Denise Reichow
Heitlinger Hof 7b
30419 Hannover

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ENTSEELT - DER SEELENKUSS

Text © Celine Trotzek, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Tina Köpke

Lektorat & Korrektorat: Sandra Florean, Die Buchflüsterin

Satz & Layout: Phantasmal Image
eBook: Grittany Design

(eBook) ISBN 978-3-947147-49-6

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Mittlerweile war bereits eine Woche vergangen, seitdem Kayden beschlossen hatte, auf Abstand zu mir zu gehen. Ich hatte öfters darüber nachgedacht, was es mit all dem auf sich hat. Eines war mir jetzt schon klar: Seit seinem Rückzug verspürte ich keinerlei Wut, Gänsehaut, Faszination oder irgendein anderes Gefühl.

Trotzdem wehrte ich mich weiter gegen die Tatsache, dass es etwas mit ihm zu tun haben könnte, dass ich mich überhaupt so gefühlt habe. Es gab keinen Grund, warum es so sein sollte.

Hanna war noch noch immer ziemlich fertig und die Polizei hatte meine Nachrichten als schlechten Scherz abgestempelt. Sie hatten dennoch versprochen, dem nachzugehen.

Seit dem Vorfall auf Jendas Party hatte ich keine Party mehr besucht. Dennoch hatte Riley mich überredet, mit zu ihr zu kommen und dort einer Pyjamaparty beizuwohnen. Sie versprach mir, dass es kein bisschen wie die Übernachtungspartys in unserer Kindheit werden würde.

Nicht nur wegen des Alkohols, der mir bereits beim Betreten der Küche auffiel.

Meine Mom hatte mich nur gehenlassen, damit ich nach all dem Chaos der vergangenen Tage etwas Ablenkung bekam. Sie machte sich noch immer Sorgen, war aber der Meinung, es würde mir guttun.

»Bitte füll mich dieses Mal aber nicht wieder ab. Letztes Mal hat das kein gutes Ende genommen.«

Riley lachte und deutete auf den Apfelsaft, der auf dem Tresen neben jede Menge Naschkram stand. »Den habe ich extra für dich besorgt. Wenn du möchtest, kannst du ihn verstecken, damit niemand Alkohol hineinfüllen kann.«

Kopfschüttelnd betrachtete ich das Etikett. Apfelsaft, mild.

»Wieso mild?« Fragend sah ich sie an.

»Weil du das letzte Mal Magenbeschwerden bekommen hast, als du den anderen Apfelsaft getrunken hast.«

»Wie nachsichtig.«

»Wohl eher vorsichtig. Möchte ja nicht, dass mein Bad am Ende stinkt.«

Wie reizend. Würde ich Riley nicht kennen, würde ich denken, dass sie mich beleidigen wollte und es nicht als Scherz meinte.

»Ich gebe mir Mühe«, versprach ich und half ihr die Snacks vorzubereiten.

Ungefähr eine Stunde später hatten wir eine Schüssel Popcorn, eine andere mit Schokolade und Bonbons und eine Schüssel Chips vorbereitet und auf den Tisch im Wohnzimmer gestellt. Es roch wie in einer Süßigkeitenfabrik.

Wir warteten auf die anderen. Ich würde diese Mandy und deren beste Freundin kennenlernen. Jenny, heißt sie, glaube ich. Ich wusste nicht, ob dieser Abend zu irgendetwas führen würde. Zumal ich in Mandys Augen ein Alien war.

Der Fernseher gegenüber der Couch lief und zeigte eine Cartoonserie, als es an der Tür klingelte. Riley sprang auf und hetzte los, um sie zu öffnen. Kurz danach kamen sie, Mandy und Jenny ins Wohnzimmer. Mandy sah mich nur flüchtig an, während Jenny mich freundlich begrüßte. Ohne mich zu umarmen.

»Riley hat uns gebeten, das nicht zu tun«, erklärte sie.

»Dann hat sie ja alles richtig gemacht.«

Sie winkte ab und nahm sich die Schüssel mit den Chips. »Was sehen wir nun? Einen Liebesfilm, Action oder doch eher eine Komödie?«

»Komödie!«, sagten wir alle im Chor.

Der Abend verlief besser als befürchtet. Mandy hielt sich zwar eher von mir fern und würdigte mich kaum eines Blickes, doch Jenny war wirklich freundlich.

Das einzig Seltsame war, was in der Nacht geschah. Ich wurde von einem Geräusch wach. Riley lag noch immer neben mir, Jenny ebenfalls. Mandy fehlte. Ich stand auf und folgte dem Licht im Flur hinaus in die Küche, wo Mandy am Tisch saß und etwas auf dem Tablet ansah.

»Was machst du da?«, fragte ich, woraufhin sie zusammenzuckte.

Sie klappte die Hülle zu und sah genervt in meine Richtung. »Schläfst du auch nicht? Vielleicht bist du deswegen so gefühllos, weil du keinen Schlaf findest.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Sie seufzte und stand auf, um sich ein Glas mit Wasser zu füllen. »Ich suche nach etwas und habe hier halt einfach kein Internet über mein Handy.«

»Deswegen nutzt du Rileys Tablet, ohne sie zu fragen?«

Mandy drehte sich zu mir um und nippte an dem Glas. »Sie hat es mir erlaubt. Eifersüchtig? Ach nee! Das kannst du gar nicht sein. Muss schon eine mächtige Strafe sein. Was hast du angestellt, dass Gott dich dafür gestraft hat?«

»Und was stimmt mit dir nicht, dass du mich so angreifst?«, konterte ich lässig.

Mandy fühlte sich dadurch offenbar nur noch mehr angegriffen. »Du nervst! Riley passt gar nicht zu dir. Ich frag mich eh, was sie an dir findet. Dich würde es doch gar nicht stören, wenn sie auf einmal nicht mehr da wäre.«

Also giftete sie mich an, weil sie eifersüchtig auf meine enge Freundschaft zu Riley war. Das war albern und nebenbei auch noch kindisch. »Du weißt gar nicht, wie ich zu Riley stehe. Also behaupte nicht, dass es mich nicht stören würde. Denn sie bereichert mein Leben schon. Das habe ich die beiden Tage ohne sie gemerkt.«

Mandy sah mich wutentbrannt an. Sie hatte eindeutig ein Problem mit mir und scheute sich nicht, mir das zu zeigen.

Während sie mich so anstarrte und eine Ader an ihrer Schläfe pochte, kam ein mir bekanntes Verlangen in mir auf. Mein Inneres stand in Flammen und mein Körper übernahm die Kontrolle. Meine Füße setzten sich von allein in Bewegung.

Mandy stellte das Glas weg und hob ihre Hand. »Stopp! Wenn du jetzt auch nur auf die Idee kommst, mich zu schlagen, dann wirst du mich aber richtig kennenlernen!«

Ihre Worte hielten mich nicht auf. Sie prallten an mir ab wie ein Ball an einer Mauer.

Sie kann dich nicht aufhalten. Denn du brauchst es!

Ich packte sie am Arm und drückte sie gegen die Wand. Mandy riss die Augen auf und versuchte, mich von sich zu schieben, doch sie kam nicht gegen mich an. Meine andere Hand wanderte zu ihrem Hals und hielt sie fest, damit sie den Kopf nicht abwenden konnte.

Sie zappelte und röchelte, während ich mich vorbeugte.

Kurz spürte ich einen harten Schlag, ehe alles schwarz wurde.

»Kira?« Rileys Stimme drang nur sehr langsam zu mir durch. »Kannst du mich hören?«

Ich merkte, wie jemand an meinem Arm herumfummelte, ehe sich derjenige an meiner Schläfe zu schaffen machte.

»Ich glaube, sie kommt langsam wieder zu sich«, hörte ich Jenny sagen.

Mein Sichtfeld war noch immer verschwommen, doch wenigstens blickte ich nicht mehr in die Schwärze. Ich lag auf dem Fußboden der Küche. Riley hockte neben mir, während Jenny auf dem Stuhl saß. Mandy war nicht zu sehen. An meiner anderen Seite hockte ein Sanitäter.

»Was …?«, hauchte ich heiser.

Riley nahm meinen Arm. »Mandy meinte, dass du sie bei einem Streit angegangen wärst und da hat sie dir die Apfelsaftflasche über den Kopf gezogen.«

»Der schöne … Apfelsaft.«

Riley kicherte. »Wie geht es deinem Kopf?«

»Mein Kopf pocht.«

»Das wird an der kleinen Platzwunde an Ihrer Stirn liegen. Ich empfehle Ihnen Paracetamol gegen die Schmerzen«, erklärte der Sanitäter.

»Ich hab welches hier, das ich dir holen kann«, sagte Riley.

»Wie es aussieht, muss die Wunde nicht genäht werden. Dennoch sollten Sie auf Nummer sicher gehen und das Pflaster heute Abend wechseln. Sollte etwas sein, dann gehen Sie zum Arzt.«

Riley dankte ihm und half mir langsam hoch. Es war noch immer mitten in der Nacht.

»Sicher, dass alles okay ist?«, erkundigte sich Jenny, während der Sanitäter das Haus verließ.

Ich nickte langsam. »Alles in Ordnung. Ich weiß nur nicht, was passiert ist …«

Mandy und ich hatten eine Diskussion. Auf einmal bin ich auf sie los und habe sie gewürgt. Dabei wollte ich sie auch noch küssen. Was war bloß mit mir los?

»Mandy habe ich nun wohl endgültig davon überzeugt, dass ich ein Alien bin.«

»Quatsch. Sie hat zugegeben, dich provoziert zu haben. Komm, wir sollten uns wieder schlafenlegen«, schlug Riley vor und deutete Richtung Schlafzimmer.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich sollte nach Hause.«

»Aber es ist mitten in der Nacht!«, protestierte Jenny.

»Es ist besser, wenn ich nach Hause fahre. Ich rufe mir einfach ein Taxi.«

»Sicher, dass du nicht besser hierbleiben möchtest?«, fragte Riley.

Ich blieb bei meiner Meinung.

Eine halbe Stunde später saß ich bereits in einem Taxi auf dem Weg heim, mit einer Packung Paracetamol in der Hand. Dabei konnte ich nicht anders, als an den Vorfall zu denken.

Ich habe beinahe Mandy geküsst!

Das war bereits das vierte Mal, dass ich dieses Verlangen in mir gespürt hatte. Und dass ich danach die Kontrolle über mich verloren hatte.

Das Ganze hatte an jenem Abend auf Jendas Party angefangen. Als Mawon starb. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Die Gefühle danach, die ich mir bis jetzt nicht erklären konnte, bis hin zu Kayden, der mein Leben umzukrempeln versuchte.

Hoffentlich würde es nicht noch schlimmer werden. Das war jetzt schon zu viel für mich.

Das Taxi hielt vor unserem Haus. Ich reichte dem Fahrer das Geld und stieg aus. Drinnen war es totenstill. Meine Eltern und Hanna schliefen noch. Jedenfalls konnte ich nicht schlafen und setzte mich daher vor den Fernseher. Irgendwann wurden meine Augenlider schwer und ich nickte weg.

»Was machst du denn hier?«

Mein Dad stand neben der Couch und blickte fragend zu mir herunter. Ich blinzelte ein paarmal und drehte mich herum. »Schlafen, wie es aussieht.«

»Wolltest du nicht bei Riley übernachten?«

»Lief nicht so gut, da bin ich lieber wieder nach Hause gekommen. Ich muss wohl auf der Couch eingeschlafen sein.«

Ich runzelte die Stirn.

Mein Dad setzte sich neben mich und seufzte. »Was ist in letzter Zeit mit dir los?«

Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Es ist alles etwas kompliziert im Moment. Aber das ist kein Grund zur Sorge.«

Er nahm meine Hand und schien mir etwas sagen zu wollen. »Kira, wir …«, er stockte. »… sind immer für dich da.«

Mir kam es nicht so vor, als wenn er mir das hatte sagen wollen. Aber es würde nichts bringen, ihn darauf anzusprechen.

»Ich weiß. Und ihr wisst hoffentlich, dass ich es nicht böse mit euch meine. Mein Leben ist nur nicht so einfach und manchmal weiß ich auch nicht weiter. Ich kann eben nicht meinem Herzen folgen, sondern muss nach meinem Verstand gehen und dieser ist irgendwann auch überfordert.«

Nickend stand er wieder auf. »Wenn was ist, komm ruhig zu uns.« Mit einem Lächeln auf dem Gesicht zog er die Balkontür auf und sein Handy heraus.

Vielleicht war es doch schwieriger, meine Eltern zu sein. Ich war wohl das einzige Kind, welches seinen Eltern keinerlei Liebe entgegenbrachte.

»Du hast nicht ernsthaft auf der Couch geschlafen?«

Hanna kam ins Wohnzimmer. In der Hand hielt sie eine Tasse mit einer kochenden Flüssigkeit.

»Doch.«

Kopfschüttelnd setzte sie sich an den Tisch.

Am nächsten Morgen eilte ich zu meinem Spind. Dort wartete zu meiner Überraschung Kayden auf mich. Auf seinem Gesicht war ein neckisches Grinsen und er hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Lässig lehnte er neben meinem Spind.

»Na, hast du mich vermisst?«

»Nicht wirklich«, erwiderte ich und öffnete den Spind.

Er lachte. »Und, ist irgendetwas in der Zwischenzeit geschehen? Oder war dein Leben eintönig?«

Seufzend schloss ich den Spind wieder. »Riley und ich hatten Streit. Oder eher sie mit mir.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Ehrlich? Und es war dir egal?«

Ich nickte. »Das war mein Highlight.«

»Dein Leben muss aber wirklich langweilig und eintönig sein«, neckte er mich grinsend.

Ich verdrehte die Augen. »Deine Nebenbeschäftigung ist also erledigt?«

»Ich habe keine Interesse mehr daran und war der Meinung, dass ich lieber zurückkomme. Müsste ja gereicht haben, um zu beweisen, dass ich die Quelle deiner Gefühle bin.«

»Quelle meiner Gefühle?« Nun lachte ich spöttisch. »Es mag sein, dass es irgendwie anders ist, wenn du da bist, aber das heißt gar nichts.«

»Meinst du? Wir haben nun bewiesen, dass du auf mich reagierst, was du sonst nie tust. Und, dass dein Leben ziemlich eintönig ist. Das ist doch schon mal eine Erkenntnis, meinst du nicht auch? Daran können wir ja ansetzen.«

»Ansetzen?« Ich starrte ihn geschockt an. »Ich weiß nicht, was du von mir willst! Erst erteilst du mir Befehle, dann haust du ab und nun möchtest du an meinem Leben ansetzen? Was soll das denn bitteschön bedeuten?«

Nun wurde sein Grinsen breiter. »Du bist aufgebracht. Keine fünf Minuten mit mir und du bist wieder außer Kontrolle. Ich bin die Quelle deiner Gefühle.«

Seine Worte brannten sich in mein Hirn. Ein Gespräch mit ihm reichte und ich wollte ihm am liebsten eine scheuern. Irgendetwas stimmte mit diesem Jungen nicht. Bildete ich mir diese Gefühle nur ein oder waren sie tatsächlich da? Wenn ja, wie konnte das sein? Niemand sonst löste so etwas bei mir aus. Würde es nun ewig zu weitergehen?

»Du bist unmöglich«, sagte ich.

»Ich weiß. Vielleicht ist das der Grund, warum du mich willst.«

Ich bekam den Mund nicht mehr zu. »Wie bitte?!«

Er begann zu lachen. Das Lachen, das mir so eine Gänsehaut bescherte, dass ich wünschte, er würde nicht mehr damit aufhören.

»Du müsstest mal deinen Blick sehen!«

»Du bist nicht nur unmöglich, sondern auch noch ein Arsch!«, schrie ich ihn an, doch daraufhin brach er in schallendes Gelächter aus.

»Hallo, Leute.« Riley kam um die Ecke und unterbrach unseren kleinen Schlagabtausch. »Wie geht es dir heute?«, fragte sie mich.

»Wie immer. Bestens«, erwiderte ich und merkte, dass ich wieder runterkam.

Riley sah zwischen mir und dem grinsenden Kayden hin und her. Bei ihm blieb sie hängen. »Wo warst du die letzte Woche?«

»Mal hier, mal dort. Einige Dinge klären. Nichts Spannendes. Da ist die Schule schon aufregender«, erklärte er schulterzuckend.

Riley nickte und wandte sich wieder an mich. »Du solltest Mandy übrigens aus dem Weg gehen. Sie scheint nicht gut auf dich zu sprechen zu sein.«

»Dabei bin ich doch diejenige, die sie mit einer Glasflasche niedergeschlagen hat.«

»Deswegen die Wunde an deiner Schläfe?«, mischte sich Kayden ein. »Hatte mich schon gewundert, was du da gemacht hast.«

»Sie hatte Stress mit Mandy. Da hat die ihr eine Flasche Apfelsaft an den Kopf geschlagen. War ein spannender Abend«, erzählte Riley.

»Wieso Stress? Was war passiert?«

»Sie hat mich provoziert. Nur, weil ich nicht sauer auf sie werden kann, heißt das ja nicht, dass ich es für richtig halte, wenn sie mich niedermachen möchte«, verriet ich ihm.

Seine Kiefermuskeln spannten sich wieder an. »Dann bist du auf sie losgegangen?«

»So kann man das nicht nennen …«

»Du hast Mandy gewürgt, Kira. Sie dachte, dass du sie umbringen würdest.«

Ich schluckte. Wie gern wollte ich das jetzt abstreiten. »Ich … Keine Ahnung, was mich da geritten hat …«

Kayden lehnte weiterhin am Spind, doch sein Kiefer mahlte. Ihm lag etwas auf der Zunge.

»Ich habe keine Ahnung, was los ist. Ehrlich. Wenn ich es wüsste, dann hätte ich bereits etwas dagegen unternommen.«

Ich war unberechenbar. Selbst für mich. Das gefiel mir nicht.

Kayden packte mich am Arm und zog mich ein paar Meter von Riley weg. »Hast du sie geküsst?«

»Nein«, erwiderte ich und sah ihn missbilligend an. »Und wenn, dann ginge es dich eh nichts an. Wieso kommst du immer mit dieser Sache an?«

»Hattest du es vor?«, fragte er weiter, ohne auf meine Frage zu antworten.

»Beantworte meine Frage, Kayden.«

»Beantworte du erst einmal meine.«

»Kayden, dich geht das verdammt noch mal nix an!«

Auf seinem Gesicht spiegelte sich Besorgnis. Er griff erneut nach meinem Arm und zog mich an sich. »Leider geht es mich was an. Ich werde nicht von dir ablassen, bis du es mir gesagt hast.« Seine Finger bohrten sich schmerzhaft in meinen Arm.

Er machte mir Angst. Mist! Nicht schon wieder. »Könntest du mich loslassen? Du tust mir nämlich weh, Kayden.«

Er lockerte den Griff, hielt mich aber noch immer fest. »Ja oder nein? Das kann ja nicht so schwer sein!« Er blickte mir geradewegs in die Augen.

Mein Blick heftete sich starr an seinen und meine Härchen stellten sich auf. Diese Bindung baute sich wieder auf. Ein kleiner Funken tauchte in seinen Augen auf.

»Was zur …?«

»Fuck!«, schrie er und drehte sich weg. »Wieso funktioniert das denn nicht bei dir?«

»Okay … Nimmst du zufällig Drogen?«

Er fuhr herum. »Nein! Und jetzt antworte mir!«

»Nicht, wenn du mich so anschreist, Kayden!«

Seufzend fuhr er sich durch die Haare. »Die Antwort ist wirklich wichtig, Kira. Wolltest du Mandy küssen? So wie du Jadon küssen wolltest?«

Ich lehnte mich an den Spind. Kayden schien verwirrt. Es schien ihm mal wieder ernst zu sein. Wie immer, wenn er mit diesem Mist ankam und mich fragte, ob ich jemanden küssen wollte oder es getan hatte. Ich verstand nur den Grund dahinter nicht.

»Ich habe sie nicht geküsst. Keine Ahnung, ob ich es getan hätte. War ein wenig merkwürdig. Vielleicht habe ich ja Drogen genommen. Aus Versehen.«

»Ist das in den letzten Tagen noch einmal vorgekommen?«

»Kayden ...«

»Sag es mir!«

Ich seufzte und drehte mich mit dem Rücken zum Spind. »Als ich mich mit Riley gestritten hatte, da hatte ich zu Hause dieses komische Gefühl, wie auch gestern Nacht. Aber es ist nichts geschehen.«

»Du hättest Mandy fast erwürgt?«

Ich ließ mich zu Boden gleiten. Meine Beine versagten ihren Dienst. Ich hielt mir verzweifelt den Kopf.

Kayden ließ sich neben mir fallen. »Du kannst damit nicht umgehen.«

»Womit denn?«, fragte ich ihn unter Tränen. »Deinetwegen heule ich auch noch. Mann! Was machst du mit mir?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber hör mir mal zu: Dieses Verlangen, es entsteht nicht ohne Grund. Es sorgt dafür, dass du nicht mehr klar denken kannst. Aus diesem Grund wollte ich, dass du niemanden küsst. Weil es dann nur noch schlimmer wird. Du brauchst Hilfe.«

»Hilfe? Ich war schon bei zig Ärzten und Experten und keiner konnte mir helfen.«

»Dann waren es auch keine Experten. Ich glaub, dass ich weiß, wer dir helfen kann. Dafür musst du nach Hause gehen und dort bleiben. Halte dich von allem und jedem fern, der dieses Verlangen in dir wecken könnte. Verkrieche dich in dein Zimmer und bleib da«, erklärte er mir ruhig.

Ich verstand kein Wort. Das konnte aber auch daran liegen, dass mein gesamter Kopf dröhnte. Weinen war ich nicht gewöhnt. Ich wusste nicht einmal, wie man mit den kleinsten seelischen Schmerzen umgehen konnte! Schließlich hatte ich nie welche verspürt.

Kaum war Kayden wieder da, war ich wütend, verwirrt, bekam Gänsehaut und weinte mir die Seele aus dem Leib.

»Ich werde jetzt nicht nach Hause gehen und …« Ich schluchzte. »Und mich in mein Zimmer verkriechen!«

Er legte seinen Arm um mich und dirigierte meinen Kopf auf seine Schulter. »Dann sei bitte vorsichtig. Wenn etwas ist, dann sage mir Bescheid.«

Ich nickte und schloss die Augen.

Vom Unterricht bekam ich kaum etwas mit. Zwar waren meine Augen wieder trocken und mein Kopf dröhnte auch nicht mehr, doch ich spürte Kaydens Blick im Nacken. Noch dazu erschien es mir unmöglich, dass ich vor einer Stunde in seinem Arm zusammengebrochen war. Seit wann brach ich bitteschön zusammen?

Nun dachte Kayden bestimmt, dass ich schwach war. Sein Ego stieg sicher aufgrund dessen, dass ich zugegeben hatte, dass er etwas an mir veränderte. Sobald er sich von mir fernhielt, fühlte ich nichts mehr. Daran konnte ich nicht länger zweifeln. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, woran es lag, und dieses Problem in den Griff bekommen.

Aber möchte ich das?

Ja! Er brachte mich durcheinander. Seinetwegen wurde ich schwach. War überfordert mit meinen Gefühlen. Gefühle, die nicht existieren sollten. Es gab keinen Grund, sie zu wollen.

Als es endlich zur Pause klingelte, packte ich meine Sachen zusammen und machte mich auf den Weg in die Pause.

»Wieso läufst du ohne mich los?«, rief Riley mir im Gang hinterher.

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um. »Tut mir leid. Ich wollte mir einfach die Beine vertreten. Dachte, das wäre jetzt ganz hilfreich.«

»Möchtest du zum Sportplatz? Wir haben jetzt zwei Freistunden, da können wir uns ein wenig auspowern? Sportsachen liegen ja im Spind.«

Da gab es keinen Grund zu widersprechen. Wir holten unsere Sportsachen aus unseren Spinden, zogen uns in den Umkleiden um und gingen zum Sportplatz.

»Und, hat Kayden noch was zu dir gesagt?«, fragte Riley, während wir um das Feld joggten.

Sie wirkte deutlich abgehetzter als ich, weswegen ich mein Tempo drosselte. »Nichts von großem Wert. Hast also nichts verpasst.«

Außer, dass ich in seinem Arm geheult habe, wie ein großer Schoßhund.

»Ist ja langweilig. Vielleicht solltet ihr gemeinsam blau machen? Ihr könntet was sehr Schmutziges tun. Mir würde da so eine Menge einfallen …«

Bei dem Gedanken lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich schüttelte den Kopf, um klare Gedanken zu behalten. »Nein, danke. Ich schlafe nicht mit Kayden.«

»Mit wem sonst?«

»Niemanden?«

Sie lachte, dabei zog ihr ein Stich durch die Seite, welcher sie aufkeuchen ließ. Wir hielten an.

»Wirklich, Riley. Solange ich nicht weiß, was Kayden im Schilde führt, werde ich mich von ihm fernhalten.«

Sie begann sich zu dehnen. »Du fühlst in seiner Gegenwart etwas. Das sehe ich. Reicht das denn nicht? Das wäre deine Chance endlich mal zu erfahren, wie ...«

»Sag es nicht. Riley! Ich will das gar nicht hören!«. Ich seufzte. »Dass er Gefühle in mir hochkommen lässt, das darf ich nicht außer acht lassen. Aber deswegen werde ich noch lange keine Beziehung mit ihm eingehen.«

Sie sah mich von der Seite an. »Du brauchst doch keine Beziehung, um mit ihm zu schlafen.«

»Du weißt, wie ich das meine.«

»Wirklich, Kira. Ich verstehe dich so oft nicht. Das ist deine Möglichkeit, mal einmal das zu tun und zu fühlen, was wir fühlen.«

»Die Umstände sind falsch«, widersprach ich.

Riley trat näher an mich heran. »Ich gebe dir mal einen Tipp: Benutze mal weniger deinen Verstand, so wie wir anderen auch. Fühle einfach mal.«

Auch wenn ich mir wünschte, Kayden hätte keinen Einfluss auf mich, wusste ich, dass es so war.

Kaum war ich zu Hause, ging ich nach oben in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Heute wollte ich weder meine Eltern noch Hanna sehen. Erst musste ich einen klaren Kopf bekommen. Das gestaltete sich allerdings schwierig. All die Fragen ergaben keinen Sinn. Wie sollte ich die Antworten finden, wenn ich nicht einmal wusste, was hier vor sich ging?

Warum ist Kayden hier? Und warum scheint er mehr zu wissen, als ich, wobei es doch anscheinend mit mir zu tun hat?

Ich warf mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Es hatte etwas mit diesem Verlangen zu tun, welches ich nun bereits vier Mal verspürt hatte. Wo lag die Gemeinsamkeit?

Beim ersten Mal war ich auf Jendas Party. Ich war gerade aus dem Pool gestiegen, da kam Mawon an. Er war eindeutig betrunken gewesen und wollte, dass ich mit ihm schlief. Wollte ich aber nicht. Trotzdem wollte ich wenigstens einmal wie die anderen sein und ließ mich deswegen auf einen Kuss ein. Da kam dieses Verlangen zum ersten Mal auf. Ein inneres Brennen.

Dann starb Mawon. Und ich erlebte zwei verrückte Tage, in denen meine Gefühle Achterbahn fuhren. Gefühle, die ich nie zuvor gehabt hatte.

Beim zweiten Mal wartete Jadon an meinem Spind auf mich. Er sprach mich auf den Kuss mit Mawon an und gestand mir, dass er mich noch immer liebte und wir es noch einmal versuchen sollten. Ich stieß ihn weg, doch er ließ nicht locker. Schließlich wollte er mich küssen und das Verlangen schaltete sich ein.

Jedoch hatte Kayden den Kuss verhindert.

Das dritte Mal hatten Riley und ich uns gestritten. Ich bin nach Hause, wo ich auf meine Mom stieß. Sie wirkte besorgt und ich war verwirrt. Daraufhin setzte das Verlangen wieder ein und ich näherte mich ihr. Ich hatte mich selbst nicht mehr unter Kontrolle, wie alle Male zuvor auch.

Dieses Mal hatte Kaydens Nachricht mehr verhindert.

Das letzte Mal war gestern Nacht, als Mandy und ich uns gestritten hatten.

Alles in einem waren die Situationen immer merkwürdig. Einfach nur absurd. Und ich fand keinen Zusammenhang. Auch im Nachhinein konnte ich nicht verstehen, warum ich das getan hatte. Oder hatte tun wollen.

Kayden kannte den Grund. Er wollte mir ihn jedoch nicht sagen. Er wollte mir so vieles nicht sagen und das war wohl auch der Grund, warum ich ständig sauer wurde, sobald er in meiner Nähe war. Er spielte ein Spiel mit mir. Und ich machte mit, weil ich schon immer nach dem Grund hinter meiner Gefühlskälte gesucht hatte, um es wenigstens zu verstehen. Kayden gab vor, dass ich die Wahrheit direkt vor meinen Augen hatte.

Ungreifbar, weil er den Mund hielt.

Da war es doch nicht verwunderlich, dass mein Leben so seltsam war in letzter Zeit. Nur konnte ich Riley nichts davon erzählen. Oder meinen Eltern. Oder irgendjemandem sonst.

Wieso ist mein Leben nicht einfacher? Wieso kann ich nicht endlich mal aufgeklärt werden? Dann würde ich wenigstens wissen, was mit mir nicht stimmt. Was ich besser machen muss, damit es wieder wie immer sein würde.

Ich wachte auf, als ich jemanden auf dem Flur hörte. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es kurz nach elf am Abend war. Seltsam. Meine Eltern müssten schon längst schlafen.

Sicher war es Hanna, die mal wieder auf der Suche nach dem Bad die Flure durchquerte. Daher schloss ich die Augen wieder und kuschelte mich in mein Kissen.

Auf einmal hörte ich, wie sich meine Zimmertür öffnete. Ein kleiner Lichtstrahl drang herein. Weder meine Eltern, noch Hanna kamen unaufgefordert in mein Zimmer. Zumal ich die Tür abgeschlossen hatte. Meine Eltern besaßen keinen Ersatzschlüssel.

Jemand blieb vor meinem Bett stehen. Damit diese Person nicht merkte, dass ich wach war, hatte ich meine Augen wieder geschlossen. Leise schlich derjenige um mich herum und packte meinen Arm.

Ich zuckte zusammen und wehrte mich gegen den Griff, doch plötzlich klebte mir eine zweite Person etwas über den Mund. Ich spürte einen Stich am Arm und meine Augenlider flatterten. Kurz danach verlor ich das Bewusstsein.

»Ich möchte hoffen, dass Sie ihr nicht wehgetan haben.«

»Es ging recht schnell. Sie wollte sich wehren, doch wir haben sie sofort ruhig gestellt. Sie sollte also keine Verletzungen erlitten haben.« Ich konnte nichts sehen, roch aber jede Menge Desinfektionsmittel. Mein Körper kam nur langsam aus der Starre. Es fiel mir schwer nachzudenken. Mein Körper wollte nicht auf mich hören. Meine Finger zuckten und mein Sichtfeld wurde klarer. Ich blickte an die weiße Decke und fragte mich, was geschehen war.

»Sie wird wach«, hörte ich einen Mann neben mir sagen.

Ich drehte den Kopf zur Seite, um ihn ansehen zu können. Der Mann trug einen weißen Kittel und saß auf einem Stuhl direkt neben meinem Bett. Er hatte leicht ergrautes Haar und ein faltiges Gesicht.

Mein Blick glitt weiter Richtung Wand, an der ich Kayden lehnen sah. Sein Gesicht wirkte angespannt. Die Wut kam in mir wieder hoch und ich wollte aufspringen und mich auf ihn zu stürzen. Nur war ich dazu nicht in der Lage. »Was hast du gemacht?!«, schrie ich.

»Du brauchst Hilfe«, erklärte er. In seinem Blick lag Besorgnis.

Doch ich war zu wütend, um darauf einzugehen. »Du hattest kein Recht, mich entführen zu lassen!«

Kayden seufzte. »Deine Eltern sind informiert. Sie wissen, dass dir hier geholfen wird. Du wirst es verstehen und dann dankbar sein. Ab jetzt musst du dir keine Sorgen mehr darüber machen, ob du die Kontrolle verlierst und wie du Schlimmeres verhinderst. Du wirst nun lernen, damit umzugehen.«

Ich schnaubte. Der ergraute Mann, ich nahm an, er war ein Arzt, holte eine Spritze aus dem Nachttisch

»Was haben Sie vor?«, fragte ich.

Er ignorierte mich und führte die Spritze an meinen Arm. Ich wollte mich ihm entziehen – vergeblich. Er stach sie mir in die Vene und ich sank erneut in eine Ohnmacht.

Dieses Mal war Kayden nicht da, als ich aufwachte. Meine Wut war wie ausgelöscht und zurück blieben nur noch meine Fragen.

Wo bin ich? Warum bin ich hier? Was werden sie nun mit mir machen?

Erst jetzt nahm ich meine Umgebung richtig war. Schnell merkte ich, dass dies hier ein Krankenzimmer war. Der Geruch nach Desinfektionsmittel lag immer noch in der Luft, alles war weiß gehalten und auf ein paar leere Betten und Schränke, sicher für die Utensilien, reduziert.

Ich blieb nicht lange allein. Nur wenige Minuten nach meinem Erwachen wurde die Tür geöffnet und der Arzt von vorhin trat ein. Er trug einen Kittel und ein Klemmbrett in der Hand.

Als er mich sah, lächelte er.

»Mein Name ist Payton Hamilton. Ich bin der leitende Arzt hier. Wie fühlst du dich?«, fragte er und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber.

Ich lag noch immer auf dem Bett. »Wie immer.«

»Also nichts?«, fragte er.

Ich nickte. »Das gibt mir mehr Zeit, über Dinge nachzudenken.«

»Zum Beispiel?« Er drehte das erste Blatt an seinem Klemmbrett um und nahm einen Stift zur Hand.

»Warum ich hier bin, zum Beispiel.«

Meine Antwort schien ihn zu entzücken. Denn kaum hatte ich sie ausgesprochen, lehnte er sich zurück und lächelte. »Und, was denkst du?«

»Kayden hat das organisiert. Er meinte, dass er weiß, wer mir helfen könnte, und nun bin ich hier. Also, irgendwie scheint er in die Sache verstrickt zu sein.«

Er nickte zufrieden.

»Kayden hat uns tatsächlich informiert. Er meinte, dass du momentan nicht mit deinem Verlangen umgehen kannst und dir dadurch das Leben schwermachst. Noch dazu hatte er uns gegenüber geäußert, dass du in seiner Gegenwart deutliche Gefühle zeigst. Beweise dafür haben wir vorhin bereits geliefert bekommen.«

»Schwermachen? Mein Leben ist momentan etwas anders, aber das bedeutet doch nicht, dass ich mir mein Leben schwermache.«

»Nicht du, sondern deine Gefühle und dieses Verlangen. Vielleicht beruhigt es dich, dass es vollkommen normal ist. Dieses Verlangen existiert. Es sorgt bei vielen wie dir für Schwierigkeiten, weil kaum jemand es zu Anfang kontrollieren kann. Deshalb haben wir diesen Ort geschaffen, damit Leuten wie dir geholfen werden kann«, erzählte er weiter und beobachtete mich dabei genau.

Wer war noch wie ich? Was hat es mit diesem Verlangen auf sich?

»Woher kommt dieses Verlangen und was ist das?«

»Dein Körper verlangt dabei nach etwas, was du selbst nicht hast. Es möchte es so sehr, dass du jegliche Kontrolle über dich verlierst. Doch das jemandem zu nehmen, endet nie gut.«

Das half mir nicht weiter.

»Das erste Mal, als ich dieses Verlangen hatte, küsste ich jemanden, der kurz danach tot umgefallen ist«, erklärte ich, in der Hoffnung, dass er mir eine Antwort darauf geben konnte.

Er nickte. »Ich kann dir dazu mehr sagen, doch alles zu seiner Zeit. Erst einmal fangen wir mit den Grunddaten an. Zum Beispiel, wo du hier bist. Also: Dass das hier eine Organisation ist, hast du sicher bereits geahnt. Genau genommen befinden wir uns tief in einem Wald in einem Camp namens Aevitas. Unsere Aufgabe ist es, dich zu unterrichten, damit du danach ohne jegliche Bildungslücken zurückkehren und dein Leben leben kannst. Zweitens helfen wir dir dabei, mit deinen Problemen klarzukommen. Dafür klären wir dich in Schritten auf, was du bist und warum du so bist. Du bekommst zusammen mit den anderen dreimal die Woche eine Herkunftsstunde. Da wirst du alles Wichtige dazu erfahren. Was dabei noch wichtig ist, dass ihr euch gegenseitig keine Fragen beantworten dürft. Selbst in eurer Gruppe wissen die einen bereits mehr als die anderen, weil sie schon länger hier sind. Sollten wir herausfinden, dass einer von euch einem anderen Informationen weitergegeben hat, dann wird das bestraft. Verstanden?«

Ich nickte, verstand das mit dem nicht Weitergeben aber nicht wirklich.

»Gut, dann bringen wir dich mal eben in dein neues Zimmer.« Er führte mich hinaus in den hell erleuchteten Gang. »Wir befinden uns im Krankengebäude. Neben dem hier gibt es noch ein Kontrollgebäude und eins für den Unterricht und Speiseräume. Dein Zimmer befindet sich in einer Hütte, die in einer kleinen Siedlung steht. Einmal die Woche entzünden wir am späten Abend ein Lagerfeuer, an dem wir zusammenkommen und darüber diskutieren, welche Verbesserungsvorschläge zu machen sind und was wir weiter beibehalten sollten. So können wir uns verbessern.«

»Wie lange bleiben die Leute im Durchschnitt hier?«, fragte ich, während wir um die Ecke bogen.

Er überlegte kurz. »Unterschiedlich. Je nachdem, wie lange einer braucht, um sich unter Kontrolle zu halten. Aber durchschnittlich sind es drei Jahre.«

»Drei Jahre?« Verdammt ist das lange!

»Ja, drei Jahre. Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass viele bereits zu Beginn ihrer Pubertät hierher kommen. So zieht sich alles in die Länge, da das Verlangen erst nach Vollendung des siebzehnten Lebensjahr auftritt«, erzählte er weiter. Wir traten durch eine Tür in eine große Eingangshalle, wo er am Tresen stehenblieb. »Die meisten kommen bereits in so frühen Jahren her, um sich schon einmal zu bilden, ehe das Verlangen in Erscheinung tritt. So können sie das Ganze leichter verstehen und später angemessen darauf reagieren.«

»Nicht so wie ich, was?«

»Genau. Dir fehlt der Zusammenhang. Daher weißt du nicht, wie du es kontrollieren kannst oder welche Konsequenzen daraus folgen. Darum haben wir dir Kayden geschickt. Er sollte dich im Auge behalten und uns im Notfall kontaktieren.«

Nun wurde ich stutzig.

»Sie wussten von mir, ehe Kayden mich bei Ihnen gemeldet hat?« Er reichte das Klemmbrett über den Tresen an eine Dame weiter, die mit diesem verschwand.

»Genau. Wir stehen mit einigen Ärzten im Kontakt. Einer dieser Ärzte hat uns auf dich hingewiesen, nachdem du mit deinen Eltern dort warst. Wir haben dich einige Zeit im Auge behalten. Es ist nie groß etwas geschehen, weswegen wir auch nicht eingeschritten sind.«

Dann starb Mawon. Nachdem ich ihn geküsst hatte. »Sie sind durch den Vorfall auf der Party aufmerksamer geworden, oder?«

Er nickte. »Genau. Warum, das wirst du noch erfahren. Wichtig ist nur, dass wir mitbekommen haben, wie du nach dieser Party Gefühlsausbrüche hattest, die nicht normal für dich waren. Deswegen haben wir Kayden losgeschickt, damit er auf dich Acht gibt.«

Das hat er ja super hinbekommen.

»Für dich ist das alles sicherlich verwirrend. Du verstehst das Ganze noch nicht. Aber glaube mir, in ein paar Wochen wird sich alles klären.«

Wir gingen weiter durch den Eingangsbereich hinaus in den angrenzenden Park. Der strenge Geruch ließ nach und es roch nach Nadeln. Bäume wuchsen neben dem Weg auf den freien Flächen. Der Weg führte rechts und links vom Gebäude weg. In der Ferne sah ich ein weiteres, aber sehr viel größeres Gebäude.

Doktor Hamilton folgte meinem Blick. »Das Unterrichtsgebäude. Weiter rechts ist das Speisegebäude.«

Er führte mich nach links den Weg entlang. Nach wenigen Metern wurde der Weg breiter und neben uns tauchte ein Kletterpark auf. »Es gibt ein paar, die sich gerne durch das Klettern auspowern. Wir bieten hier viele Aktivitäten. In deinem Zimmer wird bereits ein Zettel bereitliegen, auf dem du eine wählen kannst.«

»Aber das macht doch gar keinen Sinn. Wenn diese Leute hier wie ich sind, dann haben sie doch keinen Spaß dabei«, widersprach ich.

Er lächelte. »Genau deswegen bist du hier. Du musst aufhören, dein Leben danach zu planen, ob dir etwas sinnvoll erscheint oder nicht. Diese Aktivitäten sind den Jugendlichen hier wichtig, damit sie etwas Abwechslung haben. Vielleicht nimmst du es nicht richtig wahr, aber du schläfst zum Beispiel besser, wenn du dich vorher auspowerst. Dein Leben ist bisher sicherlich eher eintönig gewesen. Das wollen wir hier ändern. Du musst dich nicht immer von den anderen unterscheiden. Du kannst wie sie sein. Denn in gewisser Weise nimmst du all die Gefühle schon wahr. Nur eben anders.«

»Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Jetzt vielleicht noch nicht.«

Wir bogen nach links ab. Die ersten Hütten erstreckten sich vor uns. Sie waren groß. Sehr groß. Holztüren dienten als Eingang. Die Wände waren unterschiedlich bemalt. Die einen eintönig, andere mit Mustern. Vor dem Eingang befand sich jeweils eine Veranda, auf denen die Bewohner entweder Karten spielten oder lasen. Wir gingen weiter und ließen die letzten Hütten hinter uns. Eine längere Zeit waren wir nur von Bäumen und Gras umgeben, bis die nächsten Hütten auftauchten. Wir hielten an der dritten auf der rechten Seite.

»Deine Zimmergenossin ist bereits da. Vergiss nicht, sie darf dir keine Fragen beantworten. Also stelle ihr auch keine. Nachher darfst du auch gerne deine Eltern anrufen.«

Dann rauschte er davon. Nun stand ich allein vor der Hütte, die für die nächsten drei Jahren mein neues Zuhause sein sollte.

»Okay, Kira. Es muss nicht sein, dass du so lange hierbleibst. Morgen bist du wieder zu Hause. Oder du träumst noch. Das muss es sein.«

»Führst du Selbstgespräche?«

Ich blickte hoch auf die Veranda, wo ein blondes Mädchen in der Tür erschienen ist. Sie musste ungefähr in meinem Altern sein und trug das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Ich rede auf jeden Fall nicht mit der Hütte.«

Sie grinste. »Wenn ich etwas witzig finden könnte, dann sicher das. Hey, ich bin Lacey.«

»Kira«, erwiderte ich. »Wie lange bist du schon hier?«

»Ein paar Wochen. Meine Eltern haben mich hergebracht, nachdem ich die Kontrolle über mich verloren habe«, erklärte sie schulterzuckend. »Weiß also noch nicht besonders viel. Und du? Warum bist du hier?«

Ich stieg die Treppe hoch und lehnte mich an das Geländer. »Ich habe vier Mal die Kontrolle über mich selbst verloren, weswegen Kayden mich verpfiffen und von denen hat entführen lassen.«

»Du kennst Kayden?«

Ich nickte. »Leider.«

»Wieso denn leider?«, hakte sie nach.

»Er ist ein ganz schöner Idiot mit einem großen Ego. Woher kennst du ihn?«

»Er ist öfters hier. Zuletzt vor ein paar Tagen. Er war wohl das erste Mal hier, da war er gerade einmal elf. Seitdem kommt er so gut wie jeden Monat für eine Woche her. Er organisiert hier vieles mit und hilft uns anderen ungemein.«

Nun war ich ehrlich interessiert. »Kayden ist wie wir?«

Sie nickte.

»Wow.« Ich dachte über all unsere Begegnungen nach. »Er wirkte so … so normal. Als würde er fühlen können.«

»Er hat es eben perfektioniert. Sich angepasst. Das lernen wir hier unter anderem. Damit wir nicht so auffallen, wenn wir das Camp wieder verlassen.«

Vielleicht war ich doch ein Alien. Nun würde meine Alienfamilie mich abholen und mitnehmen.

Lacey deutete auf die Eingangstür. »Wollen wir reingehen? Dann zeige ich dir mal, wie komfortabel wir hier leben.«

Ich nahm ihr Angebot an und folgte ihr hinein.

»Unser Wohnbereich!« Sie breitete die Arme aus.

Vor uns befanden sich eine Couch und ein Sessel, die zum Verweilen einluden. Der kleine Tisch vor dem Kamin versprach gemütliche Abende mit Knabberzeug. Mehrere Gemälde zierten die Wand und auf den Anrichten standen Vasen und Figuren. Rechts von mir war ein kleiner Durchgang, der einen weiteren Raum erkennen ließ, und links führte eine Wendeltreppe nach oben.

»Hütte, ja?«

Lacey nickte und deutete auf den Durchgang. »Wie du vielleicht schon erkennen kannst, geht es da zur Küche. Dort können wir uns Frühstück, Mittag und Abendessen machen. Wenn wir wollen, können wir aber auch ins Speisegebäude gehen. Links geht es nach oben zu unseren Zimmern und das Bad.«

Sie scheuten keine Kosten. Allein der Wohnbereich zeugte von Luxus. Wo gab es sonst so viele teure Gemälde? Campen auf hohem Niveau.

Lacey führte mich weiter nach oben in einen kleinen Flur, der zu drei Räumen führte. An der einen Tür hing das Schild »Bad« und auf einem anderen stand »Lacey«.

»Dein Reich ist dieses hier. Keine Sorge, unsere beiden Zimmer sind identisch, also keine Ungerechtigkeit. Das Bad liegt zwischen unseren Schlafräumen und kann durch diese Tür hier erreicht werden.«

Ich schielte auf den einzigen Durchgang, der nicht beschriftet war. Mein Zimmer …

Es kam mir so unrealistisch vor, hier zu sein. »Ich werde mich dann mal umsehen. Kannst mir ja Bescheid geben, wenn irgendetwas ansteht.«

Lacey nickte und ich verschwand in meinem neuen Domizil. Es war ebenfalls groß und luxuriös. Das Doppelbett stand gegenüber der Tür. Der Bezug sah weich aus. Rechts von mir befand sich ein Fenster, unter dem ein Schreibtisch und ein Stuhl standen. Direkt daneben stand eine Sitzecke mit Beistelltisch und Sessel, in welche man sich an kalten Wintertagen zum Lesen verkriechen konnte. Die ganze Wand auf der Eingangsseite war mit Schränken und Bücherregalen versehen. Links ging es zum Bad. Was mich jedoch am meisten verwunderte war das, was gegenüber des Bettes über der Tür hing: ein Flachbildfernseher.

»Sie sparen hier keine Kosten«, stellte ich kopfschüttelnd fest.

Und das für Menschen, die nicht dankbar sein konnten. Denen es egal wäre, wenn sie in einem Kaff leben würden, dessen Möbel bereits verwahrlost und verranzt waren.