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Über dieses Buch:

Als Privatermittler kämpft man heldenhaft gegen das Verbrechen – Markus Waldo kämpft aber vor allem mit der Langeweile. Sein neuer Fall: Er soll den heimtückischen Entführer stellen, der es nach Samson und Sascha nun auch auf deren Freunde abgesehen hat. Klingt super, hat aber einen entscheidenden Schönheitsfehler: Bei den Opfern handelt es sich um Kaninchen. Steckt ein anderer Züchter dahinter? Markus Waldo begibt sich auf Spurensuche. Er rechnet nicht damit, dass sein Puls dabei jemals den Ruhewert überschreiten wird … und ganz sicher nicht damit, dass er bald um sein Leben fürchten muss!

»Wenn bei Godazgar gemordet wird, dann tragen die Tatumstände ein Schmunzeln im Gesicht. Beinah unmerklich wird aus der Provinzposse um gestohlenes Kleinvieh eine klassische Tragödie mit actionreichem Finale. Kleine Verbrechen, ja. Aber wäre dieser Krimi ein Film, wäre er großes Kino.« Mitteldeutsche Zeitung

Über den Autor:

Peter Godazgar, geboren 1967, wuchs im nordrhein-westfälischen Hückelhoven auf. Er studierte Germanistik und Geschichte, bevor er die Henri-Nannen-Journalistenschule besuchte und später als Redakteur der Mitteldeutschen Zeitung in Halle an der Saale arbeitete. Heute ist Peter Godazgar stellvertretender Pressesprecher von Halle an der Saale. Für seine Kriminalromane und Kurzgeschichten war er unter anderem für den renommierten Friedrich-Glauser-Preis nominiert und erhielt ein Stipendium der Kunststiftung von Sachsen-Anhalt.

Der Autor im Internet: www.peter-godazgar.de

Bei dotbooks veröffentlichte Peter Godazgar seine Kriminalromane um den Privatdetektiv Markus Waldo: Nur ein Schwein stirbt allein, Tote Fische schwimmen oben und Ein Kaninchen killt man nicht.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2018

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel Unter schrägen Vögeln im Grafit Verlag.

Copyright © der Originalausgabe 2008 by GRAFIT Verlag GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Eric Isselee

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-240-5

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Peter Godazgar

Ein Kaninchen killt man nicht

Kriminalroman

dotbooks.

Kurz nach Mitternacht

Er hob das Messer auf und hielt es in die Höhe. Es wäre natürlich sehr effektvoll gewesen, wenn die fast zwanzig Zentimeter lange Klinge kurz aufgeblitzt hätte, wenn zum Beispiel ein Lichtstrahl auf sie gefallen wäre, aber da war kein Lichtstrahl, leider. Der Mond war vollständig hinter Wolken verborgen und der Schein der beiden kümmerlichen Kerzen, die er vor sich in die Erde gebohrt hatte, war nun wirklich zu schwach.

Jetzt fing es auch noch an zu tröpfeln.

Na prima!

Unter ihm zappelte das Tier.

Er blickte in die Runde.

Armselige Kreaturen allesamt, wie sie da saßen. Er hatte nur Verachtung für sie übrig.

Die Tussi, die ihm direkt gegenüberhockte, sah aus, als würde sie gleich nach hinten wegkippen. Oder ihre Kutte vollkotzen. Wenn er zustach, würde sie ihre Augen schließen, das wusste er genau. Oder sich an ihrem Freund festhalten. Dumme Kuh. Schwarz lackierte Fingernägel und schwarz geschminkte Augen reichen eben nicht, Mylady.

Der Lulatsch, der auf neun Uhr kauerte, hatte seit ein paar Minuten seinen Kehlkopf nicht mehr unter Kontrolle. Er versuchte, in diesen Momenten möglichst cool auszusehen, aber er schluckte dabei, als würde er eine Flasche Bier auf ex in sich hineinschütten. Scheiß drauf, immerhin besorgte der Typ die Viecher.

Leute, Leute, dachte er. Tolle Anhänger Satans seid ihr. Pisst euch allesamt ins Hemd, wenn's ernst wird.

Wenn's ernst wird? Na, wir wollen mal nicht übertreiben.

Wegen eines Hasen.

Was macht ihr eigentlich. wenn's wirklich ernst wird? Demnächst. Wenn das Messer nicht mehr in Tierfell, sondern in Menschenhaut schneidet?

Und dann dieser Vogel auf der anderen Seite. Schien jeden Abend wegzudröseln. Die Augen auf halb acht, den Mund nach vorn gestülpt, hockte er da und schien so unbeteiligt wie die Grabsteine, zwischen denen sie saßen. Und sein Kumpel wirkte auch nicht wie der Erfinder des Geistesblitzes. Blieb bloß Daniel, der ihn verstand. Zu seiner Linken.

Der Regen wurde stärker.

»Bereit?«, fragte er in die Runde und registrierte aus den Augenwinkeln, wie der Pennbruder hochschreckte.

»Bereit, wenn Sie es sind, Sergeant Pembry«, antwortete der Haufen in wackligem Chor.

Der schönste Moment bei jeder Sitzung! Sein ganz persönlicher innerer Vorbeimarsch sozusagen.

Er musste sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten. »Bereit, wenn Sie es sind, Sergeant Pembry« – wunderbar! Offenbar hatte niemand der Dödels Das Schweigen der Lämmer geguckt – außer Daniel natürlich, aber mit dem zusammen hatte er sich die ganze Prozedur ja ausgedacht. Hannibal Lecter sagt den Satz, bevor er seine beiden Wärter umbringt und einem der beiden – dem armen Sergeant Pembry – die Gesichtshaut ab- und sich selbst überzieht. Tolle Szene.

Sie hatten den anderen weisgemacht, Sergeant Pembry sei eine mythologische Figur, die schon im Alten Testament auftaucht, ein Abgesandter Satans. Sie hätten vermutlich auch behaupten können, Sergeant Pembry sei das Mainzelmännchen mit der Brille.

Er blickte auf den Boden.

Das Tier zappelte unablässig.

Blöde Kreatur, dachte er. Kapierst du nicht, dass du festgebunden bist?

Er senkte das Messer und hielt es in die Flamme einer der Kerzen. Die Klinge färbte sich schwarz.

Er wartete ein paar Sekunden, dann hob er das Messer erneut in die Höhe. Er spürte, wie sich in seiner Hose etwas regte.

»Tan-Wat-Hauna!«, rief er.

»Tan-Wat-Hauna!«, echoten die anderen.

Schade, dass ihn nie jemand nach der Bedeutung der Worte gefragt hatte. Er hatte sich mit Daniel darauf geeinigt, dass »Tan-Wat-Hauna« ein zentraler Begriff in einer uralten Sprache eines nordafrikanischen Nomadenvolks sei. »Und es bedeutet: Gelobt sei Sergeant Pembry«, hatte Daniel gequiekt, als sie es sich ausgedacht hatten, und dann hatten sie sich fast nass gemacht vor Lachen.

Er senkte das Messer.

Er dachte an das, was bald kommen würde.

Er würde nicht mehr lange zögern. Er würde Nägel mit Köpfen machen, wie es so schön hieß.

Bald.

Das Messer berührte jetzt das grauschwarze Fell.

Das Tier zappelte.

Er würde sich viel Zeit lassen.

Kapitel 1

Markus Waldo hatte in den vergangenen Jahren weiß Gott oft genug an seiner Berufswahl gezweifelt – doch nie waren die Zweifel so drängend gewesen wie an diesem Donnerstagnachmittag. Rechts neben ihm stand ein Mann, der ein zufriedenes Lächeln in einem faltigen Gesicht und eine Prinz-Heinrich-Mütze auf dem Kopf trug. Vor ihm, in einem von schätzungsweise drei Dutzend kleinen Holzverschlägen, hockten zwei weiße, rammelnde Kaninchen.

»Wa? Da geht's ab, wa?«, sagte der Mann.

Waldo nickte stumm und überlegte, wann es bei ihm zum letzten Mal so abgegangen war.

Er konnte sich nicht erinnern.

Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes verschwand. Er stach mit dem Zeigefinger in Richtung Käfig. »Wenn's bei denen nicht so abgehen würde, könnte ich meine Zucht vergessen!«

Waldo hatte noch nie zwei Kaninchen bei der Paarung beobachtet, aber er sah sofort ein, wie passend der Begriff Rammler für das männliche Tier war. Wirklich ganz und gar erstaunlich, dieses Tempo.

Nach fünf, sechs Sekunden war der Spaß allerdings schon wieder vorbei. Der Rammler löste sich von der Häsin und hoppelte davon. Auch die Häsin machte zwei Hüpfer nach vorn. Beide Tiere hockten nun mümmelnd in ihrem Käfig.

»Jetzt fehlen nur zwei Kumpels zum Skatkloppen und eine Kiste Möhren, was Junge?«, murmelte Waldo, zog ein paarmal abwechselnd den rechten und linken Mundwinkel nach unten und spannte gleichzeitig seine Halsmuskeln an.

»Hä?«, fragte der Mann neben ihm.

»Nix. Eindrucksvolle Vorstellung.« Waldo trat von einem Bein aufs andere. Verflucht kalt geworden war es in den letzten Tagen. »Okay, und wie viele Karnickel sind jetzt verschwunden, Herr Schönlein?«, fragte er und es klang lustloser, als er wollte.

Kurt Schönlein warf Waldo einen wütenden Blick zu. »Karnickel?«

»Na, Ihre Hasen.«

»Hören Sie mal zu, Herr Waldo. Wenn Sie hier nicht mit dem nötigen Ernst an die Sache gehen, können wir das gleich wieder abblasen. Ich züchte keine Karnickel.« Schönlein spuckte das letzte Wort regelrecht aus. »Und ich züchte erst recht keine Hasen. Das sind Kaninchen! Bestenfalls können wir von der Häsin und dem Stallhasen sprechen.«

»'tschuldigung«, murmelte Waldo und ließ seine Halsmuskeln erneut zucken.

Die Zweifel an seiner Berufswahl wuchsen weiter.

Sie wuchsen ins Unermessliche, als Waldo ein paar Minuten später an Schönleins Küchentisch saß. Bildete er es sich bloß ein oder roch die ganze Bude nach Karnickelstall?

Vor ihm lagen zwei Fotoalben, Schönlein selbst blätterte in einem dritten; die Mütze hatte er nicht abgenommen. Waldo blickte missmutig in eine Tasse, die Schönlein vor ihm abgestellt und von der er behauptet hatte, sie enthalte Kaffee. Waldo hatte ein Plastikdöschen Kondensmilch hineingeschüttet, worauf die Flüssigkeit eine eher ins Gelbe als ins Braune tendierende Farbe angenommen hatte.

»Hier«, sagte Schönlein gerade zum wiederholten Mal und drehte das Album, sodass Waldo das Foto auf der aufgeschlagenen Seite betrachten konnte. »Henri, Deutscher Riese grau, sieben Kilo, neun Auszeichnungen.«

Waldo stellte die Tasse ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. »Sehr schön.« Er hätte schwören können, dass auf dem Foto nicht viel mehr als ein fettes Karnickel abgebildet war.

Schönlein sah Waldo an. »Entführt.«

Waldo war sich nicht sicher, ob sich in Schönleins Augen Wasser sammelte. Er starrte angestrengt auf das Album.

Schönlein blätterte ein paar Seiten weiter. »Da. Sascha, Deutscher Riese weiß. Fünf Komma drei Kilo. Vier Auszeichnungen ... Er hatte noch so viel vor sich.« Schönleins Mundwinkel zuckten.

Es gibt Karnickel, die Sascha heißen, dachte Waldo.

»Entführt.« Mit Nachdruck klappte Schönlein das Album zu. »Sechs Kaninchen in drei Wochen! Alle entführt!«

»Schlimm«, sagte Waldo.

»Ich will wissen, wo meine Kaninchen sind«, knurrte Schönlein.

»Wer entführt Kaninchen?«

»Wenn ich das wüsste, bräuchte ich Ihre Hilfe nicht.«

»Vielleicht einfach jemand, der Hunger hat«, beantwortete Waldo seine eigene Frage.

Schönlein winkte ab. »Nee, nee, nee.«

»Wieso nicht?«

»Nee, nee«, wiederholte Schönlein und schwieg, als sei das schon das Argument gewesen.

»Sie haben also einen Verdacht?«

Schönlein zögerte. »Ein erfolgreicher Züchter hat viele Neider, Herr Waldo.« Seine Stimme vibrierte vor Pathos. Mit dem Daumen zeigte er über seine Schulter auf eine große Glasvitrine, die vollgestopft war mit Pokalen in den verschiedensten Größen und Hässlichkeitsstufen. »Das sind nur die wichtigsten«, hatte Schönlein nach dem Besuch bei den Käfigen stolz bemerkt und Waldo in einen Raum geführt, der quasi komplett der Passion geopfert war. In drei Vitrinen glitzerte es. Schönlein besaß exakt 268 Pokale, Medaillen und Ehrentafeln.

»Sie glauben, andere Züchter stehlen Ihre Ha..., Ihre Kaninchen?«

Schönlein schwieg.

»Wie sind Ihre Ställe denn eigentlich gesichert? Kann man da nicht die ..., ähm, die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen?« Was rede ich da?, dachte Waldo.

»Die Ställe sind einfach leer! Sie sind verschlossen, aber leer. Alle Türen sind verschlossen! Es gibt keine Hinweise auf einen Einbruch.«

»Das heißt, der oder die Entführer müssen Schlüssel haben.«

»Das ist es ja, was mir Sorgen macht. Ich hab mich auch schon nachts auf die Lauer gelegt, aber nix.«

»Haben Sie daran gedacht, die Schlösser auszuwechseln?«

Schönlein schüttelte ungeduldig den Kopf. »Herr Waldo, ich habe hier ein paar Dutzend Käfige. Nach den ersten beiden Entführungen habe ich überall Schlösser angebracht. Wissen Sie, was das gekostet hat? Und jetzt soll ich sie alle wieder auswechseln? Finden Sie den Mistkerl, der meine Kaninchen entführt, und gut is'.«

Waldo öffnete eines der vor ihm liegenden Alben und schloss es gleich wieder. »Welche Tiere verschwinden denn?«

»Zuletzt Sascha. Als Erstes war Samson weg.«

Waldo nickte. »Ich meine, sind das irgendwie besondere Tiere? Bestimmte Tiere? Eine bestimmte Rasse? Besonders erfolgreiche ... Kreuzungen?«

»Kreuzungen?«

Waldo verlor langsam die Geduld. »Was weiß denn ich? Ich bin kein Kaninchen-Experte! Ich frage doch nur, ob Sie irgendwelche Anhaltspunkte haben? Irgendwelche Sachen, die mich weiterführen könnten.«

»Es muss einer von der ...«, Schönlein brach den Satz ab, weil sich hinter ihm eine Tür öffnete. Ein langer Schlaks – mindestens zwei Köpfe größer als Schönlein und immerhin noch einen größer als Waldo – betrat die Küche, schlurfte zum Kühlschrank, glotzte eine Weile hinein und nahm schließlich eine Packung Orangensaft heraus. Er schloss die Tür, lehnte sich gegen das Gerät und trank.

»Die Gläser sind wohl alle kaputt, Maik?«, maulte Schönlein.

Der Schlaks ging zu einem Schrank, nahm ein Glas heraus und verschwand aus der Küche. Schönlein und Waldo sahen ihm nach, bis die Tür wieder geschlossen war.

Waldo wandte sich wieder Schönlein zu. »Kinder sind doch was Schönes. Hätte auch gern welche.«

»Den können Sie gleich mitnehmen.«

»Sie wollten eben was sagen. Es war bestimmt einer ...«

»Einer von der Konkurrenz«, vervollständigte Schönlein den Satz. »Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.«

»Kommt so was öfter vor?«

»Was?«

»Na, dass sich die Züchter gegenseitig ihre Tiere klauen.«

»Nee«, gab Schönlein zu.

»Was sagt denn die Polizei?«

»Die Polizei? Soll das ein Witz sein? Was, glauben Sie, macht die Polizei, wenn Sie ihr was von gestohlenen Kaninchen erzählen?« Schönlein machte eine Kunstpause. »Ausgelacht haben die mich fast!«

Sie saßen sich stumm gegenüber. Waldo war genervt. Der Typ hatte Dutzende Karnickel, was machte es da, wenn ein paar fehlten? Die Rammler hatten doch bestimmt längst den Weg in irgendeinen Backofen gefunden. Und der Rest der Truppe sorgte offenbar fleißig für Nachwuchs.

Ein Geräusch ließ Waldo aufblicken. Schönlein schniefte, Tränen liefen an seinen Wangen herab. »Wer tut so was?«, flüsterte er.

Waldo hob die Arme und ließ sie auf den Tisch fallen. »Beruhigen Sie sich, Herr Schönlein. Wir kriegen das hin. Wir finden diese, ähm, Verbrecher.«

Schönlein blickte auf. »Entschuldigen Sie.«

»Schon gut.« Waldo atmete tief ein und aus. »Wann war noch mal diese Schau, von der Sie sprachen?«

Kapitel 2

Die Kellnerin stellte zwei frische Gläser Bier vor ihnen ab. Waldo packte seins und stürzte die Hälfte des Inhalts in sich hinein. Albert betrachtete ihn, halb interessiert, halb erstaunt.

»Ich kann nicht mehr«, schnaufte Waldo, nachdem er gerülpst und das Glas auf seinem Bierdeckel abgesetzt hatte.

Erst jetzt nahm Albert einen Schluck. »Dann trink halt nicht so schnell.«

»Ich halt's nicht mehr aus«, stöhnte Waldo. »Ich schaff's nicht mehr. Tut mir echt leid, ich hab's wirklich versucht, aber es geht nicht mehr.«

»Ich kann dich gut verstehen«, sagte Albert einfühlsam.

Waldo schüttelte frustriert den Kopf.

»Aber ich könnte dich noch besser verstehen, wenn du mir sagen würdest, worum es geht«, fuhr Albert fort.

Waldo blickte seinem Freund in die Augen. »Ich halt's nicht mehr aus. Ich muss hier weg.«

Albert nickte. »Ich auch.«

»Ich meine es ernst.«

»Ich auch.«

»Nein, wirklich. Ich will hier weg. Weg aus Halle. Weg aus diesem ganzen Scheißosten.« Waldo leerte den Rest des Glases in großen Zügen, dann drehte er sich nach der Kellnerin um und winkte ihr mit dem Glas zu.

Albert zog die Augenbrauen hoch. »Dann geh doch nach drüben«, fistelte er mit Erich-Honecker-Stimme. Der Satz war einer ihrer Witz-Evergreens, aber diesmal lächelte Waldo nicht einmal. Albert runzelte die Stirn. »Ich muss zugeben, dein Halle-Frust kommt in immer kürzeren Phasen.«

»Ich soll verschwundene Karnickel suchen.«

»Neuer Job?«

Waldo nickte. »Ich habe studiert! Ich habe Psychologie studiert. Und wofür? Ich sitze hier seit hundertfünfzig Jahren in diesem Scheißkaff, ohne Frau, ohne vernünftigen Job. Und nun suche ich entführte Karnickel!«

»Entführt?«

»Sagt der Besitzer.«

»Dann hier schon mal ein erster kleiner Tipp von Papa Albert: Du darfst dem Mann gegenüber nie von Karnickeln sprechen.«

»Hab ich schon.«

»Hast du auch von Hasen gesprochen?«

Waldo nickte, Albert schüttelte den Kopf.

»Na, was denn, Herr Professor Grzimek?«, maulte Waldo. »Hast du etwa mal Karnickel gezüchtet?«

Albert nickte.

»Ist nicht dein Ernst!«

»Als Kind, bloß ein paar Monate, dann sind sie eingegangen.« Albert guckte traurig.

Waldo berichtete von Schönlein und dessen Rammlern. »Albert, du bist doch quasi vom Fach. Tu mir einen Gefallen, ich flehe dich an: Fahr am Wochenende mit mir zu dieser Karnickelausstellung.« Er blickte Albert an und ließ seine Mundwinkel zucken. Rechts, links, rechts, links, rechts, links ...

Albert starrte ihn an.

»Was ist?«, fragte Waldo.

»Das sieht echt bescheuert aus, wenn du das machst.«

»Was mache ich denn?«

»Du ziehst mit dem depressor anguli oris die Mundwinkel abwärts und spannst das Platysma an.«

»Was?«

»Hab's in einem Anatomiebuch nachgeguckt. Du machst das schon eine ganze Weile.«

Waldo zog die Mundwinkel nach unten.

Albert schüttelte den Kopf. »Wie gesagt: echt bescheuert.«

Als Waldo die Kneipe verließ, war ihm klar, dass er viel zu viel getrunken hatte. Ihm graute vor dem nächsten Morgen. Es würde sehr unschön werden.

Trotzdem ging er nicht gleich ins Bett, sondern ließ sich auf das Sofa fallen und fing an, durch die Programme zu zappen. Er sah allerdings nichts von dem, was da über die Mattscheibe flimmerte. Dafür war er zu sehr damit beschäftigt, sich in seinem Ost-Frust zu suhlen. Seine Halsmuskeln begannen wieder zu zucken – er konnte nichts dagegen unternehmen.

Scheißosten. Scheißosten! Scheißostenscheißostenscheißosten!

Er erinnerte sich an seine letzte Zugfahrt zu seinen Eltern, das heißt, eigentlich war ein Klassentreffen der Grund für die Heimfahrt gewesen. Du meine Güte, zwanzig Jahre lagen die Abiprüfungen jetzt zurück.

Im Zug hatte eine Gruppe junger Typen gesessen, die alle unüberhörbar im Sächsischen beheimatet waren. Sie ließen während der Fahrt reichlich Alkoholika kreisen und wurden mit jedem Kilometer lauter. Irgendwann fingen sie an, jedem Reisenden, der an ihnen vorbeiwollte, »Du hast die Haare schön« hinterherzusingen. Zwischendurch stimmten sie verstaubte Kinder- und Jugendklassiker aus der Zone an: »Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf« oder »Die Heimat hat sich schön gemacht«.

Es war grässlich, aber offenbar nicht grässlich genug, denn Waldos Phlegma hinderte ihn daran, in ein anderes Abteil zu wechseln. Gleichwohl verdüsterte sich seine Stimmung mit jeder Minute und zu allem Überfluss blieb der Zug aus unerfindlichen Gründen eine halbe Stunde auf freier Strecke zwischen Bielefeld und Gütersloh stehen, was die Laune des Männergesangsvereins natürlich keineswegs dämpfte. Einer fragte regelmäßig, ob man schon im Westen sei, was auch nach der fünfzehnten Wiederholung ein Brüller für die Horde war. Wie viele Alkoholika hatten diese Typen eigentlich mit? Eine Weile redeten sie nur russisch – eine merkwürdige Angewohnheit, auf die Waldo in seinen Ostjahren mehr als einmal gestoßen war, auf Feten oder sonst wo: Irgendwann fingen die Leute an, russisch zu reden. »Was soll das«, hatte er Albert dann immer gefragt, »im Westen reden wir doch auch nicht irgendwann englisch.«

Später drückte Waldos Blase so sehr, dass er es nicht mehr aushielt. Er stand auf und ging mit gutem Grund in die entgegengesetzte Richtung der Saufkumpel, doch prompt hörte er, wie in seinem Rücken die spezielle Version von Hair angestimmt wurde. Seine Rückkehr vom Klo forderte die Zonendödel zu einer Zugabe heraus – und als Waldo ihnen tödliche Blicke zuwarf, fühlten sie sich erst recht herausgefordert. »Ruhisch, Männor, mir sinn hier im Westen, do wird nich jelacht!«

Komisch, seit fast zwei Jahrzehnten gab es die DDR nicht mehr – aber in manchen Augenblicken verhielten sich die Menschen, als liege der Mauerfall erst zwei Wochen zurück. Würde das nie enden? Waldo kotzte es an.

Als die Brüllaffen endlich ausstiegen, wandte sich eine ältere Frau an Waldo. Leise, mit einem Lächeln und unverkennbarem Ostdialekt meinte sie: »Wir sind nicht alle so.« Klar, sie hatte ja recht und Albert hätte vermutlich eine Schlägerei mit den Blödmännern angezettelt. Solche Heinis liebte er.

Und jetzt also Karnickel!

Waldos Halsmuskeln schmerzten, ab und zu bekam er einen leichten Krampf, der sich aber schnell wieder auflöste. Wann hatte er eigentlich mit dieser verdammten Muskelzuckerei angefangen?

Er betastete sein Kinn und seinen Hals. Platysma?

Waldo switchte noch einmal durch die vorhandenen Kanäle und schleppte sich dann mit letzter Kraft ins Bett.

Kapitel 3

Sie verließen Halle in westlicher Richtung. Schönlein wohnte in demselben Dorf, in dem an diesem Wochenende auch die Kaninchenschau über die Bühne ging.

Albert analysierte gut gelaunt die aktuellsten Ereignisse der jüngsten Staffel von 24, aber Waldo war nicht ganz bei der Sache.

»Diese Staffel«, dozierte Albert gerade, »ist der Beweis dafür, dass zeitgemäßes, spannendes Fernsehen nicht notwendigerweise brutal sein muss. Ich meine, okay, natürlich ist die Story brutal, aber bis jetzt kommen sie immerhin ohne die ganzen Folterszenen aus.«

»Hm«, machte Waldo.

»Und was ich vor allem gut finde: Es ist nicht mehr so, dass Jack am Ende jeder Stunde irgendwas rauskriegt und der Großverbrecher dann bloß grinsend zu seinen Kumpanen sagt: Hätten wir hier nicht abbiegen müssen?«

»Was sagt der Großverbrecher?«

»Vergiss den Großverbrecher! Hätten wir hier nicht abbiegen müssen?«

»O Scheiße!« Waldo trat erschrocken auf die Bremse, gab aber gleich wieder Gas, weil der Fahrer hinter ihm die Lichthupe betätigte.

»Mann, Junge, du stehst ja wirklich neben dir. Ich denke, du hast erst neulich deinen Kaninchenfreund besucht.«

Waldo brummte etwas Unverständliches.

»Warum genau fahren wir da eigentlich hin?«

»Schönlein meint, da könne ich die ganzen anderen Züchter kennenlernen.«

»Und dich bei der Gelegenheit freundlich erkundigen, ob sie Schönleins Tiere geklaut haben?«

Sie mussten nicht nach dem Veranstaltungsort fragen; das Vereinsheim der Kaninchenzüchter war neben der Kirche das einzige größere Gebäude in dem Nest. Außerdem standen schon am Ortseingang Hinweisschilder.

»Na, das ist ja mal ein cooles Arrangement«, sagte Albert, als sie durch ein eisernes Tor auf einen holprigen Parkplatz rollten. Das Tor war befestigt an zwei gemauerten Säulen, auf denen je ein meterhoher Hase saß. Rechts ein brauner, links ein weißer.

Vor dem Vereinsgebäude, einer flachen, alten Halle, hockten zwei weitere Kaninchen, die sogar noch größer waren. Sie reichten Waldo und Albert bis zur Brust. Die Hasen waren aus Holz und erinnerten an überdimensionale Laubsägearbeiten.

»Wo sind wir denn hier gelandet?«, entfuhr es Waldo.

»Willkommen in der Wirklichkeit«, antwortete Albert.

Sie standen eine Weile schweigend vor den Holzkaninchen, dann sagte Albert: »Sieht ja wieder aus wie neu.«

»Wieso?«

»Irgendjemand hatte einem Tier mal die Ohren gestohlen. Abgesägt. Stand in der Zeitung. Irgendwann tauchten die Ohren wieder auf.«

Waldo sah stumm auf die Holztiere.

Albert senkte seine Stimme: »Ich denke, es ist so, Harry, wenn wir den Ohrenklauer finden, dann finden wir auch die Kaninchenentführer, was meinst du?«

»Gut möglich, Stephan.«

Kichernd betraten sie die Halle. Ein strenger Geruch schlug ihnen entgegen.

»Aaah!«, rief Albert. »Diesen Duft hatte ich fast vergessen.«

Gleich hinter der Eingangstür war ein Holzklapptisch aufgebaut, auf der Bank dahinter saßen drei rotgesichtige, ältere Männer. Vor ihnen auf dem Tisch befand sich eine Geldkassette, daneben lag eine Rolle mit Eintrittskarten. Vor jedem Mann stand außerdem ein leeres Schnapsglas. Das Trio blickte die Neuankömmlinge schweigend, aber nicht unfreundlich an.

Waldo trat an den Tisch. »Hallo, wir sind auf Einladung von Herrn Schönlein hier. Ist Herr Schönlein da?«

»Auf Einladung von Herrn Schönlein sind Sie hier?«, echote der mittlere Mann. »Ja, Herr Schönlein ist da. Hol mal den Kurt.«

Obwohl der mittlere Mann die ganze Zeit Waldo fixiert hatte, stand der rechte Mann wie selbstverständlich auf und schlurfte davon.

Waldo drehte sich zu Albert um, der bereits ein paar Schritte in den Raum getreten war und sich interessiert umblickte.

Albert zeigte nach rechts. »Oh, guck mal, das ist aber ein schöner Widder.«

»Ein Widder? Wo?«

»Da!« Albert deutete auf einen Käfig.

»Der Hase heißt Widder? Wieso das denn?«

»Was für eine blöde Frage! Wieso heißt du Waldo?«

Waldo glotzte seinen Freund an. Meinte der das jetzt ernst?

Muss wohl, dachte er, denn Albert stand immer noch staunend vor dem kleinen Käfig.

Aus der anderen Richtung näherte sich Schönlein. Waldo begrüßte ihn.

»Nicht schlecht, was?«, fragte Schönlein.

Waldo blickte sich um. »Wir sind grad erst gekommen. Ich hab noch nicht so viel gesehen. Mein Freund ist aber ein großer Kaninchenfan.« Er wies auf Albert, der langsam an den Käfigen vorbeispazierte.

»Na, dann gucken Sie sich erst mal ein bisschen um«, sagte Schönlein.

»War das hier mal eine Turnhalle?«

»Eine Turnhalle? Nee, das war mal ein Schafstall.«

»Dann passt's ja.«

»Was passt?«

»Nur so.«

»Wir haben den Stall nach der Wende von der Treuhand gekauft. Hier sah's aus, kann ich Ihnen sagen. Kommen Sie mal mit.«

Schönlein machte auf dem Absatz kehrt und ging durch den Mittelgang der Halle bis zu einem großen Plakat, auf das zahllose Fotos geklebt waren. Aufnahmen vom Umbau des Stalls.

»So, und jetzt trinken wir erst mal einen«, sagte Schönlein und trat zwei Schritte zur Seite an eine Theke. »Maik, zwei Körner«, rief er.

Waldo sah auf seine Armbanduhr. Halb zwölf. »Ich muss aber noch fahren, Herr Schönlein.«

»Ein Korn kann ja wohl nicht schaden.«

Der Schlaks, den Waldo aus Schönleins Küche kannte, stellte zwei gefüllte Schnapsgläser auf den Tresen.

Schönlein drückte Waldo eines davon in die Hand und kippte den Klaren in seinen Schlund. Waldo tat es ihm gleich. Er behielt das scharfe Zeug ein paar Sekunden im Mund, bevor er es hinunterschluckte.

»Lecker! Und auf wen soll ich hier jetzt ein Auge halten, Herr Schönlein?«

Schönlein lief ein paar Schritte, setzte eine verschwörerische Miene auf und ließ den Blick unauffällig durch den Raum kreisen. So unauffällig, dass es wirklich jedem auffallen musste.

»Sehen Sie den Mann da hinten?«, flüsterte er.

Waldo blickte in die Richtung, in die auch Schönlein sah. »Da stehen viele Männer.«

»Der mit dem Hut.«

»Da stehen drei Männer mit Hut.«

»Der mit dem grauen Hut. Und der Lederweste.«

»Okay.«

»Das ist Gustav Sonntag.«

»Aha.«

»Ja.«

Hinter ihnen entstand Unruhe. Vier neue Gäste traten ein, alle in vergleichsweise feinem Zwirn.

Schönlein sagte »Oh!«, patschte Waldo auf die Schulter und straffte sich. »Die Ehrengäste«, raunte der Kaninchenzüchter und marschierte auf die Neuankömmlinge zu. Unterwürfig begrüßte er sie, dann führte er sie aufgeregt plappernd zur Theke.

Waldo blieb allein im Mittelgang zurück. Neben ihm waren ein paar Partytische und –bänke aufgestellt. An einigen saßen Männer und tranken schweigend Bier. Ein kleiner, leicht adipöser Junge verspeiste in einer Ecke ein Paar Wiener.

Einige Schritte weiter waren in drei Reihen Pokale und Medaillen aufgestellt. Waldo zählte zweiunddreißig silberne Becher. Was ihn aber am meisten erstaunte, das war die Dekoration: Um die Pokalreihen herum schlängelten sich zwei Gartenschläuche, ein roter und ein blauer.

Waldo nahm einen gelben Zettel von einem kleinen Stapel. Eine Firma warb darauf für Reitbedarf und Futtermittel. Vor Waldo breitete sich eine unbekannte Welt aus: Es gab Taubenfuttermischungen und Wellensittichfutter, Kanarienfutter und Papageienfutter, außerdem Zuchtfutter aller Art, Winterstreufutter sowie Hafer gequetscht. Gequetschter Hafer?, fragte sich Waldo. Jetzt zuschlagen stand auf dem Papier: Fünfundzwanzig Kilogramm Späne kosteten nur 7,70 Euro, zwanzig Kilo Futtermöhren (gewaschen) gab es für fünf Euro. Strohmehl 23 kg nur kg 7,50 Euro. Was sollte das heißen? Kosteten dreiundzwanzig Kilo Strohmehl 7,50 Euro oder kostete ein Kilo Strohmehl 7,50 Euro? Was war Strohmehl? Und wozu brauchte man es?

Waldo legte den Zettel auf den Stapel zurück.

Und nun?, fragte er sich. Was soll ich denn jetzt beobachten? Niemand wird doch hier und jetzt ein paar von Schönleins Viechern klauen ... Egal, denk an die Kohle, Junge.

Er blickte sich suchend um. Wo war Albert eigentlich?

Waldo ging den Gang entlang und fand seinen Freund vor ein paar Käfigen mit pechschwarzen Kaninchen.

»Schönes Fell«, sagte Albert anerkennend.

»Danke, ich tu ja auch was dafür«, antwortete Waldo, aber Albert ignorierte den Scherz.

Stattdessen zeigte er auf einen kleinen Zettel, der an dem Käfig befestigt war. »Kleinsilber schwarz. Guck mal, ganz gleichmäßige Silberung.«

Waldo beugte sich vor. Bewertungsurkunde, las er. In einer Tabelle waren unter anderem Gewicht, Fellhaar und Pflegezustand als Kriterien aufgeführt, daneben waren Punktwerte eingetragen. Hervorragend, stand als Gesamturteil ganz unten.

»Da bekomme ich glatt Lust, selber wieder anzufangen«, sagte Albert.

»Womit? Heu zu futtern?«

»Du Ignorant. Guck dir doch mal dieses seidige Fell an. Toll.«

»Also, ich weiß wirklich nicht, was ich hier soll!«

»Ich find's interessant.«

»Ja, ich find's auch unheimlich interessant. Geradezu exzeptionell.«

Albert konnte Waldos Sarkasmus nicht länger ignorieren. »Mann, was willst du denn? Du hast mich gebeten mitzukommen, also bin ich mitgekommen. Ehrlich, ich find's schön, dass ich mich hier in meine Kindheit zurückversetzt fühle, aber ich hätte an einem Samstagvormittag auch problemlos eine andere Beschäftigung gefunden. Wenn dich das hier so ankotzt, dann musst du zu deinem Klienten gehen und ihm sagen, dass du keine Lust auf entführte Kaninchen hast. Nur lass deinen Frust nicht an mir aus.«

Waldo machte ein zerknirschtes Gesicht. »'tschuldigung.«

Sie standen sich schweigend gegenüber.

Aus einem Lautsprecher drang Schönleins Stimme und sie drehten sich um. Schönlein stand mit den neuen Gästen vor der Theke und hielt ein Mikro in der Hand.

Waldo beugte sich zu Alberts Ohr. »Wer sind die Typen?« Albert zuckte mit den Schultern. »Landrat, Bürgermeister, irgendwelche Honoratioren, nehme ich an.«

Wie zur Bestätigung sagte Schönlein: »Ich darf nun ganz herzlich in unserer Runde den Herrn Landrat und unseren Herrn Bürgermeister begrüßen.«

Applaus plätscherte.

Schönlein verbeugte sich schon wieder vor seinen Gästen, dann blickte er auf einen Zettel, den er in seiner zitternden Hand hielt. »Herr Landrat, Herr Bürgermeister, wir freuen uns, dass Sie heute die Zeit gefunden haben, bei unserer Ausstellung vorbeizuschauen. Unser Ziel ist, bei allen Besuchern und Ausstellern einen Zustand freudiger Erregung hervorzurufen. Besonders danken möchte ich schon an dieser Stelle dem Kollektiv der Ausstellungsleitung unter dem Vorsitz meiner Wenigkeit sowie allen Helfern vor und hinter den Kulissen.« Schönlein verbeugte sich ein weiteres Mal. »Herr Landrat, darf ich Sie nun um einige Worte bitten?«

Ein untersetzter Mann ergriff das Mikrofon. Er sah aus, als sei er in diesem Augenblick der glücklichste Mensch auf der Welt. »Lieber Herr Schönlein, liebe Züchter, liebe Kaninchenfreunde, ich darf Sie ganz herzlich zur diesjährigen großen Sonderschau begrüßen und bedanke mich für die Einladung, der ich natürlich ganz besonders gerne nachgekommen bin.«

»Mit Sicherheit«, raunte Albert.

»Das Tier ist seit Menschengedenken unser Begleiter. Unsere Züchter haben es sich dankenswerterweise zur Aufgabe gemacht, die verschiedenen Rassen zu pflegen und zu erhalten. Sie können mit Recht auf das Erreichte stolz sein. Eine große Verantwortung liegt heute und morgen bei den Preisrichtern. Mit ihrem Urteil bestimmen sie über Erfolg, aber auch Misserfolg des Züchters; sie bestimmen den Lohn für jahrelange Arbeit. Ich wünsche Ihnen allen viel Freude, einen angenehmen Aufenthalt in unserer Saalekreisgemeinde und einen fruchtbringenden Erfahrungsaustausch.«

Applaus brandete auf.

»Fruchtbringender Erfahrungsaustausch«, wiederholte Albert andächtig.

Schönlein begann mit einer kleinen Führung an den Käfigreihen vorbei.

»Schönlein will, dass ich den Typen dahinten beobachte.« Waldo machte eine vage Geste über die Schulter. »Einen gewissen Gustav Sonntag. Auch ein Züchter.«

»Aha.« Albert blickte in die angegebene Richtung. »Ich kann nichts erkennen.« Er setzte sich in Bewegung. Waldo folgte ihm. Gemeinsam gingen sie den Gang entlang.

»Schönlein glaubt, dieser Sonntag sei eifersüchtig.« Waldo flüsterte, weil ein paar Ausstellungsbesucher in der Nähe waren.

»Und?«

»Keine Ahnung. Ich könnte ja zu Sonntag gehen und ihn fragen, ob er zufällig in jüngster Zeit ein paar Kaninchen entführt hat ...«

»Musst du wahrscheinlich gar nicht.«

»Was?«

Albert zeigte nach vorn. »Schönlein scheint das schon selbst zu erledigen.«

Am Ende des Ganges standen Schönlein und Sonntag und beharkten sich mit immer lauter werdenden Stimmen. Der Landrat und seine Entourage waren ein paar Schritte abgerückt und taten so, als betrachteten sie interessiert die Tiere. Andere Ausstellungsbesucher blickten irritiert zu den Streithähnen.

»Das ist ja wohl eine Unverschämtheit!«, rief Sonntag gerade.

»So? Dann erklär mir das mal, bitte!«, schimpfte Schönlein zurück.

»Was soll ich dir erklären? Was hab ich denn mit deinen Viechern zu schaffen?«

»Das kann ich dir sagen. Neidisch bist du auf sie!«

Sonntag lachte empört auf. »Neidisch?«, quiekte er. »Ich soll auf deine Fellhaufen neidisch sein?«

»Fellhaufen? Wer hat hier Fellhaufen?«

»Du! So was kommt bei mir noch nicht mal in den Kochtopf.«

»Ha! Du gibst es also zu!«

»Was gebe ich zu?«

»Dass du sie entführt hast!«

Waldo und Albert sahen sich an.

»Du spinnst doch!«, geiferte Sonntag.

»Ach? Dann guck doch mal auf deine Wertungskarten! Da ist doch wieder kein einziges Hervorragend dabei.«

Sonntag stach mit seinem rechten Zeigefinger in Schönleins Richtung. Beide Männer waren inzwischen knallrot im Gesicht.

»Weil du die Preisrichter in der Tasche hast! Das weiß doch hier jeder! Was bekommen sie denn diesmal von dir? Na? Na!?!«

»Sag das noch mal!«

»Du kannst mich mal!«

»Sag das noch mal!«, kreischte Schönlein.

»Was prahlst du eigentlich hier rum mit deinem verwachsenen Kroppzeug?« Sonntag zeigte den Gang hinab. »Einer deiner Satin-Kalifornier da hinten hat gerade mal ein Befriedigend bekommen!«

»Ich habe sechs Hervorragend für meine Deutschen Riesenschecken!«, schrie Schönlein. Er war nun völlig außer sich.

»Mein Erich hat allein schon neun Hervorragend!«

»Erich?«, flüsterte Waldo.

»Erich«, bestätigte Albert.

»Dein Erich kann mich mal am Arsch lecken!«, brüllte Schönlein.

»Du kannst meinen Erich am Arsch lecken!«, brüllte Gustav Sonntag zurück.

Der Landrat nickte seinen Mitarbeitern zu und machte sich mit gesenktem Kopf auf den Weg zum Ausgang.

»Der war's nicht«, raunte Albert Waldo zu.

»Wer war was nicht?«, fragte Waldo zurück.

»Schönleins Anschreipartner. Der hat nichts mit den verschwundenen Kaninchen zu tun.«

»Erkennst du das an der Art, wie er Schönlein anbrüllt?«

»Ja. Er ist wirklich empört. Er ist in seinem tiefsten Inneren verletzt. Er ist in seiner Kaninchenzüchterehre getroffen.«

Die beiden Kontrahenten beendeten ihren Disput mit einer abschließenden Kanonade von Kraftausdrücken. Schönlein hastete dem Landrat hinterher und holte ihn kurz vor der Tür ein.

»Entschuldigen Sie bitte vielmals«, schnaufte der Züchter und breitete servil die Hände aus.

»Schon gut«, sagte der Landrat. »Wir müssen sowieso weiter.«

»Aber ich würde Ihnen ganz kurz gerne noch meine eigenen Exemplare ...«

»Es tut mir leid«, unterbrach der Anzugträger und ergriff Schönleins Hand.

Schönlein stand einen Moment da und starrte den Ehrengästen hinterher, dann wirbelte er auf dem Absatz herum und stürmte zur Theke, wo er sich von Maik einen Korn eingießen ließ. Am Ende des Gangs stand Sonntag und winkte.

»Arschgeige!«, brüllte Schönlein durch die Scheune.

»Mann, sind die fertig«, murmelte Albert.

Die beiden Freunde standen eine Weile schweigend da.

»Hast du auch manchmal Angst, dass alles auseinanderbricht?«, fragte Waldo dann.

»Was soll auseinanderbrechen?«

»Alles. Die Welt.«

»Die Welt?«

»Das Universum.«

Albert zog die Stirn in Falten. Sie betrachteten das Kaninchen in dem Käfig vor ihnen, einen weißen Neuseeländer, der von der Jury nur ein Befriedigend bekommen hatte.

»Die Wissenschaftler behaupten doch immer, das würde hier alles noch ein paar Millionen Jahre weitergehen.«

»Ein paar Milliarden«, verbesserte Albert.

»Meinetwegen auch ein paar Milliarden. Aber was ist, wenn sich die Wissenschaftler irren?«

Der weiße Neuseeländer machte einen Hüpfer und mümmelte weiter.

»Was ist, wenn da oben irgendwas passiert, was die Wissenschaftler nicht auf der Rechnung haben.«

Albert schüttelte genervt den Kopf: »Markus, mein Freund. Was willst du mir sagen?«

»Ich weiß doch auch nicht. Vielleicht verschiebt sich die Erdachse um ein paar Millimeter, ohne dass die Wissenschaftler das mitkriegen. Oder noch schlimmer: Vielleicht geraten die Sonnensysteme irgendwie aus der Bahn. Mann, da fliegen Milliarden Planeten alle irgendwie im Kreis.«

Albert starrte Waldo an. Das Kaninchen mümmelte stoisch.

»Ich bin neulich mal nachts aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen, weil ich darüber nachdachte, was passiert, wenn ..., na, wenn so was passiert.«

»Wenn sich die Sonnensysteme verschieben«, sagte Albert tonlos.

»Ja, kann doch sein. Wie war das denn bei Day after tomorrow, wo plötzlich eine Eiszeit kommt?«

»Stimmt«, sagte Albert ironisch. »Oder bei Krieg der Welten

»Du nimmst mich nicht ernst. Mir macht das Angst. Manchmal. Je länger ich drüber nachdenke. Denkst du nie über solche Fragen nach?«

»Ob sich die Sonnensysteme verschieben?«

»Zum Beispiel. Neulich lief ein Film, der zeigte, was passiert, wenn ein Komet in die Erde einschlägt. Dreizehn Kilometer Durchmesser, zweihunderttausend Stundenkilometer schnell, Junge, da kannst du alles vergessen. Da wird's dreihundert Grad heiß auf der Erde. Tsunamis, Feuersbrünste, danach wochenlang Dunkelheit, das volle Programm ...«

Albert seufzte.

»Wäre nicht das erste Mal.« Waldo redete sich in Rage. »Nimm die Dinosaurier. Die dachten auch: Schön ist es, auf der Welt zu sein. Und dann, Peng, Kometeneinschlag! Ex, Tyrannosaurus Rex.«

»Komm mal mit.« Albert packte Waldo am Arm und zog ihn zur Theke. »Mache ma zwee Schnäpse, meiner«, rief er Schönleins Sohn zu, der an die Spüle gelehnt dastand und sich langweilte.

»Nee«, raunte Waldo. »Ich musste eben schon mit dem ollen Schönlein einen kippen.«

»Klappe.«

Der Junge stellte zwei Gläschen mit der glasklaren Flüssigkeit vor Albert ab und Albert knallte eine Zwei-Euro-Münze auf die Theke.

»So«, sagte Albert, nachdem er Waldo eines der Gläschen in die Hand gedrückt hatte. »Auf das Sonnensystem. Und die Dinosaurier.« Er kippte den Schnaps. »Komm, mach auch. Wird dir guttun.«

»Ich hab gelesen, vor dem Urknall war alle Materie komprimiert in einem Punkt, der kleiner war als ein Sandkorn und dieses Sandkorn war einhundert Quintillionen Grad heiß.«

»Trink jetzt«, unterbrach ihn Albert.

»Einhundert Quintillionen Grad!«

»Trink!«

Waldo kippte und schüttelte sich. »Aufs Sonnensystem.«