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Herausgeber:

Matthias Kern

Selbstbestimmte Bildungwege als Kindeswohlgefährdung?

Beiträge zur Frage des Rechts, frei sich zu bilden - Band 2

Tagungsband zum Kolloquium am 15. September 2017 in Gießen

Vorwort des Herausgebers

Dieser Band ist in Folge eines interdisziplinären Kolloquiums am 15. September 2017 in Gießen entstanden, das von der Freilerner-Solidargemeinschaft e. V. initiiert und veranstaltet wurde.

Die im Sommer 2012 gegründete Freilerner-Solidargemeinschaft e. V. hat sich zum Ziel gesetzt, das Recht junger Menschen auf eine selbstbestimmte Bildung zu stärken und junge Menschen (und gegebenenfalls deren Familien) zu unterstützen, die aufgrund der eigenständigen Wahl ihrer Bildungsform (unter anderem in rechtlicher Hinsicht) unter Druck gesetzt werden. Aus der selten infrage gestellten – unserer Ansicht nach aber keineswegs zwangsläufigen und oft nicht sachgerechten – engen Koppelung von Bildung und Schule ergeben sich oft harte Auseinandersetzungen, wenn junge Menschen ihre Bildung in anderer Form, nämlich selbstbestimmt und selbstorganisiert, gestalten wollen und sich der Schule verweigern. Diese Konstellationen werfen für alle Beteiligten, für Schulen, Schulbehörden, Jugendämter und Gerichte ebenso wie für die jungen Menschen und gegebenenfalls ihre Eltern, viele Fragen ethischer, philosophischer, juristischer, aber auch praktischer Art auf. Welche Konsequenzen ergeben sich diesbezüglich aus der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dem Recht auch des jungen Menschen auf Achtung seiner Menschenwürde und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit?

Stellen selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildungswege ohne Schulbesuch tatsächlich – wie oft vermutet oder behauptet – eine Kindeswohlgefährdung dar?

Zu diesem Themenbereich möchten wir die damit zusammenhängenden Fragenkomplexe in einem konstruktiven, aber auch kontroversen Dialog interdisziplinär beleuchten und diskutieren.

Als Auftakt zu diesem Dialog haben wir am 18. Juli 2014 in Gießen ein erstes Kolloquium veranstaltet. Die überarbeiteten und ergänzten Vorträge wurden als Buch veröffentlicht: Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung versus Schulpflicht – Betrachtungen zum Spannungsverhältnis zwischen Schulbesuchspflicht und den Grundrechten der jungen Menschen. tologo verlag, Leipzig, 2016, ISBN 978-3-937797-59-5.

Die Fortsetzung bildete ein zweites Kolloquium am 15. September 2017, dessen Beiträge die Grundlage für diesen Band lieferten: Selbstbestimmte Bildungswege als Kindeswohlgefährdung?

Die Vortragenden hatten die Möglichkeit, ihre Vorträge für diesen Band nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu überarbeiten, zu ergänzen und zu aktualisieren. Den Vortrag von Alan Thomas haben wir sowohl in deutscher Übersetzung als auch im englischen Original aufgenommen. Die vier jungen Menschen, die sich in dem Kolloquium im Wesentlichen den Fragen des Publikums gestellt hatten, haben auf unsere Bitte hin ebenfalls zusammenhängende Texte verfasst. Direkt beim Kolloquium fiel die Entscheidung, noch einen Aufsatz von Roland Thomaschke, der als Teilnehmer anwesend war, in diesen Band aufzunehmen.

Die Reihenfolge in diesem Band gibt den zeitlichen Ablauf des Kolloquiums wieder.

Wir verstehen auch diese Veröffentlichung als Einladung zu einem Dialog. Bitte zögern Sie nicht, uns für Ihre Kritik, Ihre Anmerkungen und Fragen zu kontaktieren – wir freuen uns auf konstruktive Gespräche!

Wir danken den Mitgliedern der Freilerner-Solidargemeinschaft e. V. und allen anderen Menschen und Organisationen, die durch ihre Spenden die Veranstaltung des Kolloquiums und die Veröffentlichung der Vorträge in Form dieses Buches ermöglicht haben.

Ebenso danken wir den Teilnehmern des Kolloquiums für ihre Teilnahme, für ihre Aufmerksamkeit und für ihre spannenden Fragen und interessanten Beiträge.

Tobias Cepok und Franziska Klinkigt danken wir für die souveräne Moderation.

Esra Reichert danken wir für seine Dolmetschertätigkeit zu dem in englischer Sprache gehaltenen Vortrag von Alan Thomas.

Ganz besonders danken wir den Vortragenden und den Podiumsteilnehmern für ihre bereichernden Vorträge und für die Bereitschaft, sowohl zu dem Kolloquium als auch zu dieser Publikation beizutragen.

Markdorf, 14. August 2018

Matthias Kern

Kontakt: info@freilerner-solidargemeinschaft.de

Das Selbstbestimmungsrecht
des Kindes, das Elternrecht und der
Erziehungsauftrag des Staates

Dr. Andreas Vogt

I.

In fast allen europäischen und westlichen Ländern besteht – auch wenn in den einschlägigen Gesetzen dem Ausdruck nach teilweise von »Schulpflicht« die Rede ist – Bildungspflicht oder Unterrichtspflicht. Nicht so in Deutschland, hierzulande hat die Politik begrifflich für Schulbesuchspflicht optiert. Nach den Schulgesetzen der bundesdeutschen Länder sind Minderjährige ab sechs Jahren verpflichtet, am Unterricht und an den sonstigen Veranstaltungen einer »Schule« regelmäßig teilzunehmen. Die Eltern sind sanktionsbewehrt verpflichtet, für die Erfüllung dieser Pflicht zu sorgen. Wählen kann man nur zwischen staatlichen Schulen und staatlich genehmigten oder anerkannten Privatschulen (sog. Ersatzschulen), wobei der Schulbegriff organisatorisch-formal bestimmt wird als lehrkörpergeleiteter Kollektivunterricht an fester Stätte außerhalb des Elternhauses.

Die derart rigide verstandene Schulbesuchspflicht bedeutet eine massenhafte und besonders intensive Verkürzung der Freiheit junger Menschen. In Spannung steht sie auch zu dem Erziehungsrecht der Eltern. Diese Beeinträchtigungen von Grund- und Menschenrechten sind juristisch problematisch, nach herrschender Meinung aber bundesverfassungsrechtlich gerechtfertigt. Art. 7 Abs. 1 GG (»Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates«) setze einen sog. Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates voraus, den die landesgesetzliche Schulpflicht konkretisiere. Mit der Schulpflicht verfolge der Staat einen legitimen öffentlichen Zweck. Die damit einhergehenden Beschränkungen des Selbstbestimmungsrechts des Kindes und des Elternrechts seien verhältnismäßig, weil die Schulpflicht zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sei.

Wird ein Fall von Freilernen oder Homeschooling aktenkundig, tritt bald die Schulbehörde, bald das Jugendamt auf den Plan. Nicht selten landet der Fall beim Familiengericht. Nach § 1666 Abs. 1 BGB hat dieses in Ausübung des staatlichen Wächteramts (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) bei Gefährdung des Kindeswohls die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn die Eltern nicht willens oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Während Homeschooler sich in der Regel auf ihr Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) berufen, argumentieren Freilerner im Wesentlichen mit dem Selbstbestimmungsrecht des jungen Menschen.

Die ernsthafte Entscheidung des Kindes gegen den Schulbesuch ist vom Bundesverfassungsgericht allerdings noch nicht akzeptiert worden. Nach dem Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 19891 können sich Eltern nicht darauf berufen, ihr Gewissen gebiete ihnen, eine solche Entscheidung ihres Kindes zu achten und zu schützen: »Ein solch weitgehendes Selbstbestimmungsrecht von Kindern ist mit dem […] elterlichen und staatlichen Erziehungsauftrag ebenso wenig vereinbar, wie die […] Freiheit, ein solches Selbstbestimmungsrecht respektieren zu dürfen.« Bereits in ihrem Beschluss vom 05. September 19862 hat dieselbe Kammer des Bundesverfassungsgerichts ausgeführt, das Grundgesetz selbst bejahe die »Notwendigkeit einer Bevormundung von Kindern«. Von einer freien Entscheidung gegen den Schulbesuch, den es zu respektieren gelte, könne bei einem Sechsjährigen keine Rede sein.

Gegen diese undifferenzierte und empirisch defizitäre Rechtsprechung bestehen durchgreifende Bedenken. Immerhin ist das Selbstbestimmungsrecht Ausfluss der Würde des Menschen, die gemäß Art. 1 Abs. 1 GG unantastbar und durch alle staatliche Gewalt zu achten und zu schützen ist. Unbestreitbar hat auch der junge Mensch einen sozialen Wert- und Achtungsanspruch, der ihm aufgrund seines Menschseins zukommt. Auch Kinder und Jugendliche sind als geistig-sittliche Wesen darauf angelegt, in Freiheit und Selbstbewusstsein sich selbst zu bestimmen und auf die Umwelt einzuwirken. Einer Behandlung, die ihn zum bloßen Objekt degradiert und seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, darf auch der junge Mensch nicht ausgesetzt werden. Denn Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird.

Folgerichtig ist das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) – einfachgesetzlich die elterliche Sorge (§ 1626 Abs. 1 BGB) – kein Selbstbestimmungsrecht, sondern ein treuhänderisches (fiduziarisches) Recht im Interesse und zum Schutze des Kindes, das gleichwohl den Eltern als Abwehrrecht gegen den Staat auch um ihrer selbst willen zusteht. Konsequent bestimmt weiter § 1631 Abs. 2 BGB, dass Kinder ein »Recht auf gewaltfreie Erziehung« haben und »entwürdigende Maßnahmen […] unzulässig« sind. Und nach § 1626 Abs. 2 BGB berücksichtigen die Eltern bei der Pflege und Erziehung »die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln«.

Die »zunehmende Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes« wird auch vom Bundesverfassungsgericht bejaht. Die Pflege- und Erziehungserfordernisse und »die im Elternrecht wurzelnden Rechtsbefugnisse« treten mit wachsender Fähigkeit zur Selbstbestimmung und »abnehmender Pflege- und Erziehungsbedürftigkeit« hinter den Grundrechten des Kindes zurück3. Wann der Minderjährige selbstbestimmungsfähig ist, hängt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts von seiner individuellen Entwicklung und von dem jeweiligen Lebenssachverhalt ab. Das Elternrecht wird gegenstandslos, »wenn das Kind ein Alter erreicht hat, in dem es eine genügende Reife zur selbstständigen Beurteilung der Lebensverhältnisse und zum eigenverantwortlichen Auftreten im Rechtsverkehr erlangt hat«4. Allerdings bezieht sich diese Rechtsprechung nicht auf den Schulsektor, sondern auf das Eltern-Kind-Verhältnis.

Ein wesentlicher Grund dafür, dass die Entscheidung des jungen Menschen gegen den Schulbesuch durch die Rechtsprechung bislang nicht zur Zufriedenheit von Freilernern gewürdigt worden ist, dürfte die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Menschenbildformel sein. Danach ist »das Menschenbild des Grundgesetzes […] nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei den Eigenwert anzutasten. Dies ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Artikel 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Dies heißt aber: Der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt«5. Die beiden Hauptcharakteristika dieser von anderen deutschen Gerichten übernommenen Menschenbildformel sind der Eigenwert der Person und die menschliche Sozialgebundenheit. Im Zentrum steht nicht etwa die »Natur« des Menschen oder der Mensch »an sich«, sondern der dem Grundgesetz zugrunde liegende Freiheitsbegriff (Ulrich Becker).

Es ist davon auszugehen, dass das Bundesverwaltungsgericht seine zur Schulpflicht ergangene Rechtsprechung als im Einklang mit der bundesverfassungsgerichtlichen Menschenbildformel begreift: »Nur die permanente, obligatorische Teilhabe am Schulunterricht unter Hintanstellung aller entgegenstehenden individuellen Präferenzen gleich welcher Art [vermag] jenen gemeinschaftstiftenden Effekt zu erzeugen […], der mit der Schule bezweckt wird und der die Einführung der staatlichen Schulpflicht zu wesentlichen Anteilen legitimiert«6. Danach gibt es Selbstbestimmung quasi »nur im Käfig der Schulpflicht« (Ermano Geuer).

II.

Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe (Vogt, 2016), kann Freilernern derzeit zwar keine Entwarnung gegeben werden, jedoch lässt sich beobachten, dass viele im Falle von Freilernen angerufene oder ermittelnde Richter rechtlich verunsichert und in der Sache vorsichtig, manche sogar wohlwollend sind. Dies gilt jedenfalls im Familienrecht. Extreme Gereiztheit auf der Richterbank habe ich nur selten erlebt. Die den »Meinungsbeton« erodierende Entwicklung hat sich fortgesetzt. Weiterhin zwar hält sich in der herrschenden familiengerichtlichen Rechtsprechung zäh die falsche Gleichung »Nichtschulbesuch = Kindeswohlgefährdung«. Dies und der gleichwohl festzustellende Fortschritt in der Rechtsprechung seien abschließend demonstriert an einem turbulenten Fall aus Franken, in dem das jahrelange Tauziehen um einen (schulbesuchs-)freilernenden jungen Menschen im November 2016 sein familienrechtliches Ende gefunden hat.

Die Kindschaftssache wurde 2012 eingeleitet, weil der im Frühjahr 2006 geborene Betroffene nicht am Schulunterricht teilnahm. Im März 2015 entzog das örtlich zuständige Amtsgericht – Familiengericht – gemäß § 1666 Abs. 1 BGB der allein sorgeberechtigten Kindesmutter Teile der elterlichen Sorge (»Recht zur Regelung schulischer Angelegenheiten«, »Aufenthaltsbestimmungsrecht, soweit es die Durchführung des Schulbesuchs betrifft«, »Recht Hilfe zur Erziehung zu beantragen«), ordnete insoweit Ergänzungspflegschaft an und ermächtigte den Ergänzungspfleger, »die Herausgabe des Kindes zum Schulbesuch notfalls unter Einsatz von Gewalt und mittels Betreten und Durchsuchung der Wohnungen beider Eltern sowie unter Inanspruchnahme der Hilfe des Gerichtsvollziehers oder der Polizei zu erzwingen«.

Nachdem der Betroffene am Schulunterricht lediglich von April 2015 bis Oktober 2015 teilgenommen hatte, hob das Amtsgericht im März 2016 auf Antrag der Kindesmutter den Beschluss auf und stellte das Verfahren ein. Dagegen legte das Jugendamt Beschwerde ein mit der Überlegung, der bisherige Entzug der Teilsorgerechtsbereiche sei unzureichend, es bedürfe eines umfassenderen Rechts des Ergänzungspflegers auf Unterbringung notfalls in einer Jugendhilfeeinrichtung, um den Schulbesuch des Betroffenen sicherzustellen. Doch damit hatte das Jugendamt keinen Erfolg. Durch Beschluss vom 18. November 20167 hat das Oberlandesgericht Nürnberg die Beschwerde des Jugendamts als unbegründet zurückgewiesen.

Nach Auffassung des Senats bedeutet der Nichtbesuch einer Schule eine Kindeswohlgefährdung. Zwar sei ein Zurückstehen hinter dem Wissensstand und den kognitiven Fähigkeiten Gleichaltriger in dem Fall nicht festzustellen. Der Betroffene, an dessen sozialer Kompetenz nach den amtsgerichtlichen Feststellungen keine Zweifel bestünden, »wirkt in seiner geistigen Entwicklung durchaus altersgerecht«. Darauf komme es jedoch nicht an. Ob und mit welchem Erfolg es den Eltern bisher gelungen ist, einen altersangemessenen Lern- und Bildungsstand ihres Kindes zu gewährleisten, sei nicht entscheidend. Denn es gelte »der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule« (Art. 7 Abs. 1 GG), und dieser richte sich über die Vermittlung von Wissen hinaus auch auf die »Aufgabe, den Kindern durch einen gemeinsamen Schulbesuch die Gelegenheit zu geben, in das Gemeinschaftsleben in der Gesellschaft hineinzuwachsen«. »Für die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit hält auch der Senat es für notwendig, das Kind durch einen regelmäßigen Schulbesuch auch anderen Einflüssen außerhalb des Elternhauses auszusetzen und diesem so die Möglichkeit zu eröffnen, sich in ein Gemeinschaftsleben außerhalb der Familie zu integrieren, um sich dort die erforderlichen Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen anzueignen und zu lernen, sich an Regeln zu halten und Pflichten zu akzeptieren.«

Gleichwohl ist nach Überzeugung des Senats ein Eingriff in das elterliche Sorgerecht »nicht mehr aufrechtzuerhalten«. Erfolgreich abgewendet werden könne die Kindeswohlgefährdung nur durch eine Trennung des Kindes von seinen Eltern, aber eine solche Maßnahme zur Durchsetzung der Schulpflicht »erscheint […] nicht mehr verhältnismäßig«. »Eine Herausnahme aus diesem stabilen Umfeld verbunden mit einer dauerhaften Fremd- oder Internatsunterbringung würde für das Kind eine besondere Härte darstellen und es erheblich belasten. Die bestehenden sicheren Bindungen zu seinen Eltern würden massiv beeinträchtigt. Die hieraus resultierenden negativen Auswirkungen auf das Kind wären gravierend und in ihren nachteiligen Folgen für die weitere Entwicklung des Kindes nicht abzuschätzen. Die Herausnahme würde unter diesen Umständen zu einer eigenständigen erheblichen Beeinträchtigung des Kindeswohls führen, die den hierdurch erstrebten Zweck, nämlich den Schulbesuch des Kindes sicherzustellen und die aus der Nichtbeschulung resultierenden Nachteile abzuwenden, im Ergebnis nicht rechtfertigen kann.«

Auch ein geringerer Eingriff in das elterliche Sorgerecht »ist nicht mehr gerechtfertigt«, nachdem sich der vom Amtsgericht bereits im März 2015 beschlossene teilweise Sorgerechtsentzug »als ungeeignet zur Abwendung der bestehenden Kindswohlgefahr erwiesen« habe: »Die schulverweigernde Haltung der Eltern hat sich hierdurch nicht verändert.« »Beide Eltern haben erneut deutlich gemacht, dass sie die bestehende Schulpflicht ablehnen und es vorziehen, ihren Sohn selbst entscheiden zu lassen, ob er eine öffentliche oder private Schule besuchen und auf welche Weise er lernen möchte. Sie rechtfertigen ihre Haltung unter Hinweis auf die von ihnen propagierten Vorzüge des Freilernens sowie die zwischenzeitliche eigene ablehnende Haltung ihres Kindes gegenüber dem weiteren Schulbesuch.« Wegen der »weltanschaulich begründeten beharrlichen Weigerung der Eltern, den Schulbesuch ihres Kindes zu gewährleisten« stelle sich auch das familiengerichtliche Gebot, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen (§ 1666 Abs. 3 Ziffer 2 BGB), als »nicht zielführend« dar. Die Beschwerde des Jugendamts bleibe darum ohne Erfolg.

Im Ergebnis ist dieser obergerichtlichen Entscheidung zuzustimmen. Eingriffe in die elterliche Sorge für (schulbesuchs-)freilernende junge Menschen sind keineswegs stets angemessen; die Trennung des Kindes von seinen Eltern ist »nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig«. Falsch aber bleibt die vom Oberlandesgericht Nürnberg hartnäckig verteidigte Gleichung »Nichtschulbesuch = Kindeswohlgefährdung«. Nach Auffassung des Senats, die sich meines Erachtens weder familien- noch verfassungsrechtlich halten lässt, ist integraler Bestandteil des Kindeswohls unbedingt der regelmäßige Besuch einer »Schule« im organisatorisch-formalen Sinne. Das Beharren des Oberlandesgerichts Nürnberg auf diesem Absolutismus fußt wohl auf generalpräventiven Erwägungen (Abschreckung), die dem Familienrecht jedoch fremd sind. Die idealisierende These, der Mensch wachse in das Gemeinschaftsleben der Gesellschaft ausschließlich auf dem Schulbesuchswege hinein, kann ebenfalls nicht überzeugen. Ob sie in Ansehung der Schulwirklichkeit vielerorts den Praxistest bestünde, soll hier nur als Frage formuliert werden. Immerhin hat der Senat seine in demselben Fall ergangene bisherige Rechtsprechung8 nunmehr korrigiert, indem er das Prinzip der Verhältnismäßigkeit endlich recht gewürdigt und angewendet hat.

III.

Kurz vor Drucklegung der vorliegenden Publikation hat das Oberlandesgericht Düsseldorf den Beschwerden des betroffenen 13-jährigen Freilerners und seiner Mutter gegen eine Entscheidung des zuständigen Amtsgerichts – Familiengericht – abgeholfen und entschieden, dass familiengerichtliche Maßnahmen nicht veranlasst sind9. Das Amtsgericht hatte Ende 2016 der Kindesmutter unter Fristsetzung aufgegeben, den Betroffenen an einer öffentlichen Schule oder einer anerkannten Ersatzschule anzumelden und ihn einer Beschulung zuzuführen; zudem hatte es ihr die Auflage erteilt, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, den täglichen Schulbesuch sicherzustellen, mit der Schule bzw. den Lehrern zusammenzuarbeiten, Maßnahmen im Hinblick auf das Schulproblem zu unterstützen und nicht zu boykottieren. Das angerufene Oberlandesgericht Düsseldorf hat zwei Sachverständigengutachten eingeholt und nach mündlicher Verhandlung die Rechtsmittel für begründet erachtet. In den Entscheidungsgründen führt der Senat aus: Dass der Betroffene »bislang weder eine öffentliche Schule noch eine staatlich anerkannte Ersatzschule besucht hat und anzunehmen ist, dass er dies auch in Zukunft nicht tun wird, reicht allein für familiengerichtliche Maßnahmen nach § 1666 BGB nicht aus«. Für solche Maßnahmen sei »mangels konkreter Kindeswohlgefährdung« kein Raum.

Nach dem Leitsatz dieser höchst erfreulichen obergerichtlichen Entscheidung, die Relevanz über den entschiedenen Einzelfall hinaus hat, bedeutet die Nichterfüllung der landesgesetzlich angeordneten Schulpflicht also nicht zwangsläufig eine Kindeswohlgefährdung. Auf die Rezeption der von der – noch – herrschenden Meinung verteidigten, aber falschen Gleichung »Nichtschulbesuch = Kindeswohlgefährdung« hat das Oberlandesgericht Düsseldorf (erst) nach umfangreicher Beweiserhebung und -würdigung wohlerwogen verzichtet. Allerdings wird auch in diesem Senatsbeschluss das Vorliegen einer »Verletzung der öffentlich-rechtlichen Schulpflicht« nicht in Abrede gestellt und darauf hingewiesen, dass »es den Schulaufsichtsbehörden überlassen [bleibt], für eine Erfüllung der Schulpflicht Sorge zu tragen«. Diese Bemerkung des Senats ist familienrechtlich nicht zu beanstanden, weil die Durchsetzung der Schulpflicht jedenfalls dann nicht das Amt des Familiengerichts ist, wenn – wie im entschiedenen Fall – das Wohl des betroffenen jungen Menschen nicht konkret gefährdet ist. Bei Bejahung einer konkreten Kindeswohlgefährdung hingegen kommen Eingriffe in die elterliche Sorge folgerichtig in Betracht. Für familiengerichtliche Ermittlungen wird schulbesuchsfreies Lernen also wohl weiterhin Anlass geben.

Literatur

Vogt, Andreas: Die Schulpflicht vor Gericht. Freilernen und Homeschooling in der Rechtsprechung. In: Matthias Kern [Hrsg.]: Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung versus Schulpflicht. Betrachtungen zum Spannungsverhältnis zwischen Schulbesuchspflicht und den Grundrechten der jungen Menschen. tologo verlag, 2016, S. 85 ff

Dr. Andreas Vogt

*1973, wuchs in Nordhessen auf und studierte Rechtswissenschaft in Göttingen und Paris. Nach der ersten juristischen Staatsprüfung war er am Lehrstuhl von Professor Dr. Maria-Katharina Meyer (Universität Göttingen) beschäftigt und Promotions-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Graduiertenkolleg an der Universität Heidelberg). Den Vorbereitungsdienst leistete er in Berlin (Kammergericht), dort legte er auch das Assessorexamen ab. Seit 2006 praktiziert er als Rechtsanwalt in Eschwege mit bundesweiter Tätigkeit insbesondere im Schul- und Verwaltungsrecht, im Recht der elterlichen Sorge, im Verfassungsrecht und im Strafrecht. Einer seiner Schwerpunkte ist die Beratung, Vertretung und Verteidigung von Freilernern und Homeschoolern.

Website: www.vogt-recht.de

Kontakt: kanzlei@vogt-recht.de


1 BVerfG, Beschluss vom 21.04.1989 – 1 BvR 235/89 –.

2 BVerfG, Beschluss vom 05.09.1986 – 1 BvR 794/86 –.

3 BVerfGE 59, 360 <382>.

4 BVerfGE 59, 360 <387>.

5 BVerfGE 4, 7 <15 f>.

6 BVerwG, Urteil vom 11. September 2013 – 6 C 12/12 – und Urteil vom 11. September 2013 – 6 C 25/12 -.

7 OLG Nürnberg – 9. Zivilsenat und Senat für Familiensachen –,
Beschluss vom 18. November 2016 – 9 UF 551/16 – (FamRZ 2017, 454 ff).

8 OLG Nürnberg, Beschluss vom 15.09.2015 – 9 UF 542/15 – (FamRZ 2016, 546 ff).

9 OLG Düsseldorf – 2. Senat für Familiensachen –,
Beschluss vom 25.07.2018 – 2 UF 18/17.