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Jo Nesbø

 

Schneemann

 

Kriminalroman

 

 

 

Aus dem Norwegischen

von Günther Frauenlob

 

 

 

 

 

 

 

Ullstein

 

 

 

 

 

Das Buch

 

Vier Frauen wurden brutal ermordet, und als Visitenkarte hinterließ der Mörder in ihren Gärten einen Schneemann. Harry Hole und seine neue Kollegin Katrine Bratt vermuten deshalb, dass er mit einem Trauma kämpft. Warum sollte er sonst ausgerechnet junge Mütter töten? Oder ist der entscheidende Hinweis die seltene Erbkrankheit, die ihre Kinder haben? Könnte der Mörder Arzt sein? Eine Fährte nach der anderen erweist sich als falsch. Als Harry das Geheimnis einer der Frauen aufdeckt, erkennt er das Motiv – und was auf dem Spiel steht. Doch erst als er sich seine eigene Lebenslüge eingesteht, tritt der Mörder aus dem Schatten.

 

Der Autor

 

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Der erfolgreichste Autor Norwegens ist längst auch international ein Bestsellerautor, seine Romane um Kommissar Harry Hole werden in dreißig Sprachen übersetzt. Schneemann wurde – wie schon Nesbøs Debüt Der Fledermausmann – in der Kategorie »Bester Kriminalroman des Jahres« mit dem »Buchhändler-Preis« (Bokhandlerprisen) ausgezeichnet sowie mit dem »Buchclub-Leserpreis« (Bokklubben Nye Bøkers leserpris) als »Bester Roman des Jahres«. Jo Nesbø lebt in Oslo.

 

Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:


Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)
Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)
Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)
Fährte (Harry Holes 4. Fall)
Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)
Erlöser (Harry Holes 6. Fall)
Schneemann (Harry Holes 7. Fall)
Leopard (Harry Holes 8. Fall)
Larve (Harry Holes 9. Fall)
Koma (Harry Holes 10. Fall)
Durst (Harry Holes 11. Fall)
Messer (Harry Holes 12. Fall)



Außerdem:


Headhunter
Der Sohn
Blood on Snow. Der Auftrag · Blood on Snow. Das Versteck

TEIL I

KAPITEL 1

Mittwoch, 5. November 1980.
Der Schneemann

 

 

Es war der Tag des ersten Schnees. Um elf Uhr vormittags fielen plötzlich und ohne jede Vorwarnung dicke Schneeflocken aus einem farblosen Himmel und legten sich auf die Felder, Gärten und Wiesen von Romerike wie eine Armada aus dem Weltraum. Um zwei Uhr nachmittags waren bereits zwei Räumfahrzeuge in Lillestrøm im Einsatz, und als Sara Kvinesland eine halbe Stunde später ihren Toyota Corolla SR5 langsam und vorsichtig zwischen den vornehmen Häusern des Kolloveien hindurchsteuerte, lag der Novemberschnee bereits wie eine weiße Daunendecke über der hügeligen Landschaft.

Sie fand, dass die Häuser bei Tageslicht irgendwie anders aussahen. So anders, dass sie fast an seiner Garageneinfahrt vorbeigefahren wäre. Als das Auto beim Bremsen ins Rutschen geriet, hörte sie hinter sich ein Stöhnen, blickte in den Rückspiegel und sah das genervte Gesicht ihres Sohnes.

»Keine Sorge, es dauert nicht lang«, versprach sie.

Vor der Garage prangte ein großes schwarzes Stück Asphalt in all dem Weiß. Dort musste der Möbelwagen gestanden haben. Ihr Hals schnürte sich zusammen. Hoffentlich war sie nicht zu spät gekommen.

»Wer wohnt denn da?«, kam es vom Rücksitz.

»Ach, nur ein Bekannter von mir«, anwortete Sara und überprüfte im Rückspiegel, ob ihre Frisur noch saß. »Zehn Minuten, okay? Ich lasse den Schlüssel stecken, dann kannst du Radio hören.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie aus dem Wagen und trippelte auf glatten Sohlen zu der Tür, durch die sie so oft ein und aus gegangen war. Nur nicht am helllichten Tag, wie jetzt, gut sichtbar für die neugierigen Augen der vornehmen Nachbarschaft. Ihre spätabendlichen Besuche waren sicher nicht weniger anrüchig gewesen, aber zumindest kam es ihr passender vor, so etwas nach Einbruch der Dunkelheit zu machen.

Drinnen im Haus summte die Klingel wie eine Hummel in einem Marmeladenglas. Während sie wartete und spürte, wie die Verzweiflung in ihr hochstieg, warf sie rasche Blicke nach rechts und links zu den Fenstern der Nachbarschaft, doch sie sah nur die Spiegelungen der schwarzen, kahlen Apfelbäume, des grauen Himmels und der milchig weißen Landschaft. Als sie drinnen endlich Schritte hörte, atmete sie erleichtert auf. Im nächsten Augenblick war sie im Haus und lag in seinen Armen.

»Geh nicht weg, Geliebter!«, flehte sie und hörte bereits das Zittern unterdrückter Tränen in ihrer Stimme.

»Ich muss«, erwiderte er, und es klang wie der Refrain eines Liedes, dessen er mittlerweile überdrüssig war. Seine Hände suchten die altbekannten Wege, derer sie niemals überdrüssig geworden waren.

»Nein, du musst nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Aber du willst. Du kannst es nicht mehr ertragen.«

»Das hat doch nichts mit uns zu tun.«

Sie hörte die Verärgerung in seiner Stimme, während seine kräftige und doch so zärtliche Hand über die Haut ihres Rückens nach unten glitt und sich unter den Bund ihres Rocks und ihrer Strumpfhose schob. Sie waren wie eingespielte Tanzpartner, die die kleinsten Bewegungen ihres Gegenübers kannten, die Schritte, den Atem, den Rhythmus. Erst die weiße Liebe, die gute. Dann die schwarze, der Schmerz.

Seine Hand strich über ihren Mantel und suchte unter dem dicken Stoff ihre Brustwarzen. Er verlor nie die Lust daran, fand immer wieder dorthin zurück. Vielleicht weil er selbst keine hatte?

»Hast du vor der Garage geparkt?«, fragte er und kniff fest zu.

Sie nickte und spürte, wie ihr der Schmerz einen Pfeil der Lust in den Kopf schoss. Ihr Schoß hatte sich längst für die Finger geöffnet, die gleich ihren Weg dorthin finden würden. »Der Junge wartet im Auto.«

Seine Hand hielt abrupt inne.

»Er weiß nichts«, stöhnte sie und spürte das Zögern seiner Finger.

»Und dein Mann, wo ist der jetzt?«

»Na, wo wohl? Auf der Arbeit natürlich.«

Jetzt war sie es, die ärgerlich klang. Zum einen, weil er ihren Mann erwähnt hatte und sie kaum über ihn sprechen konnte, ohne schlechte Laune zu bekommen, und zum anderen, weil ihr Körper jetzt nach Liebe verlangte, jetzt sofort. Sara Kvinesland öffnete seinen Hosenschlitz.

»Nicht«, stammelte er und packte ihr Handgelenk. Da gab sie ihm mit der anderen eine kräftige Ohrfeige. Verblüfft sah er sie an, während sich über seinem Wangenknochen ein dunkelroter Fleck ausbreitete. Sie lächelte, fuhr ihm mit den Fingern durch die dichten schwarzen Haare und zog sein Gesicht zu ihrem herunter.

»Von mir aus kannst du fahren«, fauchte sie. »Aber erst fickst du mich noch mal. Verstanden?«

Sie spürte seinen keuchenden Atem an ihrem Gesicht. Erneut schlug sie mit der einen Hand zu, während sie spürte, wie sein Glied in ihrer anderen wuchs.

Er stieß jetzt härter in sie, mit jedem Mal etwas härter, aber trotzdem, es war vorbei. Plötzlich war sie empfindungslos, die Magie war verloschen, die Spannung verschwunden. Einzig ihre Verzweiflung war geblieben. Sie verlor ihn. Jetzt, da sie hier auf seinem Bett lag, verlor sie ihn. All die Jahre der Sehnsucht, all die Tränen, die sie vergossen hatte, all die Verzweiflungstaten, die sie um seinetwillen begangen hatte. Und er hatte ihr niemals etwas zurückgegeben. Abgesehen von dem einen.

Jetzt stellte er sich ans Fußende des Bettes und nahm sie mit geschlossenen Augen. Sara starrte auf seine Brust. Anfangs hatte sie der Anblick irritiert, doch mit der Zeit hatte sie Gefallen gefunden an der durchgehenden weißen Hautfläche über seinen Brustmuskeln. Er erinnerte sie an alte Statuen, bei denen man die Brustwarzen aus Scham weggelassen hatte.

Sein Stöhnen wurde lauter. Sie wusste, dass er gleich mit einem gewaltigen Brüllen kommen würde. Wie sie dieses Geräusch geliebt hatte. Diesen immer wieder überraschenden, ekstatischen, beinahe schmerzerfüllten Gesichtsausdruck, als übersteige der Orgasmus jedes Mal aufs Neue seine wildesten Erwartungen. Sie wartete jetzt nur noch auf dieses letzte Brüllen, den dröhnenden Abschied in seinem kahlen Schlafzimmer, das längst all seiner Bilder, Gardinen und Teppiche beraubt war. Danach würde er sich anziehen und in einen anderen Teil des Landes ziehen, wo ihm, wie er ihr beteuert hatte, eine Stelle angeboten worden war, die er nicht ablehnen konnte. Ihre Beziehung jedoch konnte er ablehnen, all das hier. Und trotzdem vor Genuss brüllen.

Sie schloss die Augen. Aber es kam kein Brüllen. Er war erstarrt. »Was ist los?«, fragte sie und schlug die Augen auf. Sein Gesicht war tatsächlich verzerrt. Aber nicht vor Ekstase.

»Ein Gesicht«, flüsterte er.

Sie zuckte zusammen. »Wo?«

»Da draußen, vor dem Fenster.«

Das Fenster befand sich am Kopfende des Bettes, direkt über ihr. Sie drehte sich herum und spürte ihn aus sich herausgleiten. Sein Glied war bereits erschlafft. Das Fenster über ihrem Kopf war so weit oben, dass sie aus ihrer Position nichts sehen konnte. Und zu weit oben, als dass man von außen hätte hineinsehen können. Da es draußen bereits dunkel wurde, sah sie nur das doppelte Spiegelbild der Deckenlampe.

»Du hast dich selbst gesehen«, meinte sie. Ihr Ton klang beinahe bittend.

»Das hab ich auch erst gedacht«, sagte er und starrte noch immer auf das Fenster.

Sara zog die Knie an, richtete sich auf und blickte in den Garten. Und da war es, das Gesicht.

Vor lauter Erleichterung lachte sie laut los. Das Gesicht war weiß, mit Augen und Mund aus schwarzem Schotter, der vermutlich aus der Einfahrt stammte. Als Arme dienten zwei Apfelbaumzweige.

»Aber mein Gott«, rief sie lachend, »das ist doch nur ein Schneemann!«

Dann ging ihr Lachen in Weinen über, und sie schluchzte hilflos, bis sie seine Arme um sich spürte.

»Ich muss jetzt gehen«, flüsterte sie unter Tränen.

»Bleib noch ein bisschen«, bat er.

Sie blieb noch.

Als Sara zur Garage ging, stellte sie fest, dass beinahe vierzig Minuten vergangen waren.

Er hatte ihr versprochen, sie anzurufen. Er war schon immer ein guter Lügner gewesen, aber dieses Mal freute sie sich darüber. Schon bevor sie zum Auto kam, sah sie das weiße Gesicht des Jungen, der sie von der Rückbank aus anstarrte. Als sie am Türgriff zog, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass das Auto abgeschlossen war. Sie sah durch die beschlagene Scheibe zu ihm herein, doch erst als sie ans Seitenfenster klopfte, machte er ihr auf.

Sie stieg ein. Das Radio war aus. Es war eiskalt im Auto. Der Zündschlüssel lag auf dem Beifahrersitz. Sie drehte sich zu ihrem Sohn um. Er war blass, seine Unterlippe zitterte.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er. »Ich hab ihn gesehen.«

In seiner Stimme schwang der dünne, schrille Unterton mit, den sie nicht mehr gehört hatte, seit er als kleiner Junge zwischen ihnen auf dem Sofa gesessen und sich beim Fernsehen die Hände vor die Augen gehalten hatte. Doch jetzt war er im Stimmbruch, gab ihr keinen Gutenachtkuss mehr und begann sich für Motoren und Mädchen zu interessieren. Und eines Tages würde er sich mit einem von ihnen in ein Auto setzen und sie verlassen, auch er.

»Was meinst du damit?«, erkundigte sie sich und drehte den Zündschlüssel.

»Der Schneemann«

Als der Motor nicht ansprang, befiel sie jähe Panik. Dabei wusste sie gar nicht, wovor sie eigentlich Angst hatte. Sie starrte durch die Windschutzscheibe und drehte den Schlüssel noch einmal. Konnte die Batterie ihren Geist aufgegeben haben?

»Und, wie sah der Schneemann aus?«, fragte sie, trat aufs Gaspedal und drehte den Schlüssel verzweifelt und mit einer solchen Kraft, als wollte sie ihn abbrechen. Ihr Sohn antwortete, aber seine Worte wurden von dem ohrenbetäubenden Aufbrüllen des startenden Motors übertönt.

Sara legte den Gang ein und ließ die Kupplung kommen, als hätte sie es plötzlich sehr eilig fortzukommen. Die Räder drehten auf dem weichen, lockeren Neuschnee durch. Sie gab kräftiger Gas, aber sie bewegten sich nicht vom Fleck, nur das Heck des Wagens bewegte sich langsam zur Seite. Schließlich hatten sich die Räder durch den Schnee bis zum Asphalt durchgefressen, und sie schossen auf die Straße hinaus.

»Papa wartet auf uns«, sagte sie. »Wir müssen uns beeilen.«

Sie schaltete das Radio ein und drehte die Lautstärke auf, um das Auto mit anderen Geräuschen als ihrer eigenen Stimme zu füllen. Ein Nachrichtensprecher verkündete zum hundertsten Mal, dass Ronald Reagan in der vergangenen Nacht Jimmy Carter in der amerikanischen Präsidentschaftswahl besiegt hatte.

Als der Junge noch einmal etwas sagte, blickte sie in den Rückspiegel.

»Wie bitte?«, fragte sie laut.

Er wiederholte es, aber sie verstand ihn noch immer nicht, so dass sie das Radio leiser drehte, während sie den Wagen den Hang Richtung Hauptstraße hinuntersteuerte. Dort unten konnte man den Fluss erkennen, der sich wie ein Trauerflor durch die Landschaft zog. Sie zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass der Junge sich zwischen den Sitzen nach vorn gebeugt hatte. Seine Stimme war ein trockenes Flüstern dicht an ihrem Ohr. Als sei es wichtig, dass niemand sonst seine Worte hörte.

»Wir werden sterben.«

KAPITEL 2

2. November 2004.
1. Tag. Kieselaugen

 

 

Harry Hole fuhr zusammen und riss die Augen auf. Es war eiskalt und dunkel. Eine Stimme hatte ihn mit der Nachricht geweckt, dass das amerikanische Volk an diesem Tag darüber entschied, ob sein Präsident auch in den nächsten vier Jahren George Walker Bush heißen würde. November. Nun waren sie wirklich langsam auf dem Weg in die Finsternis, dachte Harry. Er schlug die Decke zur Seite und stellte die Füße auf den Boden. Das Linoleum war so kalt, dass ihm die Fußsohlen weh taten. Er ließ den Radiowecker mit den Nachrichten laufen, ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Auch hier November: schlaff, grau und wolkenverhangen. Die Augen wie immer blutunterlaufen und die Poren auf der Nase so groß wie schwarze Krater. Die Ringe unter den Augen mit der hellblauen, alkoholgespülten Iris würden verschwinden, wenn er sich erst mit warmem Wasser gewaschen, abgetrocknet und gefrühstückt hatte. Nahm er jedenfalls an. Harry war aber nicht ganz sicher, wie sich sein vierzigjähriges Gesicht im Laufe des Tages halten würde. Ob sich die Falten glätten und der gehetzte Gesichtsausdruck verschwinden würde, mit dem er aus seinen quälenden Alpträumen aufgewacht war. Wie in den meisten Nächten. Sobald er die kleine, spartanisch eingerichtete Wohnung in der Sofies gate verlassen hatte, um wieder Hauptkommissar Hole im Osloer Dezernat für Gewaltverbrechen zu werden, ging er jedem Spiegel aus dem Weg. Dann starrte er nur noch in die Gesichter anderer Menschen, um deren Schmerzen und Achillesferse zu finden, deren Alpträume, Motive und Gründe, sich selbst zu betrügen. Er lauschte ihren ermüdenden Lügen und versuchte einen Sinn darin zu finden, Leute einzusperren, die sich schon längst selbst eingesperrt hatten. In einem Gefängnis aus Hass und Selbstverachtung, das er selbst nur allzu gut kannte. Er fuhr sich mit der Hand über die blonden Haarstoppeln, die genau 193 Zentimeter über den kalten Fußsohlen aus seiner Kopfhaut sprossen. Seine Schlüsselbeine ragten wie Kleiderbügel unter der Haut hoch. Seit dem letzten Fall hatte er viel trainiert. Geradezu frenetisch, wie er fand. Neben dem Fahrradfahren hatte er begonnen, im Kraftraum im Keller des Präsidiums Gewichte zu stemmen. Es gefiel ihm, wenn die brennenden Schmerzen einsetzten und jeden Gedanken verdrängten. Trotzdem war er immer nur dünner geworden. Das Fett war verschwunden, und die Muskeln hatten sich wie schmale Streifen zwischen Haut und Knochen geschoben. Und während er früher breitschultrig gewesen war und – wie Rakel meinte – auf eine natürliche Weise athletisch, glich er jetzt dem Bild eines gehäuteten Eisbären, das er irgendwo einmal gesehen hatte: ein muskulöses, aber schockierend mageres Raubtier. Er stand ganz einfach kurz vorm Verschwinden. Nicht dass das irgendwie wichtig gewesen wäre. Harry seufzte. November. Es würde noch finsterer werden.

Er ging in die Küche, trank ein Glas Wasser gegen die Kopfschmerzen und starrte verwundert aus dem Fenster. Das Dach auf der anderen Seite der Sofies gate war weiß, und das reflektierte Licht stach grell in seinen Augen. In der Nacht war der erste Schnee gefallen. Er dachte an den Brief. Solche Briefe bekam er immer wieder mal, aber dieser letzte war mit seiner Anspielung auf Toowoomba wirklich sehr speziell gewesen.

Im Radio hatte jetzt ein Naturprogramm begonnen. Eine Stimme redete voller Begeisterung über Seehunde. »Jeden Sommer versammeln sich die Seehunde in der Beringstraße, um sich dort zu paaren. Da die Männchen in der Überzahl sind und sich gegen harte Konkurrenz durchsetzen müssen, bleiben sie während der ganzen Paarungszeit bei ihrer Partnerin. Das Männchen bewacht sein Weibchen, bis das Junge zur Welt gekommen ist und alleine zurechtkommt. Nicht aus Liebe zu dem Weibchen, sondern aus Liebe zu seinen eigenen Genen. Nach Darwins Theorie ist die natürliche Selektion im Kampf ums Überleben der Grund für die Monogamie der Seehunde in der Beringstraße – und nicht die Moral.«

Na dann, dachte Harry.

Die Stimme im Radio überschlug sich fast vor Begeisterung: »Aber bevor die Seehunde die Beringstraße verlassen, um im offenen Meer Nahrung zu suchen, wird das Männchen versuchen, das Weibchen zu töten. Und warum? Weil sich ein Seehundweibchen nie zweimal mit demselben Männchen paart. Es geht dabei um eine Art biologische Risikoverteilung des Erbmaterials, genau wie im Aktienmarkt. Für sie ist es biologisch sinnvoll, sexuell freizügig zu sein, und das Männchen weiß das. Indem er ihr das Leben nimmt, hindert er sie daran, andere Seehundjunge in die Welt zu setzen, die seinem eigenen Nachwuchs Konkurrenz machen.«

»Wir sind doch wohl auch Teil der darwinistischen Theorie, warum verhalten sich also Menschen nicht wie Seehunde?«, fragte eine andere Stimme.

»Aber das tun sie doch! Unsere Gesellschaft ist weiß Gott nicht so monogam, wie sie aussieht. Und sie ist das nie gewesen. Eine schwedische Studie, die vor kurzem veröffentlicht wurde, zeigt, dass fünfzehn bis zwanzig Prozent aller Kinder einen anderen Vater haben als sie – und der mutmaßliche Vater – glauben. Zwanzig Prozent! Das bedeutet, jedes fünfte Kind lebt mit so einer Lüge. Und sorgt für biologische Vielfalt.«

Harry drehte den Sender weiter, auf der Suche nach einigermaßen erträglicher Musik. Bei Johnny Cashs Rentnerversion von »Desperado« blieb er hängen.

Es klopfte laut an der Tür.

Er ging ins Schlafzimmer und zog sich eine Jeans an. Dann machte er die Tür auf.

»Harry Hole?« Der Mann trug einen blauen Overall und sah ihn durch dicke Brillengläser an. Seine Augen waren klar wie die eines Kindes.

Harry nickte.

»Haben Sie Pilze?« Der Mann verzog keine Miene bei dieser Frage. Eine lange Haarsträhne klebte ihm schräg auf der Stirn. Unterm Arm hatte er ein Plastikschreibbrett mit Clip, unter dem ein dicht beschriebenes Blatt klemmte.

Harry wartete auf eine erklärende Fortsetzung, aber es kam nichts. Nur dieser offene Blick.

»Das«, erwiderte Harry, »ist wohl meine Privatsache, wenn man’s genau nimmt.«

Der Mann deutete ein Lächeln an, als hätte er diesen Witz langsam ein bisschen zu oft gehört.

»Pilze in der Wohnung. Schimmel.«

»Ich habe keinen Grund zu dieser Annahme«, sagte Harry.

»Das ist ja gerade das Problem mit Schimmel. Der zeigt sich nur selten wirklich deutlich.« Der Mann zog Luft durch die Zähne ein und wippte auf den Ballen.

»Aber?«, hakte Harry nach.

»Er ist trotzdem da.«

»Warum sind Sie da so sicher?«

»Ihr Nachbar hat auch welchen.«

»Ah ja, und Sie meinen, der kann sich ausgebreitet haben?« »Schimmel breitet sich nicht aus. Hausschwämme breiten sich aus.«

»Und...?«

»Da ist ein Konstruktionsfehler in der Ventilationsanlage, die an der Hauswand entlangführt. Da drin hat Schimmel herrliche Lebensbedingungen. Darf ich mal einen Blick in Ihre Küche werfen?«

Harry trat zur Seite. Der Mann steuerte auf die Küche zu, wo er ein fönartiges, oranges Gerät an die Wand presste. Es piepte zweimal.

»Ein Feuchtigkeitsmesser«, erläuterte der Mann und blickte auf das Display. »Dachte ich’s mir doch. Und Sie haben wirklich nichts Verdächtiges gesehen oder gerochen?«

Harry hatte keine klare Vorstellung, was der Mann meinte. »So ein Belag wie auf altem Brot«, präzisierte der Mann. »Schimmelgeruch?«

Harry schüttelte den Kopf.

»Hatten Sie gerötete Augen?«, fragte der Mann. »Müdigkeit? Kopfschmerzen?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Klar, die hab ich, seit ich denken kann.«

»Meinen Sie, seit Sie hier wohnen?«

»Möglich, aber ...«

Doch der Mann hörte ihn gar nicht. Er hatte ein Messer aus seinem Gürtel gezogen. Harry verstummte und starrte auf die Hand, die sich hob und mit voller Kraft zustieß. Es klang wie ein Stöhnen, als die Klinge durch die Gipsplatte hinter der Tapete drang. Der Mann zog das Messer heraus, stieß noch einmal zu und hebelte ein Stück beinahe pulverisierte Gipsplatte heraus. Dann holte er eine kleine Taschenlampe hervor und leuchtete in das entstandene schwarze Loch. Zwischen seinen überdimensionalen Brillengläsern bildete sich eine tiefe Falte. Dann steckte er seine Nase tief in das Loch und schnupperte.

»Aha«, rief er. »Seid gegrüßt!«

»Wie? Seid gegrüßt?«, fragte Harry und näherte sich.

»Aspergillus«, verkündete der Mann. »Eine Schimmelart. Da gibt es an die drei-, vierhundert verschiedene Arten, aber die sind nicht so leicht zu unterscheiden. Außerdem wachsen die auf diesen harten Unterlagen so dünn, dass man sie gar nicht sieht. Aber dieser Geruch ist ganz eindeutig.«

»Und das ist ein Problem?«, fragte Harry und versuchte sich zu erinnern, was er noch auf dem Konto hatte, nachdem er seine Schwester Søs, die, wie sie es ausdrückte, ein bisschen am Down-Syndrom litt, mit seinem Vater auf eine Reise nach Spanien geschickt hatte.

»Die sind nicht wie echte Hausschwämme, das Haus wird deswegen nicht zusammenbrechen«, erklärte der Mann. »Aber Sie vielleicht.«

»Ich?«

»Wenn Sie anfällig sind. Es gibt Leute, die krank werden, wenn sie die gleiche Luft wie Schimmel atmen. Die hängen dann jahrelang in den Seilen und werden häufig für Hypochonder gehalten, weil niemand etwas findet und die anderen im Haus gesund sind. Dabei fressen diese Untiere Tapeten und Gipsplatten auf.«

»Hm, und was schlagen Sie vor?«

»Na, dass ich diese Scheißviecher vernichte, natürlich.« »Und mein Konto gleich mit, ja?«

»Das zahlt die Hausversicherung, Sie persönlich kostet das nichts. Ich brauche in den nächsten Tagen nur Zugang zu Ihrer Wohnung.«

Harry holte die Ersatzschlüssel aus der Küchenschublade und reichte sie ihm.

»Außer mir kommt sonst niemand«, erklärte der Mann. »Nur dass Sie Bescheid wissen. Es passiert heute ja so viel.«

»Ach wirklich?« Harry lächelte traurig und sah aus dem Fenster.

»Häh?«

»Nichts«, sagte Harry. »Bei mir gibt es ohnehin nichts zu klauen. Aber ich muss jetzt weg.«

 

Die niedrig stehende Morgensonne glitzerte auf der gläsernen Front des Präsidiums, dem Hauptquartier des Polizeidistriktes Oslo, das seit dreißig Jahren unverändert auf einer Anhöhe am Grønlandsleiret im Osten des Zentrums lag. Die zentrale Schaltstelle der Polizei lag damit – wenn auch unbeabsichtigt – in unmittelbarer Nähe der kriminell aktivsten Stadtteile und zudem in unmittelbarer Nachbarschaft des »Bayern«, des Osloer Gefängnisses. Das Präsidium war umgeben von einem Park mit welkem Gras, trockenen Blättern und ein paar Linden, die im Laufe der Nacht von einer dünnen Schneeschicht überzogen worden waren und die kleine Grünfläche wie einen geschmückten Totentempel aussehen ließen.

Harry ging über den schwarzen Asphaltstreifen zum Haupteingang und betrat die Eingangshalle, in der Kari Christensens Wanddekoration aus Porzellan und rieselndem Wasser ihre ewigen Geheimnisse flüsterte. Er nickte der Securitaswache an der Pforte zu und fuhr mit dem Aufzug in die sechste Etage, zum Dezernat für Gewaltverbrechen. Vor einem halben Jahr hatte er ein neues Büro in der roten Zone bezogen. Manchmal kam es aber noch vor, dass er in den engen, fensterlosen Raum lief, den er sich früher mit Jack Halvorsen geteilt hatte. Jetzt saß dort Magnus Skarre, und Jack Halvorsen lag in der Erde des Vestre-Aker-Friedhofes. Seine Eltern hatten ihren Sohn ursprünglich zu Hause bei sich in Steinkjer beerdigen wollen, da Jack und Beate Lønn, die Leiterin der Kriminaltechnik, noch nicht verheiratet gewesen waren. Sie hatten ja nicht einmal zusammengewohnt. Als die Eltern aber erfuhren, dass Beate schwanger war und im Sommer Jacks Kind zur Welt bringen würde, hatten sie sich darauf geeinigt, ihn in Oslo zu beerdigen.

Harry ging in sein neues Büro, das für ihn wohl immer so heißen würde. Schließlich hieß auch das fünfzig Jahre alte Stadion des FC Barcelona auf Katalanisch noch immer Camp Nou, das »neue Stadion«. Er ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen und schaltete das Radio ein, während er den Bildern zunickte, die auf dem obersten Regalbrett an der Wand lehnten. Irgendwann in ferner Zukunft, wenn er einmal daran dachte, Nägel zu kaufen, würde er sie aufhängen. Ellen Gjelten, Jack Halvorsen und Bjarne Møller. In dieser Reihenfolge standen sie da, chronologisch. Der Club der toten Polizisten.

Im Radio redeten norwegische Politiker und Soziologen über die Präsidentenwahl in Amerika. Harry erkannte die Stimme von Arve Støp, dem Verleger des Erfolgsmagazins »Liberal«. Er galt als einer der kompetentesten, arrogantesten und unterhaltsamsten Meinungsbildner. Harry drehte die Lautstärke auf, bis die Stimmen durch den Raum hallten, nahm die Peerless-Handschellen von der Tischplatte seines neuen Schreibtisches und übte sich im Speedcuffing am Tischbein, das schon ganz zersplittert war. Angewöhnt hatte Harry sich diese Unsitte auf einem FBI-Kurs in Chicago, wobei er die Technik im Laufe der einsamen Abende in einer heruntergekommenen Wohnung in Cabrini Green noch perfektioniert hatte, begleitet vom Streiten der Nachbarn und mit Jim Beam als einziger Gesellschaft. Es ging dabei darum, die geöffneten Handschellen so um das Handgelenk des Häftlings zu schlagen, dass der gefederte Riegel herumschwang und auf der anderen Seite des Handgelenks arretierte. Mit Präzision und dem richtigen Schwung konnte man sich so an einen Häftling ketten, bevor dieser überhaupt reagieren konnte. Harry hatte das beruflich noch nie gebraucht, und auch das andere, das er dort gelernt hatte, war ihm erst ein einziges Mal von Nutzen gewesen: wie man einen Serienmörder festnimmt. Die Handschellen schlossen sich klickend um das Tischbein, während man im Hintergrund die Stimmen im Radio hörte:

»Wie lässt sich Ihrer Meinung nach die Skepsis erklären, die man hierzulande George Bush entgegenbringt, Arve Støp?«

»Wir sind ein überbehütetes Land, das im Grunde nie in irgendeinem Krieg gekämpft hat. Das haben wir immer schön den anderen überlassen. England, der Sowjetunion und den USA, ja, eigentlich verstecken wir uns seit den Kriegen Napoleons hinter dem Rücken unserer großen Brüder. Norwegens Sicherheit baut auf der Gewissheit auf, dass die anderen schon einschreiten werden, wenn es darauf ankommt. Das läuft bereits so lange so, dass wir den Blick für die Realität verloren haben und glauben, die Erde sei im Grunde bloß von Menschen bevölkert, die uns – dem reichsten Land der Welt – nur Gutes wollen. Norwegen ist eine plappernde, strohdumme Blondine, die sich in irgendeinem Hinterhof in der Bronx verlaufen hat und sich jetzt darüber entrüstet, wie brutal ihr Leibwächter mit den Leuten umspringt, die sie überfallen wollten.«

Harry wählte Rakels Nummer. Neben der von Søs war Rakels Nummer die einzige, die er auswendig wusste. Als er noch jung und unerfahren gewesen war, hatte er geglaubt, ein schlechtes Gedächtnis sei ein Handicap für einen Ermittler. Mittlerweile wusste er es besser.

»Und dieser Leibwächter ist George Bush und die USA?«, fragte der Moderator.

»Ja, Lyndon B. Johnson hat einmal gesagt, die USA haben sich diese Rolle nicht ausgesucht, sondern ganz einfach eingesehen, dass es sonst niemanden gibt, der sie übernehmen könnte, und damit hat er recht. Unser Leibwächter ist ein frisch bekehrter Methodist, ein Kerl mit Vaterkomplex, einem Alkoholproblem, begrenzter Intelligenz und so wenig Rückgrat, dass er nicht einmal seinen eigenen Militärdienst anständig zu Ende gebracht hat. Kurz gesagt, ein Mann, über dessen heutige Wiederwahl wir uns freuen sollten.«

»Ich gehe davon aus, dass Sie das ironisch meinen?«

»Überhaupt nicht. Ein derart schwacher Präsident hört auf seine Berater, und die sind nirgendwo besser als im Weißen Haus. Auch wenn man durch diese lächerliche Fernsehserie über das Oval Office den Eindruck bekommt, die Demokraten hätten das Monopol für Intelligenz, findet man die schärfsten Denker in Wirklichkeit im äußersten rechten Flügel der Republikaner. Norwegens Sicherheit ist in den besten Händen.«

»Eine Freundin von einer Freundin von mir hat Sex mit dir gehabt.«

»Ach wirklich?«, fragte Harry.

»Nicht mit dir«, sagte Rakel. »Ich rede mit dem anderen bei dir im Zimmer. Mit diesem Støp.«

»Sorry.« Harry drehte das Radio leiser.

»Nach einem Vortrag in Trondheim. Er hat sie in sein Zimmer eingeladen. Sie war durchaus interessiert, hat ihn aber darauf hingewiesen, dass sie eine amputierte Brust hatte. Er hat sich daraufhin ein bisschen Bedenkzeit erbeten und ist zurück in die Bar gegangen, dann aber doch wiedergekommen und mit ihr nach oben verschwunden.«

»Hm, ich hoffe, es hat den Erwartungen entsprochen?« »Nichts entspricht den Erwartungen.«

»Nein«, pflichtete Harry ihr bei und fragte sich, worüber sie eigentlich gerade redeten.

»Wie sieht es mit heute Abend aus?«, fragte Rakel.

»Acht Uhr im Palace Grill ist gut. Aber was soll denn dieser Unsinn, dass man da nicht reservieren kann?«

»Ich denke, das soll dem Ganzen einen etwas exklusiveren Touch geben.«

Sie verabredeten sich in der Bar nebenan. Nachdem sie aufgelegt hatten, blieb Harry nachdenklich sitzen. Sie hatte glücklich geklungen. Unbeschwert. Gutgelaunt. Er fragte sich, ob er sich für sie freuen konnte. Was empfand er dabei, dass die Frau, die er so über alles geliebt hatte, jetzt mit einem anderen Mann glücklich war? Rakel und er hatten ihre Zeit gehabt, und auch er hatte seine Chancen bekommen. Und sie vertan. Warum sollte er also nicht glücklich darüber sein, dass es ihr gutging? Warum nicht endlich den Gedanken begraben, dass alles auch so ganz anders hätte laufen können? Warum konnte er in seinem Leben nicht endlich einen Schritt weiterkommen? Er nahm sich selbst das Versprechen ab, sich noch ein bisschen mehr Mühe zu geben.

Die morgendliche Dienstbesprechung war rasch überstanden. Gunnar Hagen – Kriminaloberkommissar und Dezernatsleiter – ging die aktuellen Fälle einzeln durch. Es lag nicht viel an, denn zurzeit hatten sie keinen Mordfall auf dem Tisch, und nur solche Fälle hielten die Abteilung wirklich in Atem. Thomas Helle von der Vermisstenstelle der Kriminalwache war auch anwesend. Er berichtete von einer Frau, die jetzt schon ein Jahr lang vermisst wurde. Keine Spur von einem Gewaltverbrechen, keine Hinweise auf einen möglichen Täter und keine Spur von ihr. Die Hausfrau und Mutter war zuletzt gesehen worden, als sie ihre Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, morgens in den Kindergarten gebracht hatte. Ihr Ehemann und ihr gesamter Bekanntenkreis hatten ein Alibi, von ihnen kam definitiv niemand als Täter in Frage. Man einigte sich darauf, dass das Dezernat für Gewaltverbrechen den Fall unter die Lupe nehmen sollte.

Magnus Skarre richtete einen Gruß von Ståle Aune aus – dem Psychologen, der immer wieder für das Dezernat arbeitete. Er hatte ihn im Ullevål-Krankenhaus besucht. Harry spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Ståle Aune war nicht nur sein Berater bei gewissen Kriminalfällen, sondern auch seine persönliche Stütze im Kampf gegen den Alkohol, und außerdem der einzige Mensch, den er annähernd als seinen Freund bezeichnen konnte. Es lag schon eine Woche zurück, dass Aune mit unklarer Diagnose eingeliefert worden war. Trotzdem war es Harry noch nicht gelungen, seinen Widerwillen gegen Krankenhäuser zu überwinden. Mittwoch, dachte er. Oder Donnerstag.

»Wir haben eine neue Kommissarin«, verkündete Gunnar Hagen. »Katrine Bratt.«

Eine junge Frau in der ersten Reihe erhob sich unaufgefordert, allerdings ohne zu lächeln. Sie war sehr hübsch. Hübsch, aber sie betont es nicht, dachte Harry. Dünne, fast strähnige Haare hingen leblos um das ebenmäßige, blasse Gesicht mit dem ernsten, eher müden Ausdruck, der Harry schon bei anderen bildschönen Frauen aufgefallen war. Sie waren es schon so gewohnt, angestarrt zu werden, dass sie sich längst nicht mehr darum kümmerten. Katrine Bratt trug ein blaues Kostüm, das ihre Weiblichkeit betonte, aber die dicken, schwarzen Strümpfe unter dem Rock und die praktischen Stiefeletten widerlegten jeden Verdacht, sie könnte diese Wirkung kalkuliert haben. Statt sich wieder zu setzen, blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen, als hätte sie sich erhoben, um die anderen zu betrachten, und nicht umgekehrt. Harry schätzte, dass sie sich ihre Kleidung und ihr Auftreten an diesem ersten Tag gut überlegt hatte.

»Katrine war vier Jahre bei der Kriminalpolizei in Bergen, wo sie hauptsächlich mit Sittlichkeitsverbrechen zu tun hatte, aber sie hat auch eine Zeit im dortigen Dezernat für Gewaltverbrechen gearbeitet«, fuhr Hagen fort und blickte dabei auf einen Zettel, auf dem Harry einen Lebenslauf vermutete. »Juraexamen an der Uni Bergen, 1999, Polizeihochschule und jetzt also Kommissarin bei uns. Sie hat vorläufig keine Kinder, ist aber verheiratet.«

Eine der beiden schmalen Augenbrauen von Katrine Bratt hob sich kaum merkbar. Hagen musste das gesehen oder sonst irgendwie bemerkt haben, dass der letzte Teil der Information überflüssig gewesen war, denn er fügte rasch hinzu:

»... sollte sich jemand dafür interessieren.«

Das drückende Schweigen, das darauf folgte, sagte Hagen vermutlich, dass er mit seiner letzten Bemerkung alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Er räusperte sich zweimal kräftig und verkündete dann, dass sich all jene, die sich noch nicht für die Weihnachtsfeier angemeldet hätten, das noch bis Mittwoch tun könnten.

Stühle wurden gerückt, und Harry war bereits auf dem Flur, als er hinter sich eine Stimme hörte:

»Ich gehör dann wohl dir.«

Harry drehte sich um und blickte in Katrine Bratts Gesicht. Unwillkürlich fragte er sich, wie hübsch sie wohl wäre, wenn sie es darauf anlegen würde.

»Oder du mir«, sagte sie und zeigte eine Reihe weißer Zähne, doch ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Je nachdem.« Ihr moderater Bergener Dialekt ließ Harry vermuten, dass sie aus Fana, Kalfaret oder einer anderen bürgerlichen Gegend stammte.

Er ging weiter, und sie holte ihn mit ein paar schnellen Schritten ein: »Scheint so, als hätte der Kriminaloberkommissar dich nicht informiert.«

Sie sprach Hagens Amtstitel übertrieben deutlich aus.

»Aber du sollst mich in den nächsten Tagen hier ein bisschen einweisen. Bis ich alleine laufen kann. Was meinst du, kriegst du das hin?«

Harry musste lächeln. Sein erster Eindruck von ihr war positiv, aber man musste mit allem rechnen. Harry war immer bereit, seinen Mitmenschen eine Chance einzuräumen, auf der Schwarzen Liste zu landen.

»Ich weiß nicht«, meinte er und blieb vor der Kaffeemaschine stehen. »Lass uns mal hiermit anfangen.«

»Ich trinke keinen Kaffee.«

»Egal. Die ist selbsterklärend. Wie auch das meiste andere hier. Was hältst du von dieser Vermisstensache?«

Er drückte auf den Knopf für »Americano«, eine Brühe, die etwa so amerikanisch war wie der Kaffee auf den norwegischen Fähren.

»Was soll ich davon halten?«

»Glaubst du, sie lebt noch?« Harry versuchte sich möglichst neutral auszudrücken, damit sie nicht spürte, dass er sie auf die Probe stellte.

»Hältst du mich für blöd?«, fragte sie und sah mit unverhohlenem Abscheu zu, wie die Maschine hustend ein schwarzes Gebräu in den weißen Plastikbecher spuckte. »Hast du nicht zugehört? Der Kriminaloberkommissar hat doch gesagt, dass ich vier Jahre bei der Sitte gearbeitet habe.«

»Hm«, machte Harry. »Tot?«

»Wie ein eingelegter Hering«, sagte Katrine Bratt.

Harry nahm den weißen Becher. Plötzlich hatte er das Gefühl, er könnte gerade eine Kollegin bekommen haben, die er schätzen konnte.

 

Als Harry am Nachmittag nach Hause ging, war der Schnee auf dem Bürgersteig und der Straße geschmolzen. Die dünnen, leichten Flocken, die durch die Luft wirbelten, wurden vom nassen Asphalt aufgesaugt, kaum dass sie sich darauf niedergelassen hatten. Er ging in seinen angestammten Plattenladen auf der Akersgata und kaufte die neueste CD von Neil Young, obwohl er den Verdacht hatte, dass die gar nicht so gut war.

Als er die Tür seiner Wohnung aufschloss, spürte er, dass irgendetwas verändert war. Es klang anders. Oder es roch anders. An der Schwelle zur Küche blieb er wie angewurzelt stehen. Auf einer Seite fehlte die gesamte Wand. Das heißt, dort, wo noch am Morgen eine helle, geblümte Tapete auf einer Wand aus Rigipsplatten gewesen war, starrte er jetzt auf rostrote Ziegel, grauen Mörtel und ein graugelbes Geflecht mit Nagellöchern. Auf dem Boden stand der Werkzeugkoffer des Pilzmannes, und auf dem Küchentisch lag ein Zettel, dass er morgen früh wiederkäme.

Er ging ins Wohnzimmer und legte die Neil-Young-CD ein. Eine Viertelstunde später nahm er sie deprimiert wieder aus dem Player und legte stattdessen Ryan Adams auf. Wie aus dem Nichts meldete sich der Wunsch, etwas zu trinken. Harry schloss die Augen und starrte auf das tanzende Muster aus Blut und schwarzer Blindheit. Wieder dachte er an den Brief. Den ersten Schnee. Toowoomba.

Das Klingeln des Telefons schnitt durch Ryan Adams’ »Shakedown On 9th Street«.

Eine Frauenstimme stellte sich als Oda aus der »Bosse«-Redaktion vor und fragte, ob er sich noch an sie erinnere. Harry erinnerte sich nicht mehr an sie, wohl aber an die Sendung. Sie hatten ihn im Frühjahr einmal eingeladen, um etwas über Serienmörder zu erzählen, da er der einzige norwegische Polizist war, der jemals beim FBI gewesen war, dieses Thema speziell studiert und überdies schon einmal einen echten Serienmörder gejagt hatte. Harry war damals dumm genug gewesen, die Einladung anzunehmen. Damals hatte er sich eingeredet, er hätte es getan, um etwas Wichtiges und einigermaßen Qualifiziertes über Menschen zu sagen, die töteten – und nicht etwa, um selbst in der populärsten Talkshow des Landes aufzutreten. Im Nachhinein war er sich da nicht mehr so sicher gewesen. Aber das war noch gar nicht das Schlimmste. Viel übler war die Tatsache, dass er sich vor der Sendung einen Drink genehmigt hatte. Harry war damals überzeugt, es sei wirklich nur einer gewesen, doch während der Sendung hatte es so ausgesehen, als hätte er mindestens fünf intus. Seine Aussprache war wie immer deutlich gewesen, aber sein Blick verschleiert und seine Analysen oberflächlich. Seine Schlussfolgerungen war er ganz schuldig geblieben, weil der Moderator da schon einen frischgebackenen Europameister in der Disziplin Blumendekoration in Empfang hatte nehmen müssen. Harry hatte das nicht kommentiert, mit seiner Körpersprache aber mehr als deutlich gezeigt, was er von der Blumendebatte hielt. Als der Talkmaster ihn lächelnd fragte, welche Beziehung ein Kommissar des Morddezernats zu norwegischer Blumendeko habe, antwortete Harry, die Kränze auf den norwegischen Beerdigungen nähmen im internationalen Vergleich sicher einen vorderen Platz ein. Vielleicht hatte er es seiner leicht angeschickerten Nonchalance zu verdanken, dass er die Lacher im Studio auf seiner Seite hatte und der Produzent ihm nach der Sendung auf die Schulter klopfte. Er habe seine Message rübergebracht, hieß es. Und dann war er noch mit einer kleinen Gruppe ins Kunsternes Hus gegangen, wo man ihm reichlich Drinks ausgab. Als er am nächsten Tag aufwachte, verlangte sein Körper mit jeder Faser nach mehr, schrie nach mehr. Da es ein Samstag war, saß er bis Sonntagabend im Schröders und trank Bier, bis Rita, die Bedienung, bei Kneipenschluss zu ihm kam und ihm mit Hausverbot drohte, falls er sich jetzt nicht endlich auf den Heimweg machte. Am nächsten Morgen erschien Harry pünktlich um halb acht auf der Arbeit. Wenn auch niemand Nutzen von einem Polizeiermittler hatte, der nach der Morgenbesprechung ins Waschbecken kotzte, sich an den Bürostuhl klammerte, Kaffee trank, rauchte und sich wieder übergab, dieses Mal in ein Klo. Doch das war der letzte Rückfall gewesen, seit April hatte er keinen Tropfen mehr angerührt.

Und jetzt wollten sie ihn also wieder im Fernsehen haben.

Die Frau erklärte, es gehe um den Terrorismus in den arabischen Ländern und um die Frage, wie aus gebildeten Menschen der Mittelklasse plötzlich Mordmaschinen wurden. Harry unterbrach sie, noch bevor sie zum Ende gekommen war.

»Nein.«

»Aber wir hätten dich so gerne hier, du bist so … so … Rock ’n’ Roll.« Sie lachte mit einer Begeisterung, über deren Echtheit er sich nicht im Klaren war, aber jetzt erkannte er ihre Stimme. Auch sie war an diesem Abend im Kunsternes Hus gewesen. Sie war auf eine jugendliche, etwas langweilige Art hübsch gewesen, hatte auf eine jugendliche, etwas langweilige Art geredet und Harry gierig angestarrt. So wie eine exotische Speise, von der sie nicht wusste, ob sie nicht zu exotisch für sie war.

»Ruf jemand anders an«, empfahl Harry und legte auf. Dann schloss er die Augen und hörte Ryan Adams fragen: »Oh, baby, why do I miss you like I do?«

 

Der Junge blickte zu dem Mann auf, der neben ihm an der Anrichte stand. Das Licht aus dem verschneiten Garten fiel auf den kahlen, glänzenden, massiven Schädel seines Vaters. Mama hatte gesagt, Vaters Kopf sei so groß, weil er ein so großer Geist sei. Er hatte sie gefragt, warum er ein Geist sei, aber sie war ihm nur lachend durch die Haare gefahren und hatte gesagt, das sei bei Physikprofessoren nun einmal so. In diesem Augenblick wusch der große Geist Kartoffeln unter fließendem Wasser, bevor er sie mit Schale in einen Kochtopf gab.

»Papa, willst du die denn nicht schälen? Mama macht das immer...«

»Deine Mutter ist nicht hier, Jonas. Also machen wir das jetzt auf meine Weise.«

»Wie fleißig ihr seid!«

Jonas konnte das Lächeln in ihrer abgehetzten Stimme hören, während er hastig Tassen und Besteck zum Tisch trug.

»Und was ihr für einen schönen großen Schneemann gebaut habt!«

Jonas drehte sich fragend zu seiner Mutter um, die sich den Mantel aufgeknöpft hatte. Sie war so schön. Ihre Haut und ihre Haare waren dunkel wie seine, aber in ihren Augen lag fast immer eine unglaubliche Zärtlichkeit. Fast immer. Sie war nicht mehr so dünn wie auf dem Hochzeitsfoto mit Vater, aber er merkte, dass sich die Männer nach ihr umdrehten, wenn sie in der Stadt waren.

»Wir haben aber gar keinen Schneemann gebaut«, sagte Jonas.

»Nicht?« Die Mutter runzelte die Stirn und befreite sich von dem langen rosa Schal, den sie von ihm zu Weihnachten bekommen hatte.

Vater trat ans Küchenfenster. »Das müssen die Nachbarjungs gewesen sein«, mutmaßte er.

Jonas kletterte auf einen Stuhl und sah nach draußen. Und tatsächlich, auf der Wiese direkt vor dem Haus stand ein Schneemann. Er war wirklich groß, wie Mutter gesagt hatte. Mit Augen und Mund aus Kieselsteinen und einer Möhrennase. Doch er hatte weder Hut noch Mütze oder Schal und auch nur einen Arm. Einen dünnen Zweig, der, wie Jonas glaubte, aus der Hecke stammte. Aber irgendetwas war an diesem Schneemann merkwürdig. Er stand falsch herum. Jonas hätte nicht erklären können, warum, aber ein Schneemann sollte doch in Richtung Straße blicken, ins Freie.

»Wieso«, begann Jonas, wurde aber von seinem Vater unterbrochen:

»Ich muss wohl mal ein Wörtchen mit denen reden.«

»Warum?«, fragte Mama vom Flur. Jonas konnte hören, wie sie den Reißverschluss der hohen schwarzen Stiefel aufzog. »Das macht doch nichts.«

»Ich will nicht, dass die einfach so bei uns auf dem Grundstück herumrennen. Ich kümmere mich drum, wenn ich wiederkomme.«

»Wieso guckt der nicht zur Straße?«, wollte Jonas wissen. Mutter seufzte auf dem Flur. »Und wann kommst du wieder, Liebling?«

»Irgendwann morgen.«

»Um wie viel Uhr?«

»Wieso? Hast du eine Verabredung?« Die Stimme seines Vaters klang mit einem Mal so leichthin, dass es Jonas schauderte.

»Nein, ich dachte bloß, dass ich dann ja das Essen fertig haben könnte«, erwiderte seine Mutter und kam in die Küche. Sie trat an den Herd, warf einen Blick in die Töpfe und drehte zwei Platten höher.

»Mach du nur das Essen«, sagte sein Vater und drehte sich zu dem Zeitungsstapel auf der Anrichte um. »Ich komm dann schon irgendwann.«

»Na gut.« Sie trat hinter ihn und drückte sich von hinten an ihn. »Aber musst du denn wirklich schon heute Abend abreisen?«

»Meine Gastvorlesung ist morgen früh um acht«, erklärte der Vater. »Und vom Flughafen bis zur Uni brauche ich eine Stunde, ich würde das nicht schaffen, nicht mal mit dem ersten Flieger morgen früh.«

Jonas sah an den Nackenmuskeln seines Vaters, wie er sich entspannte. Seine Mutter hatte wieder einmal die richtigen Worte gefunden.

»Warum guckt der Schneemann zu uns in Haus?«, wiederholte Jonas seine Frage.

»Geh und wasch dir die Hände!«, befahl die Mutter.

 

Sie aßen schweigend. Nur einmal fragte Mutter, wie es in der Schule gewesen war, und Jonas gab darauf wie immer nur eine kurze, vage Antwort. Er wusste, dass zu detaillierte Antworten zu unangenehmen Nachfragen seines Vaters führen konnten, der dann immer wissen wollte, was sie auf dieser traurigen Schule denn eigentlich lernten – oder nicht lernten. Wenn er ihn nicht gar zu verhören begann: mit wem er gespielt hatte, was dessen Eltern taten und woher sie kamen. Fragen, auf die Jonas zum Ärger seines Vaters nie die richtigen Antworten wusste.

Nachdem Jonas ins Bett gegangen war, hörte er, wie sich sein Vater unten von seiner Mutter verabschiedete. Danach fiel die Tür ins Schloss, und kurz darauf hörte er draußen das Auto starten und fortfahren. Jetzt waren sie wieder allein. Mutter schaltete den Fernseher ein. Ihm fiel ein, was sie ihn gefragt hatte: warum er so gut wie nie mehr einen Spielkameraden mit nach Hause brachte? Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte, schließlich wollte er sie ja nicht traurig machen. Stattdessen war er jetzt traurig. Er biss sich in die Innenseiten seiner Wangen, spürte den angenehmen Schmerz bis in die Ohren ausstrahlen und starrte auf die Metallstangen des Mobiles, das unter der Zimmerdecke schwebte. Dann stand er auf und trat ans Fenster.

Der Schnee, der im Garten lag, reflektierte so viel Licht, dass Jonas den Schneemann erkennen konnte. Er sah einsam aus. Jemand hätte ihm einen Schal und eine Mütze geben sollen. Und vielleicht einen Besen, an dem er sich festhalten konnte. Im gleichen Moment kam der Mond hinter den Wolken zum Vorschein, so dass die schwarzen Zähne aufblitzten. Und die steinernen Augen. Unwillkürlich hielt Jonas die Luft an und trat zwei Schritte zurück. Diese funkelnden schwarzen Augen starrten nicht einfach nur die Hauswand an, sie sahen hoch zu ihm. Jonas zog die Gardine zu und kroch wieder ins Bett.