Über das Buch

Dass es immer vorwärtsgeht, gehört zu den Überzeugungen der Moderne: Der Rückzug ist nicht vorgesehen. Und doch befindet sich der Westen — seit dem Ende der Kolonialreiche und dem Aufstieg Chinas — auf dem Rückzug. Aber er meidet dieses Wort. Lieber spricht man von einer »Exit-Strategie« oder von der »Globalisierung«, wenn von militärischen Niederlagen oder dem Verlust der Hegemonie auf den Weltmärkten die Rede ist. Wolfgang Schivelbusch zeigt an fünf Beispielen von der Französischen Revolution bis zum Vietnamkrieg, wie der Tabubruch des Rückzugs in unterschiedlichen Situationen gerechtfertigt wurde — und entdeckt verstörende Parallelen zu unserer Gegenwart.

Wolfgang Schivelbusch

Rückzug

Geschichten eines Tabus

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Vorwort: Rückzug

Flucht und Rückzug

Die Revolution bahnt sich an

Die patriotische Unordnung der Revolution

Enthusiasmus

Die Revolution

Napoleon in Russland

Verlierer- und Siegerlegenden: Marne 1914 Dünkirchen 1940

Der geteilte Rückzug: Dünkirchen

Amerika in Vietnam

Der amerikanische Asien-Komplex

Danksagung

Anmerkungen

Personenregister

Vorwort: Rückzug

Vorab ein paar Gemeinplätze.

Was nicht vor- und aufwärts, sondern zurück und abwärts geht, passt nicht ins Konzept des aufgeklärten Fortschritts. Auch das Lächeln über den naiven Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts seitens des vermeintlich nüchterneren 20. ändert daran nichts. Aller Rationalität und historischen Erfahrung ungeachtet, ist das Vorwärts die unverwüstliche, nach wie vor im individuellen und im kollektiven Bewusstsein verankerte Triebrichtung. Begriffe, die auf ein Zurück verweisen — wie Regression, Restauration, Reaktion, Nostalgie — bleiben unabhängig von der politisch-ideologischen Ausgangsposition negativ besetzt. Auch der Konservative strebt kein Zurück in eine glücklichere Vergangenheit an, sondern die Erhaltung des bewährten Gegenwärtigen.

Dieses Büchlein stellt am militärischen Beispiel die Frage nach dem Verhältnis von westlichem Fortschrittstrieb und Rückzugserfahrung. Rückzugserfahrung tritt ein, wenn eine offensive Bewegung — sie sei politisch, religiös, ökonomisch, technisch, kulturell oder militärisch — auf einen ihr überlegenen Widerstand trifft. Beharrt sie, so geht sie das Risiko der Niederlage ein. Im Rückzug vermeidet sie diese Gefahr, riskiert dafür aber, mit der Extremform des Rückzugs, der Flucht, verwechselt zu werden. Wer flüchtet, verliert in allen Kulturen das Gesicht, also die Ehre. Davon handelt das erste Kapitel.

Der Große Rückzug des Westens nach 500 Jahren kolonialer und industrieller Expansion begann nach dem 2. Weltkrieg. Das Scheitern der USA in Vietnam bildete den Schlussakt. Wie dieser langwierigste aller Rückzüge in der Geschichte das amerikanische Selbstbewusstsein erschütterte, davon handelt das letzte Kapitel.

Die Geschichte des Rückzugs als Problem der Moral, die mit dem Vietnamkrieg endet, begann mit der Nationalisierung der Armee in der Französischen Revolution. Seit die Armee die Nation-in-Waffen verkörpert, sind ihre Triumphe, ihre Niederlagen und ihre Rückzüge die der Nation.

In den zwei Jahrhunderten dieser Identifikation herrschte in allen Armeen ein unausgesprochenes Rückzugstabu. Unausgesprochen, weil — dem Denken in der Ökonomie nicht unähnlich — das militärische Heil allein im Vorwärts gesehen wurde. Momentanes — taktisches — Zurückweichen in einem Gefecht oder in einer Schlacht zur Vermeidung einer ungünstigen oder Gewinnung einer vorteilhaften Position war davon nicht betroffen. Die nationale Ehre kam allein im Großen, das heißt strategischen Rückzug ins Spiel, wenn dieser als Schwäche und Versagen der Nation ausgelegt werden konnte.

Die einfachste Form des Rückzugstabus war das Festhalten am gesetzten Ziel um jeden Preis.

Am bekanntesten und berüchtigtsten sind die Rückzugsverbote Hitlers im 2. Weltkrieg. Das erste im Winter 1941, als der deutsche Vormarsch vor Moskau ins Stocken und die Wehrmacht in ihre erste große Krise geriet. Das zweite ein Jahr darauf in Stalingrad. Man hat sie lange mit Hitlers pathologischem Starrsinn und militärischem Dilettantismus erklärt. Neuere Studien sehen es anders. Sie arbeiten den rationalen Kern der bisher als rein irrational beurteilten Hitlerschen Rückzugsrenitenz heraus: Die Befürchtung Hitlers, dass die öffentliche Meinung und die gegnerische Propaganda jedes Zurückweichen als Misserfolg deuten würden. Das genau war, wie wir sehen werden, das gleiche Motiv, das Napoleon seinen Rückzug aus Moskau so lange aufschieben ließ, bis es zu spät war.

Und lag die Hartnäckigkeit Churchills in der kritischen Situation des Sommers 1940, den Kampf kompromisslos bis zum bitteren Ende gegen alle Widerstände im eigenen Lager durchzusetzen, nicht auf derselben Linie wie Hitlers spätere Endkampf-Visionen?

So in der berühmten »We Shall Fight on the Beaches«-Rede:

We shall go on to the end … whatever the cost may be. We shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender.

Wie Hitler — und wie 30 Jahre später die amerikanische Führung in Vietnam — befürchtete er einen Dominoeffekt, wenn er auch nur den Anschein einer Kompromiss- oder Rückzugsbereitschaft erkennen lassen würde.

Ein Wort noch zu einem prominenten nichtmilitärischen Rückzug. Die Revisionismus-Debatte um 1900 markierte in der deutschen Sozialdemokratie den Punkt, an dem ihr langer Vormarsch ins Stocken geraten zu sein schien. Nach der letzten großen Niederlage der Linken in der Pariser Commune 1871 passte sie sich der veränderten Lage an. Sie hörte auf revolutionär zu sein und wurde ›revisionistisch‹. Als Eduard Bernstein diese faktische Wende theoretisch zu begründen und damit einen neuen Anfang zu setzen versuchte, legte die Partei-Orthodoxie ihm dies als Kapitulation aus. Die junge Rosa Luxemburg profilierte sich dabei als Vestalin der Bewahrung der Reinheit der Revolution und des Rückzugstabus.

*

Und heute?

Wenn die Rückzugsphobie im Vietnamkrieg noch einmal einen historischen Höhepunkt erreichte, so scheint sie sich, zumindest für die Weltmacht Amerika, seitdem erschöpft zu haben. Anders ist es nicht zu erklären, dass die späteren und sämtlich erfolglosen Militärinterventionen der USA (Irak, Afghanistan) zu keiner Aufwallung verletzten Nationalstolzes und keinem kompromisslosen Beharren führten. Rückzüge des Westens aus gescheiterten Unternehmen und hoffnungslosen Positionen erfolgen heute unspektakulär, leise, fast unsichtbar. Es gibt dafür sogar einen eigens geschaffenen Neologismus. Das Wort Exit Strategy suggeriert, dass alles — auch das etwaige Misslingen — von Anfang an unter Kontrolle ist.

Von ähnlicher Bedeutung ist der ungefähr zur gleichen Zeit aufgekommene Begriff der Globalisierung. Er ist der Vorhang, hinter dem die simple Tatsache des Rückzugs des Westens aus der Weltherrschaft zum Verschwinden gebracht wird.

Kein Beharren oder gar Pochen auf der verlorenen Position. Sondern unspektakuläres, stilles, fast taschenspielerhaftes Aufgeben solcher Ansprüche, mit der einzigen Erwartung, die Zukunft auf den Rockschößen der neuen Mächte zu erreichen.

Flucht und Rückzug

Es ist ein biologisches Gesetz, dass jeder Organismus vor einer als übermächtig empfundenen äußeren Bedrohung zurückweicht. Diese Bewegung kann die innere Form der Kontraktion, also der Verringerung der bedrohten Angriffsfläche, annehmen oder als Gewinn von Abstand im äußeren Raum — als Flucht — stattfinden. Die Molluske kontrahiert, das höhere Tier flüchtet. Der Mensch hat die Wahl.

Er kann flüchten. Sich dem Kampf stellen. Oder die Form der Selbsterhaltung wählen, die zwischen Flucht und Kampf liegt: den Rückzug. Wie Don Quijote nach einem seiner unglücklich verlaufenen Abenteuer seinem Knappen erklärt:

Wer sich zurückzieht, flieht noch nicht … Ich räume daher auch ein, dass ich mich zurückgezogen habe, aber nicht, dass ich geflohen bin; und hierin habe ich vielen Helden nachgeahmt, die sich für bessere Zeiten aufsparen.

Eine Urszene menschlichen Fluchtverhaltens findet sich im 22. Buch der Ilias. Hektor geht zuversichtlich in den Zweikampf mit Achill vor den Mauern der Stadt. Nichts in seinem früheren Verhalten lässt auf eine weniger als heldenhafte Performance schließen. Wie er selbst erwartet der Hörer oder Leser von dem Epos, dass er dem nach Patroklos’ Tod rachedurstigen Achill todesverachtend entgegentritt. In diesem Sinne verabschiedet er sich von seinen Angehörigen, die ihn vergebens zurückzuhalten suchen.

Dann erfolgt der unerwartete Umschlag. Den Anblick des in schimmernder Rüstung auf ihn zustürzenden Achill erträgt Hektor nicht. Ohne Besinnung ergreift er die Flucht. Es kommt zur Verfolgung. Dreimal umkreisen die beiden die Stadtmauer. Flucht und Verfolgung werden dabei zum athletischen Agon, dem die versammelten Armeen wie Publikum in einem Stadion beiwohnen.

Dieses retardierende Zwischenspiel lässt zeitweise das Skandalon der Heldenflucht in den Hintergrund treten. Im Moment der physischen Erschöpfung Hektors ist dieser Exkurs beendet. Die Urszene tritt erneut in ihr Recht. Hektor richtet einen letzten Friedens- oder vielmehr Gnadenappell an Achill, den dieser kalt zurückweist. Der Rest, einschließlich des hinterhältig-sinntäuschenden Tricks, mit dem Athene Hektor in die tödliche Irre führt, ist bekannt.

Die seit der Antike immer wieder gestellte Frage lautet: Macht die Flucht Hektor zum Feigling? Übereinstimmend verneinen die Homerkommentare diese Möglichkeit. Hektors vorübergehende Schwäche wird so wenig als Feigheit, Gesichtsverlust und Schande gesehen wie Jesu Anrufung Gottes im Garten Gethsemane, ihm den bitteren Kelch der Kreuzigung zu ersparen.

Neben der Flucht Hektors finden sich in der Ilias aber auch andere Weisen, sich in Sicherheit zu bringen. Odysseus und Menelaos weichen vor einer feindlichen Übermacht, die Übermacht auch deshalb ist, weil die Götter auf ihrer Seite stehen. Aber sie rennen nicht davon, sondern bewegen sich rückwärts kämpfend-verteidigend und vor allem: mit dem Gesicht und dem Schild in Richtung des Gegners. Ihr Verhalten ist das Urbild des geordneten Rückzugs. Mit Homers Bild zu sprechen: Sie ziehen sich kämpferisch aus der brenzligen Affäre zurück wie der Löwe vor den die Herde verteidigenden Hirten und Hunden.1 Die Rede vom geordneten Rückzug hat nach den Erfahrungen des totalen Krieges und der totalen Propaganda im 20. Jahrhundert jede Glaubwürdigkeit verloren. Allzu oft diente sie der durchschaubaren Verhüllung tatsächlicher Niederlagen.

Militärisch und militärgeschichtlich hingegen hat sie ihre Gültigkeit behalten. Ein Blick auf die Darstellung des Rückzugs der Grande Armée Napoleons 1812 aus Russland verdeutlicht das. Denn während die allgemeine ›zivile‹ Geschichtsschreibung den Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt dieses Rückzugs, den Übergang über die Beresina, als militärische Katastrophe darstellt, erscheint er in der Militärgeschichte als der größte Geniestreich Napoleons schlechthin, vor Austerlitz, Jena und Auerstedt.

Von der Flucht unterscheidet den Rückzug die Kontrolle, die der Zurückweichende über seine Situation behält. Die Kontrolle setzt die Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung voraus, welche ihrerseits von der Aufrechterhaltung der Disziplin abhängt. Was militärische Ordnung und Disziplin bedeuten, zeigt sich im Moment ihres Zusammenbruchs. Dann verwandelt sich die eben noch kampffähige Einheit in eine gestaltlose Menschenflut. In der antiken Militärliteratur wird eine in Flucht aufgelöste Einheit in der Regel mit Lämmern verglichen, die sich widerstandslos abschlachten lassen.

Das gilt im Übrigen für beide Seiten, den Flüchtenden und den Verfolger. Wie bei Hektor an die Stelle des Heldenmuts die kreatürliche Todesangst (der phobos), so tritt bei Achill an die Stelle der Kriegertugend der gleichermaßen enthemmte Blutrausch (lyssa, von lyxox = Wolf). Wen die lyssa ergreift, hört auf Krieger zu sein und wird Berserker oder Amokläufer.

So konträr Todesangst und Blutrausch zueinander stehen, militärisch wirken sie gleichermaßen destruktiv, weil sie die Grundlage aller militärischen Aktion infrage stellen. Die klassischen griechischen und römischen Anweisungen zur richtigen Kriegsführung verurteilen den aus der Reihe fliehenden Feigling ebenso wie den aus der Reihe tanzenden und den Gegner individuell verfolgenden Krieger. Das byzantinische Strategicon sieht für beide die Todesstrafe vor.

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Den Truppenkörper unter allen Umständen und um jeden Preis als Einheit zusammenzuhalten ist die raison-d’être des Militärischen schlechthin. Vormarsch und Angriff — der winkende und von allen erwartete Sieg — bilden die natürliche Motivations- und Kohäsionskraft. Umgekehrt, wenn sich das Blatt wendet. Jede in ihrem Vormarsch unterbrochene und zum Rückzug gezwungene Truppe erleidet einen Absturz ihrer Moral. Deshalb bezeichnen die Militärtheoretiker aller Zeiten den Rückzug als die schwierigste militärische Operation überhaupt und als wichtigste Voraussetzung ihres Gelingens die Aufrechterhaltung ihrer Einheit, ihrer Ordnung und Disziplin. Johann von Nassau, der Begründer der modernen Militärdisziplin, nennt den Rückzug eine »ebenso große Kunst und Tapferkeit, wo nicht größer, als den Feind freudig anzugreifen«. Und: »einen rechtschaffenen Kapitän (erkennt) man eher bei einer Retraite als einem Angriff«.2

Aber was geschieht eigentlich, wenn eine militärische Einheit sich in Flucht auflöst? Schon der Begriff der Fluchtmasse, den Elias Canetti benutzt, weist darauf hin, dass hier durchaus Einheit und Ordnung herrscht. Zwar nicht die künstlich durch Disziplin geschaffene des Militärs, wohl aber die des biologischen Instinkts, der im entscheidenden Moment an die Stelle des militärischen Drills tritt.

Man flieht zusammen, weil es sich so besser flieht … Solange man beisammen ist, empfindet man die Gefahr als verteilt … Unter so vielen nimmt keiner an, dass er das Opfer ist.3

Das entscheidende Bindemittel wäre also gar nicht die künstlich auferlegte militärische Disziplin, sondern der Instinkt. Er immunisiert die Masse gegen die individuelle Todesfurcht.

Immer handelt die kriegerische Masse so, als wäre außerhalb von ihr Tod.4

Ein Tier, das herausspringt und eine eigene Richtung einschlägt, ist mehr gefährdet als die anderen. Ganz besonders aber fühlt es die Gefahr mehr, weil es allein ist, seine Angst ist größer.5

Was ein französisches Trainingsbuch zu Beginn des 20. Jahrhunderts über den Infanteristen sagt, klingt wie die militärische Anwendung dieses biologischen Prinzips:

Er braucht unbedingt das Gefühl, nicht allein, sondern in Gemeinschaft zu kämpfen.6

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Kernstück der militärischen Revolution der frühen Neuzeit war die Wiederentdeckung und Wiedereinführung der Disziplin nach dem antiken Vorbild der Phalanx und der Legion. Sie setzte an die Stelle der individuell-impulsiv kämpfenden Haufen von Rittern und Landsknechten die mathematisch-geometrisch wie eine Maschine geordnete Infanterieeinheit. Constantia (Beständigkeit, Gleichmut) an die Stelle der Dämonen des phobos und der lyssa zu setzen war das Ziel.

Die constantia manifestiert sich darin, dass keine affektive Bindung die Sachrichtung des Handelns beeinträchtigt.7

Dies galt für den einzelnen Soldaten wie für die aus der Masse der Soldaten gebildete Einheit: wie der Baustein so die Mauer und das Gebäude. Was dem Einzelnen durch Disziplin und Drill eingebläut wurde, führt im Kollektiv zu einer qualitativen Steigerung der Leistungsfähigkeit. Das frühneuzeitliche stehende Heer war tatsächlich ein permanent exerzierendes. Exerzieren aber war die Einübung, das heißt Verinnerlichung vorgeschriebener Bewegungen in den individuellen Soldatenkörper mit dem Ziel, ihn in und mit dem Truppenkörper zu ver- oder in ihn einzuschmelzen.