Es platscht ziemlich laut, als Rose mit dem Po voran im Fluss landet. Immerhin leuchtet ihre Taschenlampe noch. Auch als Rose wiederauftaucht. Ich wringe das Wasser aus meinen Haaren und schaue auf das Loch in der Decke. Die Herzkönigin wird uns doch nicht hängen lassen?
»Alles gut. Der Weg ist frei!«, ruft Rose, bevor sie meine Hand ergreift und sich ans Ufer ziehen lässt.
Nichts passiert. Da die erste Taschenlampe davongeschwommen ist, öffne ich meinen Rucksack, um eine Mini-Taschenlampe hervorzuziehen. Die hatte ich als Ersatz eingeplant. Wenn unser Taschenlampenverschleiß in diesem Tempo voranschreitet, stehen wir demnächst allerdings wortwörtlich im Dunkeln. Immerhin scheint das Innere des Rucksacks nur leicht durchnässt zu sein. Dafür tropfe ich umso mehr bei jeder Bewegung. Selbst aus meinen Wimpern rinnen kleine Sturzbäche.
Wasser spritzt und ich begreife, dass sich die Herzkönigin endlich ein Herz gefasst hat. Bei Frau Holle, Spiegleins Wortspiele färben wirklich auf mich ab. Ich verdrehe die Augen und schalte die Lampe ein.
»Oh, gut, dass dir auch endlich mal ein Licht aufgeht, Red.« Die Herzkönigin, die gerade in Richtung Ufer krault, grinst mich an und ich habe auf einmal das Gefühl, dass es gar nicht genug dumme Witze auf ihre Kosten geben kann.
»Hmpf«, brumme ich, überlasse es dann Rose, die Königin aus dem Wasser zu hieven.
»Ups«, sagt Rose und die Königin plumpst zurück in den Fluss. »Da hab ich deine Hand wohl nicht richtig zu fassen bekommen.« Sie zwinkert mir zu.
Daraufhin versucht es die Herzkönigin aus eigener Kraft, die Augen starr auf das Steinufer gerichtet.
Ich bin sicher, wenn es hier Haie gäbe, die Herzkönigin hätte sie gebeten, Rose und mich zu fressen.
Endlich hat sich die Mini-Königin aus dem Flussbett gestemmt, steht tropfnass vor mir, wobei sie mir mit glatten Haaren voller Wasser und ohne die übliche Turmfrisur kaum bis zum Brustansatz reicht. »Zwergenkönigin« bekommt hier eine ganz neue Bedeutung.
»Schubs sie wieder rein«, wispert die Grinsekatze an meinem Ohr. Ihr Schwanz streift meine Wange, weshalb ich sie von meiner Schulter scheuche und erst einmal Katzenhaare aus meinem Mund pulen muss.
Immerhin ist es hier unten so heiß, dass unsere Kleider in Windeseile trocken sein werden.
»Hier drüben«, höre ich Rose rufen. Dankbar für die Ablenkung drehe ich mich um. Rose, bewaffnet mit ihrer Handytaschenlampe, hat einen Gang entdeckt. »Da drin spürt man geradezu die Höllenhitze. Bin sicher, hier geht es lang.«
Die Grinsekatze wird auf ihrem Kopf sichtbar. Sie packt sich einen Zopf von Rose und hält ihn sich selbst wie einen Schnurrbart unter die Nase. »Kein Bier vor vier.«
Da ich die sinnfreien Kommentare der Katze schon lange nicht mehr beachte, straffe ich einfach die Schultern und laufe los. Schließlich ist das hier meine Mission. Mein Drang, für mein Happy End zu kämpfen. Ever, ich komme!
Sobald ich den Gang betrete, fühle ich mich in die Unterwasserhöhlen von Neverland zurückversetzt. Die Höhlen, durch die mich erst vor wenigen Wochen Jaz geführt hat. Jaz … Eine Winzigkeit senke ich den Kopf, unterdrücke ein Seufzen. Obwohl ich es nicht zugeben möchte, fehlt er mir. Seine ganze Art und seine Gesellschaft. Kapt’n James Hook, genannt Jaz, ist in den Tagen vor Evers Tod praktisch nicht von meiner Seite gewichen. Hat auf mich aufgepasst und wusste immer, was ich gerade brauchte.
Allerdings ist er nicht Ever. Mein süßer, verwegener Hipster. Geheimnisvoll, gut aussehend, starrköpfig und ein wenig verrückt – so wie ich … In seiner Nähe hüpft mein Herz. Und mein Herz will nur ihn.
Hinter mir kann ich hören, wie Rose eine Puderdose öffnet. »Hey Spieglein, glaubst du, wir sind auf dem richtigen Weg?«
Nichts passiert.
»Einen Reim. Reim über seine Schönheit, dann kommt er ganz bestimmt«, bemerke ich. Meine Fingerknöchel streifen die Wand, als ich meinen Rucksack richte. Komischerweise fühlt sich das Gestein unter meinen Fingern warm und irgendwie weich an. Als würde es leben. Wie seltsam.
»Spieglein, Spieglein in meiner Dose«, reimt meine beste Freundin daraufhin. Sie unterbricht sich selbst mit einem Gähnen. »Wem gibst du die letzte rote Rose?«
Die Herzkönigin, die unser Schlusslicht bildet, hüstelt. »Als ob wir das nicht wüssten. Jaz natürlich. Und du, Rose, schaust zu viel Der Bachelor.«
»Und du nicht oder wie?«, gibt Rose zurück. »Wer hat denn das Sofakissen vor Anspannung zerrissen, als Prinz Sofian seine letzte Rose vergeben hat?«
Die Königin schweigt. Wohlwissend.
»Zu Diensten«, meldet sich endlich Spieglein. »Na, schon mit dem Latein am Ende oder was?«
Nicht zu fassen, dass er gleich vom Schlimmsten ausgehen muss.
»Nein, genau genommen sind wir recht weit bisher gekommen. Wir haben uns lediglich gefragt, ob du uns sagen kannst, ob wir den richtigen Weg eingeschlagen haben?«
»Sieht es bei euch in der Unterwelt danach aus, als würde GPS funktionieren?«
»Hmpf«, sage ich. Verdammt, ich hätte Fears magisches Wollknäuel mitnehmen sollen. Warum habe ich vor unserem Aufbruch nicht daran gedacht? Wahrscheinlich weil mein ganzer Körper viel zu sehr gezittert hat, als ich meine Sachen gepackt habe.
»Wo genau steckt ihr denn? Beschreibt mal die Umgebung. Man erkennt kaum was durch den Spiegel.«
»Na ja«, sage ich langsam. »Ein dunkler Gang, ziemlich lang, durch den irgendwie rötliches Licht sickert. Die Wände fühlen sich warm an, beinahe lebendig.«
Warum auch immer saugt die Herzkönigin auf einmal scharf die Luft ein. »Und sie kommen gegenwärtig auf uns zu.«
»Was?« Der Sinn ihrer Worte kommt nicht bei mir an. Wie so oft eigentlich.
»Die Wände.«
Ich drehe mich zur Mini-Königin um und bemerke ihre verkniffenen Lippen und ihren Blick, der auf der Wand links von ihr weilt. Jetzt erkenne ich es ebenfalls. Die Wand verschiebt sich. Ganz langsam und irgendwie fast flüssig. Wie gleitendes Lavagestein.
»Die Wände rücken näher!«, rufe ich. »Sie werden uns zerquetschen.«
»In dem Fall würde ich empfehlen, dass ihr rennt«, sagt Spieglein.
»Und in welche Richtung? Spieglein, wo kommen wir schneller wieder raus?«
»Kann ich dir nicht sagen, aber auf das Licht zuzurennen erscheint mir eine gute Idee. Zumal sich der Gang womöglich für immer schließt und ihr keine zweite Chance bekommt. Das ist sicher ein Test.«
Ein Test. Vom Teufel höchstpersönlich?
»Und ihr besteht ihn nur, wenn ihr überlebt.«
Sehr hilfreich! Aber da beschleunige ich bereits meine Schritte. In Richtung Hölle. Nicht zurück. »Los, kommt! Wir können das schaffen!«
Hinter mir höre ich die anderen losrennen. Die Katze faucht.
»Ein Test!«, jammert die Herzkönigin. »Wenn ich wegen euch sterbe …«
»Was dann?«, bellt Rose zurück. »Bringst du uns um? Da musst du dich wirklich ganz weit hintenanstellen, klar? Und jetzt halt die Klappe und lauf.«
Ungewohnterweise hält tatsächlich daraufhin jeder den Mund, während wir um unser Leben rennen. Ist schätzungsweise das erste Mal seit Langem. Kein Geplapper, nur keuchender Atem schallt von den Wänden. Zentimeterweise schieben sie sich näher. Immer noch ist kein Ende des Gangs in Sicht. Ob er überhaupt irgendwo hinführt? Oder rennen wir gerade in unser Verderben? Mittlerweile sind wir viel zu weit vom Fluss entfernt, als dass wir den Rückweg in einem Stück schaffen würden. Nein, unmöglich. Der Point of no Return ist längst erreicht.
»Lebt ihr noch?«, will Spieglein wissen, gerade als ich die Ellenbogen einziehen muss, da die Enge im Schacht immer beklemmender wird. »Es ist so dunkel bei euch. Ich kann überhaupt nicht sehen, ob ihr schon plattgedrückt wurdet.«
Ich verdrehe die Augen, bin allerdings zu sehr mit Überleben beschäftigt, um meine Energie an Spieglein zu verschwenden. Das muss warten.
Die Herzkönigin knurrt.
Rose und die Katze keuchen synchron.
»Weißt du, wenn du nicht so dämlich gewesen wärst, dir den Feenzauberstab von Jasmin abluchsen zu lassen, könntest du vielleicht mit Magie etwas bewirken.«
Spiegleins Einwand lässt meine Nasenflügel beben, dennoch beschließe ich, ihn wie ein Störgeräusch auszublenden.
»Sterben wir, Red?« Die Stimme meiner besten Freundin klingt ganz dünn.
»Nein. Halt durch. Da vorne ist Licht.«
Gut, genau genommen war da vorne immer Licht. Könnte im Prinzip nicht mehr als eine Sinnestäuschung sein. Aber ich muss an uns glauben.
Zwei Atemzüge später wird mir klar, dass es keine Sinnestäuschung ist. »Leute, kein Spaß jetzt, da vorne sehe ich das Ende! Eine Höhle mit Licht. Endspurt. Gebt alles, wir schaffen das!«
Eigentlich bin ich mir gar nicht sicher, ob wir das schaffen, schließlich scheint der Weg bis zum Licht noch unendlich weit zu sein. Bloß irgendwie muss ich ja verhindern, dass hier jemand draufgeht. Hoffentlich reicht mein Pep-Talk dafür aus.
»Oh, das wird knapp«, stöhnt die Herzkönigin. »Das ist ein wirklich schlechter Tag zum Sterben.«
»Ja«, pflichtet ihr die Katze reichlich kurzatmig bei. »Und wer würde kommen, um mit dem Teufel um unser Leben zu feilschen?«
»Das würde sowieso nicht für uns alle funktionieren. Die drei goldenen Haare wachsen nicht schnell genug nach. Habt ihr dem Whistle-Blower nicht zugehört?«
Ist das eine ernst gemeinte Frage? Allerdings zerstört die Herzkönigin damit all unsere Illusionen.
Spieglein räuspert sich zufrieden, offensichtlich in der Gewissheit, wenigstens von einer Person in dieser Gruppe ernst genommen zu werden.
Ich verscheuche den Gedanken, bin zu sehr damit beschäftigt, gegen mein Seitenstechen anzuatmen. Wir müssen das Ende des Gangs erreichen! Alles andere verschwimmt in einer Art Nebel. Alles abseits meines Überlebenswillens. Niemand sagt mehr etwas. Lediglich Gekeuche schallt durch den Tunnel. Wir müssen es packen. Leider wird es auf einmal zu eng zum Rennen. Ich muss seitlich hüpfen und die Hände ganz nah am Körper halten. Meine Handflächen sind viel zu schwitzig und ich spüre, wie mir kleine feuchte Rinnsale sowohl den Nacken als auch mein Schlüsselbein hinunterlaufen. Nicht mehr als ein paar Schritte, dann ist es geschafft. Meine Haut schrappt über den Stein, als ich mich nur noch schwerlich vorwärtsschieben kann, sogar die Luft anhalten muss. Die Wände pressen mich zusammen wie Gretel ihre Gäste in ihren Assitoastern. Bloß fester. Viel, viel fester. Und dann erkenne ich einen Raum, der sich vor mir auftut. Dort endet der Tunnel! Ich kann unser Glück kaum fassen. Gleich haben wir es! In der Tat ist es wirklich nicht mehr weit, als ich plötzlich feststecke. Bei allen bösen Stiefmüttern! So knapp. Meine Muskeln schmerzen, dermaßen heftig werde ich zusammengequetscht. Das war’s also. Innerhalb einer Millisekunde sehe ich mein baldiges Ende vor mir. Ein Fettfleck an der Wand. Nicht mehr und nicht weniger.
»Red, halt die Luft an!«, brüllt die Herzkönigin, bevor mich ein Tritt in die Seite trifft. Sie hat mich getreten!
»Weniger Buttercremetörtchen könnten dir wirklich nicht schaden«, sagt Spieglein. »Oder wenn du dich an Snows Diät halten würdest.«
Leider fehlt mir der Atem, um ihm eine passende Erwiderung an den zweidimensionalen Kopf zu werfen.
Der Tritt der Herzkönigin katapultiert mich aus unserer Mausefalle heraus in eine kreisrunde Höhle, wo ich endlich wieder atmen kann. Dazu muss ich mich allerdings auf den Knien abstützen.
Hinter mir stolpern die Herzkönigin und Rose aus dem Schlitz, zu dem der Tunnel geworden ist. Ich sehe den Kopf der Grinsekatze, ihre Pfoten umklammern Rose’ linke Schulter, aber auf einmal weiten sich ihre Augen und die Pfoten greifen ins Leere. Die Katze steckt fest! Glücklicherweise schaltet Rose schnell. Sie wirbelt herum und packt die Katzenpfötchen, zieht daran. »Vielleicht würde es helfen, wenn du dich unsichtbar machst?«
»Nein«, entgegnet die Königin. »Seine Verwandtschaft mit einem Chamäleon zweiten Grades dürfte nichts zu seinem Überleben beitragen.«
Verflucht, wir dürfen die Katze, wie verrückt sie auch sein mag, nicht in zwei Hälften quetschen lassen.
Ich springe auf und packe das Nackenfell. »Zieh den Bauch ein, Kitty!«
Die Grinsekatze atmet überrascht aus, während Rose und ich an ihrem Fell ziehen. Und endlich, endlich spuckt die Wand die Katze aus. Rose und ich stolpern rückwärts, ich kann mich gerade noch ausbalancieren, doch Rose fällt zu Boden und Grin landet genau auf ihrer Brust. Rose lächelt. »Den Guten Feen sei Dank.« Sie atmet schwer und ich bemerke, dass sie keine Anstalten macht, aufzustehen. Vermutlich braucht sie ein Schläfchen. Eins ihrer Nickerchen. Kurz vor dem Eingang zur Hölle.
»Mädchen, ich denke, da vorne ist es.« Die Augen der Königin sind fest auf eine Art Steintür im Felsen gerichtet. »Zeit, hinab in die Hölle zu steigen.«
Ich folge ihrem Beispiel und richte meinen Blick in dieselbe Richtung. Bei genauerer Betrachtung sehe ich, dass das Antlitz des Teufels in die Steintür gehauen ist. Spitzes Kinn, Ziegenbart, zwei Hörner. Unverkennbar … Und die Augäpfel sind leuchtende Rubine, die fortwährend Lichtimpulse abgeben. Jetzt wird mir klar, woher das pulsierende Licht kommt. Direkt aus den Teufelsaugen.
»Rose, es tut mir leid. Ich fürchte, du musst dich zusammenreißen und aufstehen. Deinen Mittagsschlaf müssen wir auf später verschieben«, sage ich abwesend. Immer noch fesseln mich die leuchtenden Rubine. Sie sind groß wie Babyfäuste. Zudem wirken sie auf schrecklichste Art und Weise lebendig.
Meine beste Freundin seufzt, folgt aber meiner Anweisung und steht auf. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie sie sich das feuchte Kleid glattzupft und die Katze auf ihren Schultern ihre Frisur richtet.
Gerade als ich eine Frage äußern will, neigt Rose den Kopf zur Seite, hebt den Taschenspiegel vom Boden auf und überprüft, ob Spiegleins Antlitz uns immer noch entgegenblickt. Tut es zu meinem Leidwesen.
»Das war jetzt eine Prüfung vor der Prüfung oder wie sehe ich das? Wird die am Ende auf die drei Prüfungen, die Red machen muss, angerechnet?«
Spieglein schnaubt. »Werden dir deine dummen Fragen auf deinen Intelligenzquotienten angerechnet?«
Also nein.
Ich verdrehe die Augen und wünsche mir, dass alle Verrückten uns so schnell wie möglich in Ruhe lassen.
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»Die Feder ist direkt mit dem Blut in deiner Herzarterie verbunden. »Je länger du wartest, desto mehr verlierst du.«
Was?
»Ich würde dir raten, schnell eine Entscheidung zu treffen. Unter sieben Minuten im besten Fall. Sonst wird dein Herz mit zu wenig Blut versorgt und du musst dir keine Sorgen mehr um den Vertrag machen.«
Noch während er es sagt, wird mir schwindelig. Das ist jetzt nicht wahr.
»Genau genommen hat dich das Erscheinen der Feder einen Riss in der Aorta gekostet. An einer Stelle, nicht mehr als ein Teufelshaar von deinem Herzen entfernt.«
Meine Atmung beschleunigt sich. Gleichzeitig fährt ein Schmerz wie der Stich einer Nadel durch meinen Brustkorb.
»Am besten, du liest recht schnell«, empfiehlt der Herrscher der Unterwelt.