane Hawking ihren Mann zu einem Sommerkurs in Allgemeiner Relativitätstheorie an die Cornell University im US-Bundesstaat New York, wo er wichtige wissenschaftliche Kontakte knüpfte. Zurück in Cambridge fand das Paar ein winziges Haus in der Little St. Mary‘s Lane, nur hundert Meter von Hawkings Arbeitsstätte entfernt. Das war ein glücklicher Umstand, musste er inzwischen doch seinen Gehstock gegen Krücken austauschen. Für die schmale Wendeltreppe ins Schlafzimmer hinauf brauchte er eine Viertelstunde.

Während ihr Mann seine Dissertation beendete und in seinen kosmologischen Forschungen erste Erfolge erzielte, schloss Jane Hawking ihr Studium ab und meisterte die Doppelbelastung von Haushalt und Pflege. 1967 kam dann ihr erster Sohn zur Welt, 1970 die Tochter Lucy und 1979 der zweite Sohn, Timothy. Da waren die Hawkings schon in eine neue Wohnung an der West Road umgezogen, die dem Caius College gehörte und im Erdgeschoss lag, was das Leben erleichterte. Zumal Hawking im Jahr 1970, nach langem Sträuben, die Krücken durch einen elektrischen Rollstuhl ersetzt hatte. Damit war er aber schneller unterwegs als vorher – und konnte sogar wieder „tanzen“, mit schwungvollen Kurven, was er in Studentendiscos auch manchmal bis tief in die Nacht hinein tat.

Krisenzeit: Luftröhrenschnitt und Computerstimme

„Oft werde ich gefragt: Was bedeutet für Sie ALS zu haben? Die Antwort lautet: Nicht sehr viel. Ich versuche, so normal wie möglich zu leben, nicht über meine Krankheit nachzudenken oder den Dingen nachzutrauern, die ich ihretwegen nicht tun kann – es sind im Übrigen gar nicht so viele“, begann Stephen Hawking 1987 in Birmingham seinen Vortrag Meine Erfahrung mit ALS auf einer Konferenz der British Motor Neurone Disease Association.

Bis 1974 konnte er noch selbstständig aufstehen, essen und ins Bett gehen, aber die fortschreitende Krankheit brachte seine Frau nicht selten an den Rand der Erschöpfung. „Als meine Krankheit sich verschlimmerte, hat Jane mich ganz allein gepflegt. Damals hat uns niemand Hilfe angeboten, und wir hätten uns auf keinen Fall eine Pflegerin leisten können“, erinnert er sich. Dann nahmen er und seine Familie einen Studenten bei sich auf. Der erhielt für seine Hilfe freie Unterkunft und Hawkings wissenschaftliche Betreuung. Ab 1980 kam zur Unterstützung eine Krankenschwester morgens und abends für ein bis zwei Stunden.

Anfang August 1985 zog sich Hawking, als er am Kernforschungszentrum CERN bei Genf weilte, eine Lungenentzündung zu, an der er fast gestorben wäre. Er wurde mit Blaulicht ins Genfer Krankenhaus gebracht. Dort erklärte man seiner Frau, es habe keinen Zweck, die Geräte eingeschaltet zu lassen. Doch das akzeptierte sie nicht; daraufhin flog man ihn nach Cambridge. Im Addenbrookes Hospital dort machte der Chirurg Roger Grey einen Luftröhrenschnitt. „Die Operation rettete mir das Leben, raubte mir aber die Stimme“, berichtete Hawking in einem Radio-Interview einmal lakonisch. Seither braucht er rund um die Uhr Hilfe. Die Krankenschwestern, inzwischen sind es zehn verschiedene, lösen sich alle acht Stunden ab.

Neben den Krankenschwestern steht Hawking ein Graduate Assistant zur Seite, der jeweils für ein bis zwei Jahre von der Cambridge University angestellt und bezahlt wird, um „dem Professor in allen Bereichen zu helfen, in denen er aufgrund seiner Behinderung Schwierigkeiten hat“, wie es in der Stellenbeschreibung heißt. Dazu gehört hauptsächlich, Hawkings Computer und Rollstuhl instand zu halten, seine Reisen zu organisieren, Diagramme für Vorträge vorzubereiten, Hawkings Homepage zu aktualisieren, mit den Medien zu kommunizieren und einen Teil der Leserpost zu beantworten. Letzteres tut Hawking fast nie. Aber es gibt Ausnahmen: Als zum Beispiel ein Verzweifelter sich das Leben nehmen wollte, nachdem bei ihm ALS diagnostiziert wurde, hat Hawking ihm sofort Trost und Rat geschrieben.

Bis 1985 hatte Hawking noch sprechen können – wenn auch so undeutlich, dass ihn nur wenige ihm nahestehende Menschen verstanden, die seine Worte dann für andere übersetzten. Immerhin war er so in der Lage, Seminare zu halten und per Diktat seine Fachartikel zu verfassen. Nach dem Luftröhrenschnitt bestand die einzige Kommunikationsform darin, dass er eine Augenbraue hob, wenn ihm auf einer Karte die gewünschten Buchstaben gezeigt wurden – ein furchtbar langwieriges und mühseliges Unterfangen. Als Walt Woltosz, ein Computerexperte in Kalifornien, von Hawkings Misere hörte, schickte er ihm sein Programm Equalizer von der Firma Word Plus Inc., das mit einem Sprachsynthesizer Texte in Laute umwandelt. Das Vokabular umfasste anfangs 2500 Wörter und etwa 200 mathematische und physikalische Fachbegriffe. Woltosz hatte das Programm entwickelt, weil seine Schwiegermutter auch unter ALS litt.

Später montierte David Mason von der Firma Cambridge Adaptive Communications einen Computer an den elektrischen Rollstuhl. Seither kann Hawking wieder sprechen – „bis zu 15 Wörter pro Minute“, wie er sagt – mit einer monotonen und doch eigenartig ätherischen Kunststimme. „Die Stimme ist sehr wichtig. Wenn man undeutlich spricht, neigen die Menschen dazu, einen zu behandeln, als sei man geistig zurückgeblieben. Der einzige Nachteil ist, dass der Synthesizer mir einen amerikanischen Akzent gibt.“ Übrigens ist Hawkings Computerstimme sogar auf dem Album TheDivision Bell (1994) von Pink Floyd zu hören, bezeichnenderweise in dem Lied Keep Talking.

Bis 2005 betätigte Hawking den Computer mit der noch etwas beweglichen linken Hand, indem er Buchstaben oder Wörter aus einem Menü anklickte und speicherte oder satzweise an den Synthesizer schickte. Inzwischen ist seine Hand dafür zu schwach. Nun kommuniziert er mithilfe seines rechten Wangenmuskels: Ein Sensor an der Brille, der durch ein Kabel mit dem Computer verbunden ist, registriert die Muskelanspannung über die Reflexion eines Infrarotstrahls.

Wie die Krankheit weiter verläuft, ist ungewiss. Aber Hawking gibt nicht auf und ist noch voller Pläne. Seine Erfolge geben ihm zusätzlichen Halt und Rückenwind. „Mit einem gewissen Stolz glaube ich, dass ich trotz meiner Krankheit einen bescheidenen, aber wichtigen Beitrag zum Wissen der Menschheit geleistet habe“, sagte er in einem Interview. „Natürlich habe ich sehr viel Glück gehabt, aber jeder kann etwas erreichen, wenn er es intensiv genug versucht.“

Ehrenplatz: Der berühmteste Lehrstuhl der Welt

„Ich sitze hier auf Isaac Newtons Lehrstuhl“, weiß Stephen Hawking über seine Professur in Cambridge. „Aber dieser Stuhl hat sich offensichtlich stark verändert. Er wird jetzt elektrisch betrieben.“ Dies zeigt einmal mehr, dass der britische Physiker vor seiner schweren Behinderung, die ihn an den elektrischen Rollstuhl fesselt, genauso wenig kapituliert wie vor den Herausforderungen der Kosmologie, und dass er seinen trockenen Humor behalten hat.

1975 war Hawking zum Reader für Gravitationsphysik ernannt worden. Nach dieser akademischen Stellung zwischen Fellow und Professor wurde er 1977 Professor für Gravitationsphysik an der Cambridge University und Professorial Fellow am Caius College. Im Oktober 1979 dann die große Überraschung: Fast gegen seinen Willen wurde Hawking auf den Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik berufen. Finanziell machte die Berufung kaum einen Unterschied, aber die Ehre war enorm: Der Lehrstuhl gehört zu den berühmtesten der Welt.

Isaac Newton, der die Gesetze der Schwerkraft und Bewegung entdeckte und damit die Physik von Himmel und Erde vereinigte, hatte ihn von 1669 bis 1702 inne, als Zweiter nach dem Mathematiker Isaac Barrow. Ein anderer Vorgänger Hawkings war Charles Babbage. Er wurde 1828 berufen und entwickelte zwei mechanische Rechenmaschinen, die als Vorläufer des Computers gelten können. Zu seinen Lebzeiten wurden sie zwar nicht gebaut. Die Differenzmaschine, die 1991 nach seinen Plänen entstand, funktionierte aber perfekt. Auch Paul Dirac, der 1933 – ein Jahr nach seiner Berufung – den Physik-Nobelpreis erhielt, mehrte den Ruhm des Lehrstuhls gewaltig. Er vereinigte die Quantentheorie mit der Speziellen Relativitätstheorie und war damit eine Art zweiter Newton.

Hawking ist sich der Tragweite seines Amts bewusst: „Es ist nett, dieselbe Position wie Newton und Dirac inne zu haben. Aber die echte Herausforderung besteht darin, etwas zu leisten, das auch nur einen Bruchteil so signifikant ist wie ihre Arbeit.“

Der Lehrstuhl war der erste für Mathematik in Cambridge. (Die erste britische Mathematik-Professur gab es bereits seit 1597 am Gresham College in London.) Henry Lucas (1610 bis 1663), der für die Universität 1639 bis 1640 im englischen Parlament war, hatte ihn 1663 gestiftet. Und King Charles II. setzte ihn am 18. Januar 1664 offiziell in Kraft. Lucas überließ der Universität seine 4000 Bücher und ein Landgut, das 100 Pfund jährlich für die Professur abwerfen sollte. Gefordert wurden an zwei Tagen pro Woche zwei Sprechstunden sowie ein wöchentliches Minimum von zehn Vorlesungen, die ausführlich auszuarbeiten und dem Archiv der Universitätsbibliothek zu übergeben waren – andernfalls drohte Gehaltsminderung. Und so finden sich dort heute noch Originalnotizen beispielsweise von Isaac Newton. 1857 wurden die Statuten modernisiert. Auch das Gehalt wurde erhöht und 1914 mit dem anderer Professuren gleichgesetzt.

Lucas hatte gefordert, den Lehrstuhl vom College-Wesen inhaltlich und verwaltungstechnisch weitgehend unabhängig zu halten – trotz der Verbindung mit dem Trinity College – und nicht der Kirche zu unterstellen. Charles II. befreite die Professoren daher von der Anforderung, das Weihesakrament entgegenzunehmen, also ordinierte Kleriker zu sein. „Die Lucasischen Statuten sind ein Schritt in der Entwicklung der Universität von ihren quasimonastischen, mittelalterlichen Wurzeln in die moderne Form“, kommentiert dies der bekannte kanadische Mathematiker und Sachbuchautor Ian Stewart. (Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Cambridge eine moderne Universität.)

Freilich war die Säkularisierung nur halbherzig. George Stokes – berühmt durch seine Gleichung der Strömungsmechanik – wirkte als evangelikaler Anglikaner sogar noch Ende des 19. Jahrhunderts. Viele der ersten Professoren verfassten theologische Traktate – Newton allerdings nicht, weil seine Nähe zum Arianismus Ketzerei war: Er akzeptierte die christliche Trinitätslehre nicht. William Whiston wurde wegen seines Arianismus sogar vom Lehrstuhl entfernt – der einzige Fall einer Entlassung, alle anderen Professoren bewarben sich entweder auf eine andere Stelle, hörten altershalber auf oder starben.

Fast wirkt der Lehrstuhl als Zeitraffer: Als er gestiftet wurde, regierten Monarchen. Massenvernichtungswaffen, Flugzeuge und Raketen gab es noch nicht. Die chemischen Elemente waren noch nicht bekannt, die Vorstellung von Atomen eine Außenseiterspekulation, die Infinitesimalrechnung hatten Newton und Leibniz noch nicht entwickelt und „Computer“ waren Menschen, die ihre Rechnungen mit der Hand ausführten.

„Nachdem ich über ein Jahr lang Lucasischer Professor war, wurde bemerkt, dass in dem großen Universitätsbuch meine Unterschrift fehlte“, erinnerte sich Hawking später. „Daher brachte man es mir in mein Büro, und ich unterzeichnete mit einiger Schwierigkeit. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Namen schrieb.“ Und 1998 sagte er: „Ich denke, ich wurde zur Überbrückung berufen. Es tut mir leid, dass ich die Wähler enttäuschen muss: Ich bin Lucasischer Professor seit 19 Jahren und habe die Absicht, weitere elf Jahre bis zum Pensionsalter zu überleben. Doch selbst dann hätte ich nicht Dirac erreicht, der 37 Jahre lang Lucasischer Professor war, oder Stokes, der es 54 Jahre lang war.“

Hawking hat wacker durchgehalten, und sein Schaffensdrang ist ungebrochen. 2009 wurde er emeritiert. Sein Nachfolger, der Stringtheoretiker Michael Green, bereits Professor in Cambridge, wurde als vierjährige „Übergangslösung“ gewählt (es gab Streit und kaum Bewerber) und kann nicht aus Hawkings Schatten – besser: Glanz – heraustreten. Doch wird die University of Cambridge auch künftig keinen Mangel an hochkarätigen Forschern haben. (Sie brachte mehr Nobelpreisträger als irgendeine andere Universität auf der Welt hervor: über 80, wobei rund 70 davon selbst Studenten in Cambridge waren.) Und im Jahr 2395 wird das erste Kunstwesen den Lehrstuhl besetzen: der Android Data. So zumindest hat es die Science-Fiction-Fernsehserie RaumschiffEnterprise dargestellt: Stephen Hawking hatte einen Gastauftritt in der Folge Angriff der Borg, Teil I von 1993, er pokerte mit Isaac Newton, Albert Einstein und Data im Holodeck – und gewann.