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Philip Rebensburg | Dr. med. Andreas Kappl

GESUND
MIT
HEILPILZEN

Philip Rebensburg | Dr. med. Andreas Kappl

GESUND
MIT
HEILPILZEN

Immunsystem stärken, Krankheiten heilen und Beschwerden lindern

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Originalausgabe

3. Auflage 2022

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

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Redaktion: Simone Fischer, Stefanie Heim

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München

Umschlagabbildung: alle Abbildungen von Shutterstock: Paladin12, Foxyliam, Sabelskaya, Sophie_Rose

Layout: Katja Muggli www.muggli.de

Satz: Daniel Förster, Belgern

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Druck: Florjancic Tisk d.o.o., Slowenien

ISBN Print 978-3-7423-0521-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0186-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0187-8

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www.rivaverlag.de

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Inhalt

Vorwort

Wichtige Hinweise vorab

1 Die faszinierende Welt der Pilze

Uraltes Wissen um Heilpilze neu entdeckt

Kleine Pilzkunde

Von Pilzen und Menschen – Spuren aus der Urgeschichte

2 Inhaltsstoffe, Wirkung und therapeutische Anwendung

Der Gesundheitswert von Pilzen

Therapeutisches Potenzial

Pilzforschung im 21. Jahrhundert

Spezifische Inhaltsstoffe und ihre Wirkung

Pilze in der Mykotherapie: Behandlung von Krankheitsbildern

3 Herstellung und Darreichungsformen von Heilpilzprodukten

Ein noch unübersichtlicher Markt

Unterschiedliche Produktionsverfahren

Die besten Darreichungsformen mit der höchsten Bioverfügbarkeit

Einfach selbst zubereiten – Tees, Tinkturen, Suppen und Eiswürfel

Wichtige Hinweise zu Dosierung, Qualität und Nebenwirkungen

4 Krankheiten mit Heilpilzen behandeln

Heilen ohne Nebenwirkungen

Wie Sie den Darm gesund halten

Wenn der Magen Probleme bereitet

Parasiten – das verkannte Problem

Allergien bekämpfen und das Immunsystem ins Gleichgewicht bringen

Wechseljahresbeschwerden mindern

Bluthochdruck in den Griff bekommen

Was tun bei Borreliose?

Heilpilze und Vitamine bei leichter Demenz

Die Ursachen von Diabetes mellitus

Diagnose chronische Depression oder Erschöpfung

Fettstoffwechselstörungen regulieren

Vorbeugung gegen Arteriosklerose

Nervenerkrankungen behandeln

Rheumatische Erkrankungen

Heilpilze gegen Krebs?

Alle Dosierungsempfehlungen auf einen Blick

5 22 Heilpilze im Porträt

Die Vielfalt der Heilpilze

Das therapeutische Potenzial der Magic Mushrooms

6 Heilpilze sammeln, anbauen und verarbeiten

Heilpilze sammeln

Pilze richtig ernten

Pilze putzen

Die Ausbeute weiterverarbeiten

Die Grundlagen der Pilzzucht

Der schnelle Weg: Fertigkulturen und Pilzzuchtkits

Die Autoren

Empfehlenswerte Hersteller von Heilpilzprodukten

Anbieter von Pilzbruten, Fertigkulturen und Pilzzuchtzubehör

Literaturempfehlungen

Quellenverzeichnis

Vorwort

Wir leben in einer Zeit, in der die gesundheitlichen Auswirkungen des modernen Lebensstils, geprägt von Hektik, Stress und Reizüberflutung, immer mehr in den Vordergrund treten. Eine ungesunde Ernährung und Lebensweise gelten mittlerweile als die Auslöser der meisten sogenannten Zivilisationskrankheiten, deren Ausmaß immer größer wird. In gleichem Maße nimmt die Unzufriedenheit mit der westlichen Schulmedizin zu, die sich augenscheinlich schwertut, nachhaltige Heilungsstrategien für Krebs, Diabetes, Rheuma, Arthritis und Co. zu ersinnen und gut verträgliche Medikamente ohne gravierende Nebenwirkungen anzubieten. Immer mehr Menschen haben daher das Bedürfnis, ihr Wohlergehen selbst in die Hand zu nehmen, und sind auf der Suche nach Wegen, ihre Gesundheit und Körperkondition aufrechtzuerhalten und zu verbessern.

Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Naturheilkunde gegenwärtig ein spektakuläres Comeback erlebt. Aktuelle Umfragen zeigen, dass der Trend zu alternativen Heilmethoden seit Jahren ungebrochen anhält. Auch bei der Ernährung wird genauer hingeschaut. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse zur Ernährung im Jahr 2017 hat für die Deutschen inzwischen »gesund« einen höheren Stellenwert als »lecker«. Bei der Vorgängerstudie 2013 stand »lecker« noch im Vordergrund. Das wachsende Bewusstsein in der Bevölkerung um den Zusammenhang zwischen Ernährung und Krankheit führt zu einem vertieften Interesse an Lebensmitteln, die eine über den reinen Ernährungswert hinausgehende positive Wirkung auf den Organismus haben. Aus den USA stammt das Functional-Food-Konzept, welches auf Nahrungsmitteln mit medizinischer Wirkung aufbaut. Das war die Geburt einer neuen Wissenschaftsdisziplin, der Functional Food Science oder der modernen Ernährungsmedizin. Im Gegensatz zur konventionellen medizinischen Forschung, die den Fokus eher auf die Behandlung von Krankheiten und die Bekämpfung ihrer Symptome richtet, geht es hier darum, gute Gesundheit zu bewahren, ergo das System Mensch ins Gleichgewicht zu bringen, dort zu halten und damit die Voraussetzungen für die Entwicklung von Krankheiten zu reduzieren.

Ein prominentes Beispiel sind Pilze, die derzeit wortwörtlich in aller Munde sind und ganz zu Recht voll im Trend liegen, zeigen sie doch, dass »gesund« und »lecker« keine Gegensätze sein müssen. Essbare Pilze werden schon seit Jahrtausenden wegen ihrer kulinarischen Eigenschaften als Nahrung geschätzt und auch einige ihrer medizinischen und vitalisierenden Eigenschaften kennt man schon lange. Doch erst in letzter Zeit wird man sich bewusst, wie wertvoll Pilze als gesundes Nahrungsmittel und Quelle biologisch aktiver Substanzen mit medizinischer Wirkung tatsächlich sind. Pilze bieten ein hervorragendes Nährstoffprofil, sie sind kalorienarm, aber reich an Protein und Ballaststoffen, enthalten alle acht essenziellen Aminosäuren (Isoleucin, Leucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Threonin, Tryptophan und Valin), zahlreiche Vitamine und Mineralstoffe und bieten darüber hinaus eine Fülle von Substanzen, die unserer Gesundheit förderlich sind und sogar Krankheiten bekämpfen können. In diesem Zusammenhang werden Pilze in jüngster Zeit rege erforscht. Aktuell (2019) gibt es mehr als 50 000 wissenschaftliche Veröffentlichungen im Zusammenhang mit der Heilwirkung von Pilzen. Auch der Markt für Nahrungsergänzungsmittel aus Pilzen boomt: Weltweit wird sein Wert auf mehr als 18 Milliarden Dollar geschätzt.1

»Der Pilz erlaubt es dir, deutlicher zu sehen, als unser untergehendes sterbliches Auge sehen kann, über die Horizonte dieses Lebens hinauszublicken, in der Zeit vorwärts und rückwärts zu reisen, in andere Ebenen der Existenz einzutreten und sogar (wie die Indianer sagen) Gott zu erfahren.«

R. Gordon Wasson, Wallstreet-Banker und privatgelehrter Ethnomykologe (1898-1986)

Das in diesem Buch vermittelte Wissen basiert auf sorgfältigen und gewissenhaften Recherchen. Dr. Andreas Kappl und ich möchten Ihnen einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand in puncto Heilpilze geben, über ihren konkreten Einsatz in einer Arztpraxis berichten und Sie mit unserer Begeisterung für das verkannte Königreich der Pilze anstecken, ohne jedoch den Boden der Tatsachen zu verlassen. Nach einer ausführlichen Reise in die Welt der Pilze mit ihrer Systematik, Geschichte, den Inhaltsstoffen, Wirkungen und der Anwendung erfahren Sie alles Wissenswerte zu den 22 wichtigsten Heilpilzarten im Porträt und wie Sie diese konkret nutzen und zur Förderung Ihrer Gesundheit anwenden können.

Wir wünschen Ihnen viele neue Erkenntnisse und hoffen, Ihr Interesse an Heilpilzen geweckt zu haben!

Philip Rebensburg
Dr. Andreas Kappl

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Wichtige Hinweise vorab

Ziel dieses Buches ist es, Ihnen einen Überblick über die neuesten Erkenntnisse der Ernährungsmedizin im Hinblick auf Heilpilze zu geben, basierend auf gründlicher wissenschaftlicher Recherche. Keinesfalls kann durch die hier bereitgestellten Informationen die Betreuung durch einen erfahrenen Arzt oder Heilkundigen ersetzt werden. Hier beschriebene medizinische Wirkungen und Anwendungen von Pilzen, auch die Dosierungsempfehlungen, dienen lediglich der Information und sollen nicht zur Selbstmedikation anregen. In jedem Fall sollten Sie bei der Selbstbehandlung mit Heilpilzen einen Therapeuten oder einen behandelnden Arzt hinzuziehen, um die hier genannten Präparate auf den speziellen Bedarfsfall prüfen zu lassen. Setzen Sie keinesfalls bereits verordnete Medikamente eigenmächtig ab.

Informationen zur rechtlichen Situation

Es besteht leider derzeit in Deutschland und Europa eine verwirrende Rechtslage rund um die medizinische Verwendung von Pilzen. Zu medizinischen Zwecken nutzbare Pilze als Heil- oder Medizinalpilze zu bezeichnen, wird von offiziellen Stellen höchst kritisch gesehen, da dies vom Wort her gesundheitliche Wirkungen suggeriert, die rigoros infrage gestellt werden. Man könnte meinen, dass der Gesetzgeber in Sachen Biologie auf dem Stand der 1960er-Jahre ist, als man noch glaubte, Pilze wären Pflanzen. Denn Pilze werden in mehr als 50 Jahre später erlassenen Vorschriften und Regularien noch immer zu den Pflanzen gerechnet und als »Kräuterprodukte« angesehen. Einige der essbaren Pilze mit medizinischen Eigenschaften werden als Speisepilze eingestuft und der Kategorie »Gemüse« zugeordnet, unterliegen also dem Lebensmittelrecht, während andere Medizinalpilze wegen ihres bitteren Geschmacks und ihrer zähen oder holzartigen Konsistenz nur als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen sind. Wieder andere bekommen, etwa weil sie zu bitter sind, noch nicht einmal die Zulassung als Nahrungsergänzungsmittel. Und dann gibt es da noch die Novel-Food-Verordnung (EU) 2015/2283, die große Hürden bei der Neuzulassung von Heilpilzen und Heilpilzprodukten schafft. Für eine Zulassung als Heilmittel oder gar als Arzneimittel müssten umfangreiche und kostenintensive Studien vorgelegt werden, sodass bis dato in Deutschland kein einziger Heilpilz zugelassen ist. Durch das Arzneimittelgesetz und die Health-Claims-Verordnung besteht daher für Hersteller und Verkäufer ein Verbot, für ihre Pilzprodukte mit deren medizinischen Eigenschaften zu werben. Das hat schon so manchem Verkäufer eine saftige Abmahnung eingebracht. Durch die unübersichtliche Rechtslage sind für Medizinalzwecke eingesetzte Pilze in Deutschland und Europa in eine rechtliche Grauzone zwischen Kosmetika, Novel Foods (neuartige Lebensmittel), Gesundheitspflegeprodukten und Arzneimitteln gerutscht.

Die Konsequenzen dieser politisch verursachten Grauzone sind, dass Hersteller keine Angaben über die enthaltenen Wirkstoffe und ihre Anteile machen müssen, es keine Standardisierung und damit keine einheitliche Dosierung gibt und dass die Qualitätssicherung der auf dem Markt befindlichen Produkte lückenhaft bis mangelhaft ist. Auch wenn sich viele Hersteller um Transparenz bemühen, gibt es leider auch schwarze Schafe, die die Situation ausnutzen. Immerhin setzt man sich beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit der Thematik auseinander. So steht in der Stellungnahme der Gemeinsamen Expertenkommission des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zur »Einstufung bestimmter Vitalpilzprodukte« (Nr. 01/2014): »Die Expertenkommission ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Produkte der drei betrachteten Vitalpilzarten Chinesischer Raupenpilz (Ophiocordyceps sinensis), Schmetterlingstramete (Coriolus versicolor) und Lackporling (Ganoderma lucidum) insbesondere dann unzulässig als Lebensmittel (Nahrungsergänzungsmittel) im Verkehr sind, wenn für eine konkrete Information zu dem einzelnen Produkt auf die allgemeinen Informationen im Internet zurückgegriffen werden muss. Die Kommission sieht die Gefahr, dass Verbraucher die Vitalpilzprodukte aufgrund der krankheitsbezogenen Bewerbung im Internet als Arzneimittel ansehen können. Entsprechend den Regelungen des Arzneimittelgesetzes müsste dann für diese Produkte die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in einem Zulassungsverfahren nachgewiesen werden.« Diese Einstufung ist höchst problematisch für alle, die mit Heilpilzen arbeiten möchten, denn ein Zulassungsverfahren als Arzneimittel ist so aufwendig, kostspielig und zeitintensiv, dass es für kleine Betriebe fast unmöglich zu realisieren ist. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Anmerkung zu den Pilznamen

Die Namensgebung der Pilze ist ein komplexes Themengebiet. So sind etliche Pilze unter verschiedensten alternativen Namen bekannt. Die Biologie benutzt daher zweiteilige lateinische Namen, die sogenannte binäre Nomenklatur nach Carl von Linné, um Arten von Lebewesen eindeutig zu benennen und voneinander zu unterscheiden. Sie besteht aus dem vorstehenden Gattungsnamen und dem nachgestellten sogenannten Art-Epitheton, der klein und wie der Gattungsname kursiv geschrieben wird und häufig ein charakterisierendes Adjektiv ist. Zum Beispiel steht bei der Schmetterlingstramete (Trametes versicolor) das Art-Epitheton »versicolor« für »vielfarbig«.

Gerade bei den Pilzen hat das Namensgebungskonzept aber nicht immer reibungslos funktioniert. Sie sind sowohl in ihrem Erscheinungsbild innerhalb einer Art äußerst vielfältig als auch zwischenartlich schwer voneinander zu unterscheiden. Es ist also wenig verwunderlich, dass in der Vergangenheit häufig unterschiedliche Arten dem gleichen Namen zugeordnet wurden. Ebenso wurde ein und dieselbe Art von verschiedenen Mykologen (Pilzwissenschaftlern) nicht als solche erkannt und unterschiedlich benannt. Ein bezeichnendes Beispiel ist der Mandelpilz. Er wird in seiner Funktion als Medizinalpilz häufig als ABM bezeichnet, was für Agaricus blazei Murrill steht. Er ist aber ebenso als Agaricus brasiliensis bekannt und neuerdings nennt man ihn wissenschaftlich exakt Agaricus subrufescens. Der Streit unter Mykologen um die Namensgebung der Pilze ist so alt wie die Mykologie selbst, aber dank moderner genetischer Analysemethoden kann heutzutage jede Art eindeutig zugeordnet werden und viele Fehlzuordnungen konnten bereits korrigiert werden. Damit einher gehen aber zahlreiche Neu- und Umbenennungen auch sehr gängiger Pilzarten, sodass mittlerweile sogar Fachleute verwirrt sind. Da zudem alle Literaturquellen vor einer Umbenennung den oder die alten Pilznamen verwendet haben, müssen diejenigen, die sich mit Pilzen beschäftigen, eine Vielzahl synonymer Bezeichnungen zuordnen können. So heißt beispielsweise der bekannte tonisierende Raupenpilz (Cordyceps sinensis) seit Kurzem wissenschaftlich korrekt Ophiocordyceps sinensis.

In diesem Buch werden der Einfachheit halber die in den Porträts vorgestellten Pilze (ab Seite 101) mit ihrem gängigsten deutschen Namen bezeichnet. Die aktuellen lateinischen Namen sowie gängige alternative Bezeichnungen sind bei jedem porträtierten Pilz aber zusätzlich angegeben.

»Pilze sind kein Gemüse, Pilze sind ein Königreich!«

Unkas Gemmeker, Gesundheitsblogger und Podcaster

Kapitel 1

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Die faszinierende Welt der Pilze

Uraltes Wissen um Heilpilze neu entdeckt

Etwa 25 Prozent der gesamten Biomasse auf der Erde lässt sich dem Königreich der Pilze zuordnen.1 Pilze sind das Recyclingsystem der Natur, aber das ist nur ein kleiner Aspekt ihres Wirkens im Gefüge des Lebens auf diesem Planeten. Es gäbe ohne sie weder Pflanzen noch Tiere, denn sie zersetzen Gestein und organisches Material zu Erde und schaffen so erst die Voraussetzung für das Überleben von Pflanzen und damit auch von Tieren. Viele Dinge unseres Alltags gäbe es nicht ohne die unsichtbare Mithilfe der Pilze, dazu zählen Brot, Bier, Wein und Käse, aber auch Waschmittel und Antibiotika. Die Entdeckung von Penizillin aus einem lästigen Schimmelpilz, der Obst befällt, revolutionierte Anfang des 19. Jahrhunderts die Medizin.

Pilze haben so viel zu bieten, und doch fristen sie überwiegend ein Schattendasein im kollektiven Bewusstsein der abendländischen Welt. Das war nicht immer so. Schon zu prähistorischer Zeit erkannten und schätzten unsere Vorfahren die nährenden, heilenden, tonisierenden, aphrodisierenden und psychoaktiven Eigenschaften von Pilzen. So schreibt der Ethnomykologe R. Gordon Wasson: »Die Verwendung von Pilzen, wenn ich richtigliege, hat sich über den größten Teil Eurasiens und Amerikas ausgebreitet, und als der Steinzeitmensch in das Licht der Vorgeschichte getreten ist, mögen diese seltsamen Pilze durchaus das wichtigste Geheimnis seiner heiligen Mystik gewesen sein.« Pilze hatten ihren festen Platz in allen großen Hochkulturen und wurden regelrecht verehrt und teilweise sogar vergöttert. Zahlreiche Relikte alter Hochkulturen, insbesondere der Maya und Azteken, zeigen dies.2 Außer als Quelle für Nahrung und Medizin wurden einige Pilze auch für religiöse und spirituelle Zwecke verwendet. Letzteres war der Kirche schon im Mittelalter ein Dorn im Auge und wurde rigoros bekämpft, dabei finden sich auch in der Geschichte des Christentums zahlreiche Hinweise auf den Gebrauch psychoaktiver Pilze. So zeigt etwa die berühmte bronzene Bernwardstür im Dom zu Hildesheim aus dem 11. Jahrhundert Szenen der Vertreibung aus dem Paradies. Aber den Baum der Erkenntnis sucht man vergebens. Adam und Eva stehen neben Gebilden, die durchaus als überdimensionale Pilze interpretierbar sind und an den psychoaktiven Spitzkegligen Kahlkopf (Psilocybe semilanceata) erinnern, der ebenfalls oft einen schlangenförmig gebogenen Stiel besitzt. Andere Abbildungen stammen aus einem Gebetsband namens Paris Eadwine Psalter (1180 nach Christus)3 und zeigen ebenso biblische Szenen mit Formen, die verblüffende Ähnlichkeit mit Pilzen besitzen. Man darf vermuten, dass unter dem Eindruck der Inquisition und Hexenverbrennungen unter Federführung der katholischen Kirche das Wissen um die Heileigenschaften von Pilzen in der westlichen Hemisphäre und insbesondere in Europa fast vollständig verloren ging.

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Die Bernwardstür des Doms zu Hildesheim aus dem Jahr 1015 zeigt links Szenen aus dem 1. Buch Mose des Alten Testaments, rechts das Leben Jesu Christi aus dem Neuen Testament.

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Eine der zwölf farbenfrohen Tafeln im Gebetsband Paris Eadwine Psalter (12. Jahrhundert), die biblischen Szenen mit prominent dargestellten Pilzen zeigt.

Leider ging auch nach der Entdeckung Amerikas durch die spanischen Konquistadoren viel traditionelles Heilwissen der Urbevölkerung Nord- und Südamerikas verloren. Zum Glück dehnten sich ihre kulturellen Raubzüge nur gen Westen aus, und so kann die Volksmedizin Südostasiens, insbesondere die traditionelle chinesische Medizin, kurz: TCM, auf annähernd 4000 Jahre lückenlose Erfahrung im Umgang mit Heilpilzen zurückblicken. Die dort vorhandene Wertschätzung der Pilze lässt sich schon an der Namensgebung erkennen: »Pilz der Unsterblichkeit«, »Baum-des-Lebens-Pilz« oder »Götterpilz« nennt man sie respektvoll in China und Japan. Bei uns tragen Pilze hingegen oft negativ behaftete Namen wie »Judasohr«, »Satansröhrling« oder »Hexenbutter«. Sie zeigen die im Vergleich eher skeptische Einstellung der Europäer gegenüber den seltsamen »Hutwesen«. Schuld sind im finsteren Mittelalter entstandene Ansichten, dass etwa Pilze aus Fäulnis entstehen würden oder bevorzugt an Versammlungsorten von Hexen und Geistern wachsen, die bis heute nachklingen. Aus dieser Zeit stammt auch die Bezeichnung »Hexenring« für ringförmig stehende Pilze.

Die Wiederentdeckung der heilenden Wirkung von Pilzen

Erst vor wenigen Jahrzehnten, als die Naturheilkunde in der abendländischen Welt wieder in den Vordergrund rückte, wurde die hiesige medizinische Forschung auf die äußerst interessanten Wirkstoffe der Heilpilze aufmerksam. Wissenschaftler begannen, die Wirksamkeit ihrer Inhaltsstoffe auf die menschliche Gesundheit unter westlichen Gesichtspunkten zu studieren. Viele der aus der traditionellen chinesischen Medizin bekannten Wirkungen konnten seither wissenschaftlich bestätigt und die dafür verantwortlichen Stoffe identifiziert und charakterisiert werden. Heute sind viele Heilpilze gut - wenn auch nicht umfassend - dokumentiert und längst Bestandteil zahlreicher Therapiekonzepte der modernen ganzheitlichen Medizin. Gestützt durch umfangreiche wissenschaftliche Belege setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die Ernährung zum Erlangen und Erhalten von Gesundheit weitreichendere Konsequenzen hat als bisher angenommen. Viele biologische Funktionen des menschlichen Körpers werden durch die Ernährung kontrolliert und moduliert, im positiven wie auch im negativen Sinn. Für viele Menschen kommt die Erkenntnis um den Zusammenhang zwischen Krankheit und Ernährung allerdings zu spät. Zivilisationskrankheiten wie etwa Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Krebs, Arteriosklerose (eigentlich Atherosklerose, Verengung der Arterien durch Ablagerungen), Rheuma, Schlaganfälle und Herzinfarkte sind überwiegend durch Fehlernährung4, ungesunde Lebensweise5 und Umwelteinflüsse6 verursacht. Der Stress, den der hektische Alltag unserer modernen Lebensweise mit sich bringt, tut sein Übriges dazu.

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Der auch bei uns heimische Wiesenchampignon Agaricus campestris) bildet gern Hexenringe.

In Zeiten industriell hergestellter Fertigkost und raffinierter Getreideprodukte, die größtenteils ihrer enthaltenen Mineralstoiffe und Vitamine beraubt sind, ist die regelmäßige Versorgung mit allen für den Körper wichtigen Nährstoffen von größter Bedeutung, um die Entwicklung ernährungsbedingter Krankheiten zu vermeiden. »Lass die Nahrung deine Medizin sein und Medizin deine Nahrung!«, predigte einst schon Hippokrates, der Philosoph und Begründer der westlichen Medizin. Nach ihm ist Nahrung die einzige nachhaltige Medizin und gleichzeitig die Basis für Gesundheit. Pilze können hier einen großen Beitrag leisten, um wieder in den Zustand der Homöostase (Kasten unten) zu kommen beziehungsweise diesen Zustand zu erhalten, wenn wir ihn schon erreicht haben. Sie enthalten eine Fülle an Nährstoffen, deren Bedarf durch andere Nahrungsquellen teilweise sehr schwer zu decken ist. Viele Pilze enthalten auch eine Vielzahl an bioaktiven Stoffen, das heißt Substanzen, die eine nachweisbare Wirkung auf den Körper haben. Sie wirken regulierend auf die Körperprozesse, stärken Entgiftungsorgane, bekämpfen Bakterien und Viren, hemmen Entzündungen, erhöhen die Stressresistenz und Leistungsfähigkeit und noch vieles mehr.

Von den weltweit etwa 2000 essbaren Pilzarten enthalten bis dato mehr als 700 nachgewiesenermaßen medizinisch relevante Stoffe. Etliche dieser Pilze sind bereits seit Tausenden von Jahren bekannt und ein fester Bestandteil der traditionellen Volksheilkunde in Südostasien, insbesondere China, aber auch in Russland sowie Mittel- und Osteuropa. Sie werden seit einigen Jahrzehnten intensiv erforscht und sind Thema dieses Buches.

Die Homöostase - ein Zustand des Gleichgewichts

Der Begriff »Homöostase« leitet sich aus dem Griechischen homoiostásis ab. Dabei steht homoios für »gleich« und stasis für »bleibender Zustand«. Auf den Körper bezogen spricht man von einem physiologischen Gleichgewicht des inneren Zustands oder auch vom Gleichgewicht des (Organ-)Systems. Damit sind die Körperfunktionen gemeint wie etwa ein stabiler Blutdruck, ausgeglichene Blutzuckerwerte oder ein optimaler pH-Wert. Unser Körper sollte in der Lage sein, dieses körperliche Gleichgewicht selbst zu regulieren und innerhalb bestimmter Grenzen zu halten.

Kleine Pilzkunde

Pilze leben meistens auf festem Substrat, in der Regel Erde, Holz oder anderen organischen Materialien. Sie siedeln aber auch im Wasser und man findet sie sogar im Ozean. In Sachen Aussehen und Lebensweise unterscheiden sie sich drastisch. Viele der geschätzten 1,5 Millionen Pilzarten sind mikroskopisch klein. Manche können im Dunkeln leuchten, andere Insekten unter ihre Kontrolle bringen. Einige sind in der Lage, Krankheiten zu heilen, andere verursachen sie und wieder andere schicken uns mental auf fantastische Reisen. Pilze sind in jeder Hinsicht faszinierend.

Zur Biologie

Noch bis in die 1960er-Jahre wurden Pilze als eine Art niedere Pflanzen betrachtet, obwohl sie keine Fotosynthese betreiben können, also den Aufbau organischer Substanz aus anorganischen Stoffen unter Mitwirkung des Sonnenlichts. Sie wurden im Stammbaum des Lebens - Übersicht darüber, wer oder was wann wo aus wem hervorgegangen ist -, der damals nur zwischen Pflanzen, Tieren und Protisten (Einzellern) unterschied, den Pflanzen zugeordnet. Tatsächlich sind Pilze aber weder Pflanzen noch Tiere. 1969 bekamen sie auf der Basis ihrer Ernährungsweise ein eigenes biologisches »Reich« zugewiesen. Pflanzen produzieren ihre Nährstoffe durch Fotosynthese und Tiere nehmen sie auf, indem sie andere Tiere oder Pflanzen fressen. Pilze haben sich hingegen überwiegend als sogenannte Saprobionten darauf spezialisiert, totes organisches Material von Pflanzen und Tieren zu zersetzen, und tragen so maßgeblich zum Nährstoffkreislauf, Kohlenstoffkreislauf und zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts des Ökosystems bei. Eine große Zahl von Arten spielt darüber hinaus als Symbiosepartner von Bäumen, Sträuchern und Pflanzen (Mykorrhizasymbiose) eine überaus wichtige Rolle im Ökosystem.

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So sieht ein Pilzmyzel (Fusarium) in der Betrachtung unter dem Mikroskop aus.

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Das menschliche Nervengewebe sieht dem Pilzmyzel unter dem Mikroskop erstaunlich ähnlich.

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Dargestellt ist hier der Lebenszyklus der Ständerpilze (Basidiomycota) am Beispiel des Pantherpilzes (Amanita pantherina).

Wir kennen nur einen Bruchteil der Pilzarten, die oft ein Leben im Verborgenen führen, denn der überwiegende Anteil der Millionen Pilzarten besteht aus mikroskopisch kleinen Lebewesen. Wenn wir an Pilze denken, meinen wir in der Regel die gleichermaßen faszinierenden wie zerbrechlichen und vergänglichen Gebilde mit Hut und Stiel, die bei feuchter Witterung genauso plötzlich erscheinen, wie sie wieder verschwinden, oder die in Plastik verpackt im Supermarktregal liegen. Tatsächlich sind das nur die Geschlechtsorgane des eigentlichen Pilzorganismus, die Fruchtkörper, die nur zu einem Zweck erscheinen: Vermehrung und Eroberung neuer Lebensräume. Diese Fruchtkörper beherbergen Unmengen von mikroskopisch kleinen Sporen, sozusagen »Pilzsamen«, die abgeworfen und dem Wind übergeben werden. Der eigentliche Pilzorganismus lebt als Myzel, ein dünnes, fädiges Zellgeflecht, versteckt in der Erde oder in verrottendem Holz. Dieses Geflecht hat erstaunliche Ähnlichkeit mit der Struktur eines Gehirns. Die einzelnen Fäden des Myzels, genannt Hyphen, verhalten sich analog zu Nervenzellen in der Art und Weise, wie sie Verknüpfungen bilden und untereinander kommunizieren.

Der bekannte Mykologe Paul Stamets bezeichnet das Myzel als »das Wood Wide Web« oder auch als »natürliches Internet der Erde«. In der Tat wurde gezeigt, dass Bäume mithilfe des Pilzgeflechts miteinander kommunizieren,7 und mittlerweile ist es Bioinformatikern sogar gelungen, binäre Daten mittels Pilzmyzel zu übertragen. Zudem nutzen Bäume das Myzel zum Austausch von Nährstoffen.8 Pilze spielen im sogenannten Soil Food Web, den verwobenen Nährstoffkreisläufen des Bodens, eine wichtige Rolle als Primärzersetzer. Sie verdauen organische Substanz wie totes Holz, abgestorbene Pflanzenteile, Tierexkremente oder Laub, sodass die enthaltenen Nährstoffe wieder für den Wald verfügbar werden. Sogenannte Mykorrhizapilze, das sind in enger Symbiose mit Pflanzen lebende Arten, deren Myzelgeflecht eng mit dem Wurzelgeflecht ihrer Wirtspflanze verbunden ist, betreiben einen regen Nahrungshandel mit ihren Wirten. Die Wirtspflanze beziehungsweise der Wirtsbaum liefert Zuckerverbindungen im Tausch für Mineral- und andere Vitalstoffe.

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Diese beiden Übersichten essbarer (links) und giftiger (rechts) Pilze stammen aus Meyers Konversations-Lexikon von 1896, dem damals bedeutendsten Nachschlagewerk zu allgemeinem Wissen wegen seiner prächtigen Farbabbildungen und seiner Ästhetik.

Welche Pilze in diesem Buch thematisiert werden

Pilze bilden ein eigenes Reich mit weitverzweigter Systematik. Diese vollständig zu behandeln, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Wir beschränken uns hier auf Großpilze, deren Fruchtkörper mit bloßem Auge gut sichtbar sind. Wichtig in diesem Zusammenhang ist in Anlehnung an spezielle Strukturen, an denen die Sporen gebildet werden, die Unterscheidung in »Ständerpilze« (Basidiomycota) und »Schlauchpilze« (Ascomycota). Ständerpilze bilden ihre Sporen, meist vier an der Zahl, an mikroskopisch kleinen, keulenartigen Strukturen, die als Ständer beziehungsweise Basidien bezeichnet werden. Die Sporen der Schlauchpilze, meist acht an der Zahl, werden in winzigen Schläuchen (Asci) gebildet. Typische Ständerpilze sind Röhrenpilze und Lamellenpilze, Vertreter der Schlauchpilze sind zum Beispiel Trüffel, Morcheln und bei den Heilpilzen der Tibetische Raupenpilz (Cordyceps).

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Was macht einen Pilz zum Heilpilz?

Eine ganze Reihe von Pilzen fällt in die Kategorie »Nahrungsmittel mit ausgewogenem Nährwert«. Andere haben medizinische Eigenschaften als Nahrungsergänzungsmittel beziehungsweise Heilmittel, taugen aber beispielsweise wegen ihrer holzartigen Konsistenz oder ihres extrem bitteren Geschmacks nicht primär als Nahrungsmittel. Dazu zählen in erster Linie langlebige Baumpilze wie Reishi, Chaga oder Birkenporling, die Sie in Kapitel 5 (ab Seite 99) noch kennenlernen werden. Andere wiederum vereinen beide Qualitäten. Maitake, Shiitake, Mandelpilz (ABM), Igelstachelbart (Hericium) und Samtfußrübling (Enoki) sind zum Beispiel hervorragende Speisepilze mit potenten medizinischen Wirkungen. Auch diese Pilze lernen Sie in Kapitel 5 näher kennen.

Dann gibt es noch die Gruppe der Giftpilze, die durchaus auch medizinische Eigenschaften haben, die sich aber aus selbsterklärenden Gründen nicht zur Einnahme eignen. Die in ihnen enthaltenen Substanzen werden daher isoliert und zur Entwicklung neuer pharmazeutischer Medikamente verwendet. So wird etwa die für viele tödliche Pilzvergiftungen verantwortliche Substanz Alpha-Amanitin (fachsprachlich α-Amanitin) aus dem Knollenblätterpilz derzeit für die Krebstherapie untersucht. Sie hemmt äußerst wirksam die DNA-Transkription der Zellen und blockiert damit Stoffwechsel und Vermehrung des Krebses. Da die starke Giftwirkung aber nicht nur Krebszellen, sondern auch alle anderen Zellen im Körper stark schädigt, haben findige Forscher die Substanz an ein Trägermolekül gebunden, das spezifisch an Krebszellen andockt und nur dort die tödliche Wirkung des Giftes entfaltet.9

Der fließende Übergang zwischen »essbar«, »essbar mit medizinischen Eigenschaften«, »nicht essbar, aber mit medizinischen Eigenschaften« und sogar »tödlich giftig, aber mit medizinischen Eigenschaften« macht es schwierig, anhand ihrer Merkmale zu definieren, was einen Pilz zum Heilpilz macht. Daher bezeichnen die Begriffe »Heilpilze«, »Medizinalpilze« und »Vitalpilze« nach gängigem Verständnis die Pilze, denen in der traditionellen Volksmedizin eine positive Wirkung auf die Gesundheit zugesprochen wird. Das sind in erster Linie solche, die bereits seit langer Zeit zu Heilzwecken in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) und der Volksheilkunde Japans, Skandinaviens und Russlands verwendet werden, aber auch ein paar »Exoten«.

Von Pilzen und Menschen -Spuren aus der Urgeschichte

Ob als Nahrung, Medizin oder zu religiösen und spirituellen Zwecken - Pilze wurden seit jeher auf jede nur erdenkliche Art von Menschen genutzt und wertgeschätzt, ja sogar verehrt und vergöttert, wie sich an unzähligen historischen Artefakten erkennen lässt. Den ältesten Beweis für die Nutzung von Pilzen als Nahrungsmittel fand man bei einer Ausgrabung in Spanien, wo ein annähernd 19 000 Jahre altes Skelett einer Frau entdeckt und schließlich als »Lady in Red« bekannt wurde.10 Auf ihren Zähnen konnte man Reste einer Pilzmahlzeit nachweisen. Es ist davon auszugehen, dass Pilze schon lange vorher von Menschen konsumiert wurden,11 wenn man allein die Tatsache betrachtet, dass 22 Pilze fressende Affenarten, die evolutionär gesehen viel älter sind als wir, bekannt sind.12 Darunter sind übrigens auch unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen. Dass sich Pilze in prähistorischen Fundstätten nicht häufiger nachweisen lassen, liegt an der raschen Vergänglichkeit ihrer Fruchtkörper.

Pilze sind sehr wahrscheinlich viel enger mit unserer eigenen Historie verknüpft als bisher angenommen. In der frühen Steinzeit wurde etwa die Glut des Lagerfeuers einer umherziehenden Sippe im Inneren eines getrockneten Zunderschwamms transportiert.13 Ohne die Mitnahme des wärmenden Feuers mithilfe von Pilzen wäre das Vordringen in kalte Gebiete nicht möglich gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren unsere Vorfahren zu der Zeit, als ausgehend von Afrika der Rest der Welt besiedelt wurde, noch nicht in der Lage, Feuer selbst zu entfachen.14 Sie waren deshalb dringend darauf angewiesen, ein durch einen Blitz oder einen Tautropfen spontan entfachtes Feuer dauerhaft am Leben zu erhalten.

Sehr wahrscheinlich machten unsere Vorfahren auch relativ früh mit Giftpilzen Bekanntschaft, aber vor allem entdeckten sie dabei wohl auch die bewusstseinsverändernden Qualitäten mancher halluzinogenen Pilzarten. Es sind etliche Höhlenmalereien bekannt, die als Indiz für einen Pilzkult dienen können. So etwa der »bienengesichtige Pilzschamane von Tassili n’Ajjer« der, neben anderen eindeutig pilzinspirierten Figuren, in einer Höhle am Rande der Sahara in Algerien entdeckt wurde und auf 9000 bis 7000 vor Christus datiert wird.15 Er stellt lebhaft eine Verbindung zwischen den vermutlich rituell verwendeten Pilzen und dem Bienenhonig her, in dem halluzinogene Pilze teils heute noch traditionell konserviert werden. Einige Stimmen sind der Meinung, dass es diese Pilze waren, die die Evolution des modernen Menschen maßgeblich beschleunigt haben. Vor etwa 200 000 Jahren kam es unter evolutionären Gesichtspunkten zu einer sehr plötzlichen Verdopplung oder gar Verdreifachung des Gehirnvolumens des Homo sapiens, eine Tatsache, die Wissenschaftler bis heute nicht überzeugend erklären können. Vertreter der als »Stoned Ape Hypothesis« bekannten Theorie,16 zu denen auch der renommierte Mykologe Paul Stamets gehört, sind der Ansicht, dass der rituelle Konsum halluzinogener Pilze dafür verantwortlich ist. Ihr Wirkstoff Psilocybin verändert das Bewusstsein und beeinflusst unter anderem die Gehirnleistung und damit das Lernvermögen positiv, indem er die Neubildung und Neuverknüpfung von Nerven- und Gehirnzellen fördert.17

Pilze in der Volksmedizin

Den ersten wissenschaftlichen Beweis für die Nutzung von Pilzen als Medizin fand man bei Ötzi, der inzwischen weltberühmten, etwa 5300 Jahre alten Gletschermumie aus Tirol, die 1991 entdeckt wurde. Wenig beachtet wurde die Tatsache, dass er Heilpilze bei sich trug. Man fand bei ihm zwei Exemplare des Birkenporlings (Piptoporus betulinus) und auch ein Stück Zunderschwamm (Fomes fomentarius), die beide antimikrobiell wirken. Untersuchungen ergaben übrigens auch, dass Ötzi die bakteriellen Erreger der Borreliose, eine durch Zecken übertragene Krankheit der Haut, des Nervensystems und der Gelenke, in sich trug.18

Die ersten schriftlichen Dokumentationen des weit in die Menschheitsgeschichte zurückreichenden therapeutischen Pilzgebrauchs finden sich in der legendären Materia Medica des wohl berühmtesten Arztes und Pharmakologen der griechischen Antike, Dioskurides, verfasst im Jahr 55 nach Christus.

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Ötzi, die weltbekannte Gletschermumie aus Südtirol, trug Heilpilze bei sich.

Pilze in der traditionellen chinesischen Medizin

Pilze werden als Kernbestandteil der TCM seit mindestens 2000 Jahren zu gesundheitlichen Zwecken verwendet, wahrscheinlich jedoch schon seit deutlich längerer Zeit. Weit umfassender als in der Materia Medica von Dioskurides werden eine Vielzahl Heilpilze und deren Wirkungen in dem ersten Standardwerk der traditionellen chinesischen Medizin, dem Shennong ben cao jing, beschrieben. Das älteste chinesische Buch über Heilmittel beschreibt bereits die medizinischen Wirkungen mehrerer Pilzarten, darunter Reishi (Ganoderma lucidum) und Silberohr (Tremella fuciformis), die in Kapitel 5 (ab Seite 138 und 207) ausführlich beschrieben werden, oder der Fu Ling (Poria cocos) und andere. Es heißt, dass dieses Werk von dem mythischen Urkaiser Chinas, Shennong, der 2800 vor Christus gelebt haben soll, geschrieben wurde. Forscher vermuten aber eher, dass es um die Jahre 300 vor Christus bis 200 nach Christus verfasst wurde. Die dort aufgeführten Pilze werden hier der höchsten Klasse der Heilkräuter zugeordnet, über die geschrieben steht, dass ein dauerhafter Gebrauch keine Nebenwirkungen habe, »den Körper erleichtert und Langlebigkeit vermittelt«19. Im Jahr 1578 zur Zeit der Ming-Dynastie veröffentlichte der chinesische Arzt und Universalgelehrte Li Shi-Zhen dann ein umfassendes Kompendium der Materia Medica, das berühmte Bencao Gang Mu oder auch Pen Ts’ao Kang Mu.20 Das 2010 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärte Werk listet bereits die medizinischen Eigenschaften von mehr als 20 Pilzspezies auf, die allesamt heute noch Verwendung finden und deren beschriebene Eigenschaften größtenteils im Lauf der letzten Jahrzehnte wissenschaftlich belegt wurden.

Pilze in der modernen Mykotherapie

Der Begriff »Mykotherapie« wurde von dem deutsch-ungarischen Mykologen Jan Lelley in den späten 1990er-Jahren geprägt. Die Mykotherapie beruht auf dem über Jahrtausende gesammelten Heilwissen der traditionellen Volksmedizin, ergänzt durch die Ergebnisse moderner Wissenschaft, die in sehr vielen Fällen die Erkenntnisse aus der traditionellen Volksmedizin bestätigen, verfeinern und erweitern konnte. Im Gegensatz zum eher allopathisch basierten Ansatz der westlichen Medizin, die darauf abzielt, eine Krankheit und ihre Symptome mit einem Arzneimittel, das eine der Krankheit entgegengesetzte Wirkung besitzt, zu bekämpfen, geht es bei der Mykotherapie darum, den Zustand der Gesundheit wiederzuerlangen, indem sämtliche im Organismus vorhandenen Gleichgewichte wiederhergestellt werden. Dazu zählen Hormonhaushalt, Immunzellengleichgewicht, Mineral- und Spurenelementhaushalt sowie Vitamin-, Enzym-, Wasser- und Elektrolythaushalt und weitere Regelkreise im Stoffwechsel. Sind alle Systeme im Körper im Gleichgewicht, ist die bereits genannte Homöostase (Kasten Seite 17) hergestellt.

»Pilze sind miniaturisierte pharmazeutische Fabriken, und von den Tausenden von Pilzarten in der Natur haben unsere Vorfahren und die modernen Wissenschaftler mehrere Dutzend identifiziert, die eine einzigartige Kombination von Talenten haben, welche zur Verbesserung unserer Gesundheit beitragen.«

Paul Stamets, weltbekannter Mykologe und Buchautor