Mami – 1945 – Von zu Hause ausgerissen ...

Mami
– 1945–

Von zu Hause ausgerissen ...

Kathrin und Sandra auf dem falschen Weg

Silva Werneburg

Impressum:

Epub-Version © 2018 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-689-1

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Mit einem liebevollen Klaps auf die Kruppe beförderte Kathrin die neun Jahre alte Apfelschimmelstute Tosca in die Box und schob anschließend die Gittertür zu. Die Schimmelin, die den ganzen Tag über draußen auf der Weide gewesen war, steckte ihr Maul zufrieden in die Krippe und malmte das kurz zuvor eingefüllte Kraftfutter. Kathrins Schwester Sandra führte die beiden braunen Wallache Wotan und Astor in deren Boxen. Im Gegensatz zu Tosca bedienten die Wallache sich zunächst an den automatischen Tränken und schauten erst anschließend in ihre Krippen.

Die beiden Geschwister nahmen auf der großen Futterkiste in der Stallgasse Platz. Es gehörte zu ihrer Gewohnheit, den Pferden abends noch ein wenig Gesellschaft zu leisten, dem friedlichen Malmen der Pferdezähne zu lauschen und den typischen Geruch eines Pferdestalles zu genießen. Durch die großen Fenster rechts und links neben dem Eingangstor konnte man zu dem etwa fünfzig Meter entfernt liegenden Wohnhaus der Familie blicken. Bei diesem Haus handelte es sich um einen alten Bauernhof, den der Immobilienmakler Sebastian Steffens vor zehn Jahren für seine Familie gekauft hatte. Das Anwesen war vollständig restauriert worden und wirkte jetzt wie ein Schmuckstück, das dem Ort in einer wundervollen Alleinlage vorgelagert war. Seit fast vier Jahren gab es auch den nach modernen Gesichtspunkten erbauten und trotzdem zum Stil des Wohnhauses passenden Pferdestall mit angrenzender Weide. Damals hatten Sandra und Kathrin es sich nämlich in den Kopf gesetzt, reiten zu lernen. Sebastian und seine Frau Nicola hatten dagegen nichts einzuwenden gehabt und ihre Kinder in eine Reitschule geschickt. Gleichzeitig war der Stall gebaut worden, und als die Kinder einigermaßen sattelfest geworden waren, hatte Tosca Einzug gehalten. Die damals noch sehr dunkle, inzwischen etwas heller gewordene Apfelschimmelstute war ein Weihnachtsgeschenk für Sandra und Kathrin gewesen. Damit sich das Pferd in dem Stall, der über vier Boxen verfügte, nicht zu einsam fühlte, hatte Sebastian die beiden Wallache eines guten Freundes in Pension genommen. Den beiden Schwestern machte es nichts aus, sich auch um die Gastpferde zu kümmern, sie auf die Weide zu bringen, abends wieder in den Stall zu holen, ihr Fell zu pflegen und die Krippen zu füllen. Manchmal, wenn der Freund ihres Vaters keine Zeit hatte, durften sie Wotan und Astor auch reiten. Sie mochten die Wallache, aber ihre Herzen gehörten Tosca. Mit geradezu abgöttischer Liebe hingen die Geschwister an dieser Stute, die die ihr entgegengebrachte Zuneigung mit absoluter Zuverlässigkeit und Freundlichkeit dankte.

»Sag mal, weißt du eigentlich, was mit Mutti und Vati los ist?« fragte Sandra und zupfte nachdenklich an einem Strohhalm, der auf der Futterkiste lag. »Sie sind in letzter Zeit irgendwie seltsam geworden.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, erwiderte Kathrin. »Vor ungefähr drei Wochen hat das angefangen. Sie lachen nicht mehr so oft wie früher, und manchmal sehen sie richtig traurig und sorgenvoll aus. Ich habe keine Ahnung und wollte dich auch schon danach fragen. Deshalb dachte ich, daß du vielleicht Genaueres weißt.«

»Weiß ich aber nicht. Vor ein paar Tagen habe ich Mutti gefragt, ob sie Sorgen hat. Aber sie hat nur abgewunken und gemeint, ich solle mir keine Gedanken machen. Es wäre schon alles in Ordnung. Das stimmt aber nicht. Ich spüre genau, daß da irgend etwas überhaupt nicht in Ordnung ist. Mutti will nur nicht darüber reden. Wenn sie das nicht will, wird Vati es sicher auch nicht tun. Trotzdem würde ich schon gern wissen, was für einen Kummer die beiden haben.«

Kathrin überlegte eine Weile. »Unseretwegen kann es eigentlich nicht sein. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, daß wir in letzter Zeit etwas angestellt hätten. Das heißt, vielleicht haben Mutti und Vati herausbekommen, daß wir vor vier Wochen einmal die Schule geschwänzt haben. Erinnerst du dich? Da war doch dieser Pferdemarkt, zu dem wir so gern wollten und der nur vormittags stattfand. Vielleicht haben unsere Klassenlehrer bei uns zu Hause angerufen und uns bei Mutti und Vati verpetzt.«

»Quatsch, das kann es nicht sein. Wenn das herausgekommen wäre, hätten wir uns eine Standpauke anhören müssen, und damit wäre die Sache erledigt gewesen. Nein, unseretwegen benehmen die beiden sich nicht so komisch. Das hat einen ganz anderen Grund. Wenn sie uns nichts sagen wollen, müssen wir es eben allein herausbekommen. Am besten beobachten wir Mutti und Vati sehr genau und hören gut hin, wenn sie sich unterhalten. Irgendwann werden sie sich bestimmt verplappern, und dann wissen wir wenigstens, worum es geht. Möglicherweise können wir ja sogar helfen.«

»Ganz sicher können wir das«, meinte Kathrin. »Erwachsene glauben zwar immer, daß Kinder dumm sind und nichts ausrichten können, aber das ist nicht wahr. Eine Familie muß nur richtig zusammenhalten, und wenn jeder ein bißchen mithilft, dann lassen sich auch die größten Probleme lösen. Das gilt auch für Kinder.«

Die beiden Schwestern nickten sich gegenseitig aufmunternd zu. Sie waren sich einig und fest entschlossen, ihren Eltern bei der Beseitigung von Schwierigkeiten zu helfen, die sie bis jetzt noch nicht kannten. Es würde ihnen in absehbarer Zeit schon gelingen, mehr über die bestehenden Probleme in Erfahrung zu bringen.

Als Tosca fordernd mit einem Vorderhuf gegen die Boxtür klopfte, standen die Mädchen auf und verließen ihren Platz auf der Futterkiste. Sandra griff in einen Jutesack, zog eine große Möhre hervor und brach sie in drei gleiche Teile. Es gehörte zur abendlichen Zeremonie, sich mit einem Leckerbissen von den Pferden zu verabschieden. So bekam jedes Tier ein Möhrenstück und ein paar Streicheleinheiten, bevor die Geschwister den Stall verließen. Wenn Tosca auch ihr eigenes Pferd und damit etwas ganz Besonderes war, wurden Wotan und Astor nie benachteiligt. Ihre Leckerbissen waren nie kleiner als die, die Tosca zugesteckt bekam, und die freundlichen Abschiedsworte fielen auch nicht geringer aus.

»Schlaft alle drei gut und träumt etwas Schönes«, murmelte Kathrin beim Hinausgehen und schloß gemeinsam mit ihrer Schwester sorgfältig das Stalltor.

*

Die Kinder hatten sich nicht getäuscht. Sebastian und Nicola Steffens wurden tatsächlich von Kummer geplagt. Doch darüber mochten sie mit den Mädchen nicht sprechen. Sie konnten ja selbst noch nicht so recht begreifen, daß sich für sie in Zukunft einige Dinge ändern würden. Dabei war ihr Leben bis vor kurzer Zeit völlig sorglos und harmonisch verlaufen. Ernsthafte Sorgen hatte es nie gegeben. Oft hatte Nicola sogar daran gedacht, daß es auf dieser Welt keine glücklichere Familie geben könnte. Sie hatte zwei gesunde und hübsche Kinder, wurde von Sebastian geliebt, lebte in einem wundervollen Haus und kannte keinerlei finanzielle Probleme. Auch jetzt war die finanzielle Situation ausgesprochen gut. Aber es gab eben auch andere, ganz private Katastrophen, die völlig unvorhersehbar plötzlich auftreten und das glückliche Leben einer Familie zerstören könnten. Nicola und Sebastian waren sich einig, vorläufig noch nicht mit den Kindern zu sprechen. Sie würden noch früh genug erfahren, daß ihr Dasein künftig in anderen Bahnen verlaufen mußte. In Anwesenheit der Mädchen sollte kein Wort über das große Problem geredet werden. Nicola und Sebastian achteten streng darauf, keine unbedachte Bemerkung zu machen. Deshalb war es für Sandra und Kathrin auch nicht möglich, etwas herauszubekommen. Sie beobachteten ihre Eltern mit Argusaugen und verfolgten jedes Wort. Trotzdem erfuhren sie nichts.

Der Zufall wollte es, daß Sandra und Kathrin eines Tages nicht mit dem Schulbus nach Hause fuhren, sondern sich zu Fuß auf den Weg machten. Sie brauchten neue Umschläge für ihre Schulhefte, und die gab es in einem kleinen Geschäft am Ortsausgang. Das Wetter war frühlingshaft schön, und es machte den Kindern deshalb nichts aus, zu dem Papierwarenladen und von dort aus nach Hause zu wandern. Ihr Weg führte sie zwangsläufig an jenem Haus vorbei, in dem ihr Vater sein Immobilienbüro eingerichtet hatte. Die Kinder befanden sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite, als sie Sebastian erblickten. Er kam gerade aus dem Haus, an seiner Seite eine junge, auffallend attraktive Frau. Instinktiv zog Sandra ihre Schwester beiseite und verbarg sich mit ihr hinter einem parkenden Auto. Die beiden Mädchen beobachteten, wie die fremde Frau plötzlich ihren Vater umarmte und ihm sogar einen Kuß auf die Wange drückte. Dann eilte sie zu einem offenen Sportwagen und winkte fröhlich, während sie davonfuhr. Sebastian winkte mit einem versonnenen Lächeln zurück.

»Hast du das gesehen?« fragte Kathrin ihre ältere Schwester. »Hast du gesehen, was da gerade passiert ist?«

»Ich bin ja nicht blind. Natürlich habe ich das gesehen. Wenn das nicht hier vor meinen eigenen Augen passiert wäre, hätte ich es nie geglaubt. Das darf einfach nicht wahr sein, und trotzdem ist es so. Jetzt weiß ich auch, warum Mutti und Vati sich in letzter Zeit so seltsam benehmen und nicht mehr so fröhlich sind wie früher. Vati hat eine Geliebte. Das hätte ich nie von ihm gedacht.«

»Ich auch nicht«, gab Kathrin zu. »Was meinst du? Ob Mutti davon weiß?«

»Natürlich weiß sie es. Wenn sie keine Ahnung hätte, wäre sie in der letzten Zeit bestimmt nicht so traurig gewesen. Vielleicht kennt sie diese Frau sogar persönlich.«

»Aber Vati macht seit Wochen auch einen unglücklichen Eindruck«, gab Kathrin zu bedenken. »Das verstehe ich nicht. Wenn er eine Geliebte hat, die ihm wichtiger ist als Mutti, müßte er doch nicht traurig sein. Schließlich hat ihn niemand gezwungen, sich eine Freundin anzuschaffen. Das hat er ganz freiwillig getan. Trotzdem läuft er mit einem Gesicht herum wie sieben Tage Regenwetter.«

»Ich glaube, das kommt daher, weil er ein Problem hat. Vati ist in diese Frau verliebt, aber Mutti liebt er auch noch. Jetzt weiß er nicht, wie er sich entscheiden soll. Das macht ihn unglücklich. Und Mutti ist unglücklich, weil sie Angst hat, Vati an diese fremde Frau zu verlieren.«

»Verlieren?« Kathrins Gesicht nahm einen entsetzten Ausdruck an. »Mensch, das würde ja bedeuten, daß sich unsere Eltern scheiden lassen. Ich meine, einer von beiden wird dann zu Hause ausziehen. Wahrscheinlich wird das Vati sein, weil er zusammen mit seiner Geliebten wohnen will. Womöglich heiratet er sie dann auch noch. Dann sind wir ganz allein mit Mutti, die immer nur traurig ist. Unseren Vater sehen wir höchstens noch am Wochenende, wenn er Zeit für uns hat und etwas mit uns unternehmen möchte. Das wäre furchtbar. Ich will nicht, daß das passiert.«

»Glaubst du etwa, mir würde das Spaß machen? Aber wie es im Moment aussieht, wird es genau dazu kommen. Ich finde es gemein von Vati, daß er seine Familie im Stich lassen will, nur weil ihm eine andere hübsche Frau über den Weg gelaufen ist. Aber vielleicht können wir etwas unternehmen und verhindern, daß Vati weggeht.«

»Denkst du, Vati würde seiner Geliebten die Freundschaft kündigen, wenn wir ihn darum bitten? Das glaube ich nicht. Mutti wird das sicher schon versucht haben, und offensichtlich hat sie auch keinen Erfolg damit gehabt.«

Sandra schüttelte den Kopf. »Nein, mit Vati können wir nicht darüber reden. Wir müssen bei dieser fremden Frau anfangen. Vielleicht weiß die überhaupt nicht, daß Vati ein verheirateter Mann mit zwei Kindern ist. Wenn sie das früh genug erfährt, wird sie vielleicht freiwillig die Finger von ihm lassen. Wenn sie das nicht will, müssen wir ihr eben erklären, daß wir um unseren Vater kämpfen werden, notfalls auch mit der Unterstützung unserer Mutter, die sich bestimmt nicht so einfach scheiden lassen wird. Diese Frau muß einsehen, daß Vati nicht der richtige Mann für sie ist. Ich weiß nicht, wie lange sie ihn schon kennt. Aber sehr lange kann es noch nicht sein. Schließlich stimmt es zwischen Vati und Mutti erst seit ein paar Wochen nicht mehr so richtig. Früher sind sie ganz glücklich miteinander gewesen. Wenn zwei Leute sich noch nicht so lange kennen, fällt es ihnen auch nicht schwer, sich wieder zu trennen. Wir müssen bald etwas unternehmen und mit dieser Frau reden. Sonst ist es zu spät.«

»Das sagt sich so leicht. Wie sollen wir das denn machen? Wir kennen Vatis Geliebte doch überhaupt nicht, wissen nicht, wo sie wohnt und noch nicht einmal, wie sie heißt. Denkst du vielleicht, Vati würde uns das alles sagen, wenn wir ihn danach fragen?«