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Stefan Gröner
Stephanie Heinecke

KOLLEGE

KI

Stefan Gröner
Stephanie Heinecke

KOLLEGE

KI

Künstliche Intelligenz

verstehen und sinnvoll im Unternehmen einsetzen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

info@redline-verlag.de

1. Auflage 2019

© 2019 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Britta Fietzke, Frankfurt

Umschlaggestaltung: Marc Fischer, München

Umschlagabbildung: shutterstock.com/GrAl

Satz: Die Buchmacher, Köln

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86881-749-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-113-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-114-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

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Inhalt

Vorwort:
Das Zeitalter der »Künstlichen Intelligenz« – wer jetzt nicht handelt, hat das Nachsehen!

1. Die großen Versäumnisse der Medienindustrie und anderer Branchen auf dem Weg zum Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

Der unersetzliche Wert von Zeitschriften?!

Die Musik spielt woanders

Das letzte Lagerfeuer – abgebrannt?

2. Die Vorboten der Künstlichen Intelligenz: Voraussetzungen für das Zeitalter der KI

Win-win-Situation: Plattformökonomie

Kaufst du noch oder teilst du schon? − Sharing Economy

Follow, Like, Love? − Social Media

Nicht ohne mein Smartphone: Mobile

Warum digitale Technik jetzt schlau wird: Big Data

Wie wir die Daten in den Griff bekommen: Cloud Computing und Rechenleistung

Fühlst du es auch? − Sensortechnik

3. Die Vorreiter im Zeitalter der KI

Amazon: Der Everything-Store

Alphabet: Von der Suchmaschine zu den Moonshots

Lessons Learned: Was Amazon und Alphabet verstanden haben

East goes West: Alibabas Weg in die Schatzkammer

Don’t stop me now: Was könnte Alphabet, Amazon und Alibaba aufhalten?

Spitzenreiter und rote Laterne: Welches Land gewinnt das KI-Rennen?

4. KI first! − Warum die Implementierung von Künstlicher Intelligenz der nächste logische Schritt ist

Tante Emma goes digital: Was KI über uns weiß

Schach, Go und Jeopardy! − Alles nur ein Spiel?

Buzzword Bingo: KI, Maschinelles Lernen, Deep Learning

Mit KI im Kindergarten: Wie lernen Algorithmen?

Hands on: Vom Problem zur KI-Lösung

Nur für statistisch interessierte Leser: Die wichtigsten Lernverfahren beim überwachten maschinellen Lernen

Was geht? − KI im kommerziellen Einsatz

5. Flashback: Warum die Medienindustrie in der Digitalisierung wirklich gescheitert ist

6. Die Zukunft beginnt jetzt – Der Künstlichen Intelligenz erfolgreich begegnen mit dem COSIMA-Prinzip

Convenient

Simple

Marktsicht

Kernanforderungen für die erfolgreiche Umsetzung des COSIMA-Prinzips in Zeiten von KI

7. Stolpersteine bei der digitalen Transformation

8. Führung in Zeiten des digitalen Wandels

9. Die Welt von morgen vorausdenken

Der Blick in die Glaskugel: What´s next?

Arbeitsmarkt und Gesellschaft: Work and Play

Das Zusammenspiel von Mensch und Maschine im Privatleben: Ex Machina?

Nachwort

Über die Autoren

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

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Vorwort:
Das Zeitalter der »Künstlichen Intelligenz« – wer jetzt nicht handelt, hat das Nachsehen!

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»Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.«

Albert Einstein

Die Digitalisierung ist in vollem Gange − sich dem Wandel nicht zu stellen, ist keine Lösung. Dadurch werden die Probleme aber nicht kleiner. Denn die Bewältigung der schnellen technologischen Veränderungen erfordert völlig neue Denkweisen. Warum? Aufgrund der neuen digitalen Möglichkeiten verändern sich die Bedürfnisse von nachwachsenden Zielgruppen dramatisch und erfordern ein vollständiges Umdenken in Bezug auf die Geschäftsfelder und deren Bearbeitung. Teilweise löst die Diskussion über den digitalen Wandel aber nur ein genervtes Augenrollen aus. Denn es gibt jetzt zusätzlich ein neues Buzzword: die Künstliche Intelligenz (KI). Ja, alles wird anders. Das sagen die angeblichen Experten schon seit Jahren. Aber was ist wirklich passiert?

Die Antwort darauf hängt ganz von der Perspektive ab. Während die digitale Disruption einige Branchen bereits schmerzhaft und umfassend getroffen hat, steht der große Umbruch in anderen Industrien erst noch bevor. Er wird nicht weniger tiefgreifend und heftig sein, denn die technologische Entwicklung der vergangenen Jahre bringt nochmals neue Optionen mit sich. Damit gehen Ängste einher: Welche Rolle spielt der Mensch in der Arbeitswelt der Zukunft? Was müssen wir eigentlich können, um gegen smarte Anwendungen oder Maschinen bestehen zu können? Oder ist es am Ende gar kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander? Fakt ist: Die Vorreiterkonzerne technologischer Entwicklungen − allen voran die Internetgiganten aus den USA und China − bauen ihre Geschäftsfelder zu ganzheitlichen Ökosystemen aus. Ein Produkt baut logisch auf dem anderen auf, die Unternehmen werden immer unabhängiger von externen Partnern. Im Fokus der Bemühungen steht dabei seit einiger Zeit die Künstliche Intelligenz, die KI. Mit ihrer Hilfe lassen sich verschiedene Geschäftsbereiche zu einer komplett vernetzten und sich gegenseitig bestärkenden Umgebung bündeln. Für andere Unternehmen bedeutet dies: Wer hier nicht selbst Kompetenz aufbaut, wird über kurz oder lang keine Rolle mehr spielen.

Wie allumfassend dieser Wandel sein wird, ist für den einzelnen Menschen schwer nachvollziehbar. Hat es nicht bisher immer irgendwelche Nischen gegeben? Erlebt nicht die Schallplatte gerade eine große Renaissance? Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass Vinyl noch einmal auferstehen wird? Es muss doch nicht immer alles digital sein! Keiner kennt die eigene Branche und die Kundenbedürfnisse schließlich so gut wie die dort seit vielen Jahren ansässigen Unternehmen. Wirklich? Die Argumente sind bekannt, jedoch: Die klassischen Unternehmen aus den meisten Branchen haben im Zuge der Digitalisierung hohes Lehrgeld zahlen müssen, weil sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben.

Ein Beispiel dafür ist die Medienindustrie. Erinnern wir uns an die Wochenendausgaben der Zeitungen mit ihren zentimeterdicken Immobilien-, Stellen- und Kleinanzeigen. Wo suchen Sie Angebote dieser Art heute? Im Internet natürlich. Und zwar in den meisten Fällen nicht auf den Webseiten der Zeitungen, sondern in einschlägigen Portalen, die nur selten an einen Verlag angebunden sind. Die Scout24-Gruppe, welche verschiedene dieser Plattformen bündelt, gehörte ab 2004 für fast zehn Jahre zur Deutschen Telekom. Ein branchenfremdes Telekommunikationsunternehmen verdiente also Geld mit einer ehemals zentralen Säule im Geschäftsmodell der Verlage: Seit der Jahrtausendwende sind enorme Umsätze aus dem Mediensystem abgewandert. Das tat nicht nur weh, sondern hatte im Laufe der Jahre umfangreiche Umwälzungen zur Folge, nicht zuletzt auf Kosten der Beschäftigten. Die Medienindustrie stand unter Zugzwang: Christoph Keese beschreibt in seinem Buch Silicon Germany, wie der Springer-Verlag 2008 das Onlineunternehmen StepStone kaufte. Strategisch wurde das damals noch integrierte Softwaregeschäft wieder abgestoßen, das Stellenportal systematisch ausgebaut. Mit Erfolg. So gelang es Springer, alte Konkurrenten aus der Zeitungswelt auf dem neuen Onlinemarkt für Stellenanzeigen auszustechen und sich als einer der Marktführer zu etablieren. Aber: Warum ist StepStone heute eigentlich nicht genauso groß wie LinkedIn? Der erste Schritt war vollkommen richtig, warum aber ist man den Weg nicht konsequent weiter in Richtung Social Media gegangen? Blickt man auf den gesamten Markt, gelang es nur wenigen der alten Player, ihre Marktposition zu halten oder gar auszubauen.

Die Frage ist, ob es möglich gewesen wäre, die Entwicklung vorauszuahnen. Das Internet war zu dem Zeitpunkt schließlich schon da, irgendwie. Im Nachhinein lässt sich das natürlich leicht sagen; Fakt ist: Die Verlage haben die technologische Entwicklung weitgehend unterschätzt. Fakt ist aber ebenso: Mit einer lehrbuchgemäßen, klassischen Wettbewerbsbeobachtung innerhalb der Branche wären sie auch nicht weit gekommen. Die neuen Konkurrenten kamen von außen und haben die Medien an einem Punkt angegriffen, an dem sie sich ihrer einzigartigen Position sicher glaubten. Die Gründe für diesen Denkfehler sind durchaus nachvollziehbar: Wenn man nicht weiß, wo die Reise hingeht und keine Fehlentscheidung treffen möchte, scheint das Vertrauen auf die eigene Kernkompetenz logisch. Die digitale Disruption fordert jedoch von uns ein verändertes Denken, einen weiteren Blickwinkel, ein anderes Vorgehen als bisher. Nur so kann es gelingen, die Marktentwicklung nicht nur nachzuvollziehen, sondern proaktiv zu antizipieren und somit die eigene Position zu sichern.

Nun also Künstliche Intelligenz. Sie ist schon da und wird unsere Arbeitswelt in den kommenden Jahren nachhaltig verändern, sie wird außerdem die Rolle des Menschen auf den Prüfstand stellen. Kollege KI hat wenig mit Science-Fiction-Anmutungen zu tun, die wir gerne mit diesem Thema verbinden – es wird hier weniger um den Terminator, die Matrix oder R2D2 gehen (wobei wir auch diese Themen im Verlauf aufgreifen, keine Sorge!). KI finden wir bereits an vielen Stellen, ohne dass wir es als Nutzer bemerken: Als Spamfilter in unserem E-Mail-Postfach, bei der Gesichtserkennung als biometrisches Verfahren zur Authentifizierung, als Bildoptimierung im iPhone X oder in Form von Amazons Sprachassistent Alexa. Körperlichkeit im Sinne eines Roboters ist für einige Einsatzszenarien wie etwa als elektronischer Kundenberater in einem Geschäft überaus sinnvoll. In anderen Fällen jedoch kommt es nur auf die intelligente Leistung an, etwa bei der Analyse von Röntgenbildern. Ein Körper wird hier nicht erwartet und ist somit nicht notwendig.

Für Unternehmen ist das Verständnis dafür entscheidend, welche Möglichkeiten diverse Formen von KI in ihrer Branche bieten und welche neuen Anforderungen sich daraus ergeben. Zum einen an das strategische Denken, zum anderen an die Unternehmenskultur.

Dieses Buch will ein Wegweiser sein; eine Schulung des Denkens, um die komplexen Veränderungen der digitalen Welt nicht nur nachvollziehen, sondern auch mitgestalten zu können. Denn eines ist klar: Wer sich jetzt nicht mit den Gesetzen, Chancen und Einsatzmöglichkeiten von KI beschäftigt, gefährdet seine Existenz am Markt und wird sich schwertun, das Versäumte wieder aufzuholen. »AI is the new electricity«1, so KI-Vordenker Andrew Ng, Mitgründer von Google Brain und ehemaliger Forschungschef der chinesischen Suchmaschine Baidu. Er verweist damit auf die zweite industrielle Revolution, die die Massenproduktion ermöglichte, welche wiederum einen enormen Wandel für das Leben der Menschen und weitreichende Folgen für viele Branchen mit sich brachte: Der Telegraf revolutionierte das Nachrichtenwesen, Straßenbahnen lösten die Pferdekutschen im öffentlichen Personenverkehr ab. Kühlmöglichkeiten verlängerten die Haltbarkeit von landwirtschaftlichen Produkten wie Milch oder Fleisch. Könnten wir uns ein Leben ohne Elektrizität vorstellen? Selbst wenn wir Outdoor-Urlaub im Zelt machen, greifen wir auf gespeicherte Energie in Form von Taschenlampenbatterien zurück. Oder halt! Vielleicht tun wir selbst dies nicht mehr. Auch die Taschenlampe ist weitgehend ein Opfer der digitalen Disruption geworden. Wozu noch eine physische Taschenlampe, wenn das allseits präsente Smartphone diese Funktion ebenfalls abdeckt?

Welche Vorteile uns nun die KI genau bringen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht in Gänze absehbar. Wohl aber, dass es entscheidend ist, sich frühzeitig nicht nur vage, sondern konkret und strategisch mit dem Thema auseinanderzusetzen. Vermutlich wird das Leben unserer Nachkommen nicht mehr ohne die Unterstützung intelligenter Systeme denkbar sein – vorausgesetzt natürlich, die Horrorszenarien aus Science-Fiction-Filmen bewahrheiten sich nicht und die KI rottet die Menschheit nicht aus. Kleiner Spoiler: Sie können beruhigt weiterlesen. Aus heutiger Perspektive werden wir Menschen noch eine Weile unsere Daseinsberechtigung haben.

Doch zurück zu unserem Eingangsbeispiel: Das Scheitern der Medienindustrie im Zuge der Digitalisierung stellt ein Worst-Case-Szenario für den Umgang mit Disruption dar. Die Denkfehler von damals dürfen sich heute an der Schwelle zum Zeitalter der Künstlichen Intelligenz in keiner Weise wiederholen. Warum haben wir ausgerechnet die Medienbranche gewählt? Aus mehreren Gründen: Erstens waren die Medien eine der ersten Industrien, die von der Digitalisierung und dem Angriff branchenfremder Unternehmen getroffen wurden; zweitens nutzt quasi jeder Mensch Medienprodukte, kann also mitreden, sich in strategische Überlegungen der Entscheider hineinversetzen und ihre Versäumnisse nachvollziehen; drittens lassen sich die großen Gesetzmäßigkeiten der Fehleinschätzungen der Entscheider in den Medien auf nahezu jede Branche übertragen. Am Beispiel der Print-, Musik- und TV-Industrie werden wir aufzeigen, wo die Fallen der Disruption lauern: Die Verantwortlichen waren überzeugt, das Richtige zu tun. Nach bestem Wissen und Gewissen versuchten sie, die Herausforderungen des Marktes mit ihrer Branchenexpertise zu meistern – und sind oftmals gescheitert. Der schnelle digitale Wandel benötigt ein völlig anderes Mindset als bisher, ein Denken über den Tellerrand hinaus. Ein ähnliches Scheitern wie in den ersten Phasen der Digitalisierung wird der Einzug von Künstlicher Intelligenz nicht verzeihen, denn dann kann es sein, dass der Zug mit allen Kunden der Zukunft uneinholbar abgefahren ist.

Im zweiten Kapitel werden wir uns mit den Voraussetzungen für das Zeitalter von KI in den ersten Phasen der Digitalisierung befassen: Plattformen und Sharing, Social Media, Cloud Computing und der immer stärkere, allumfassende Einsatz von mobilen, internetfähigen Endgeräten. Eine zentrale Rolle spielt dabei Big Data, also die Generierung und Auswertung von enormen Datenmengen. Sie fallen aus sämtlichen digitalen Anwendungen und den immer präsenteren sowie allzeit empfangsbereiten Sensoren an. Sie können jedoch nur mittels entsprechender Rechenleistung und IT-Infrastruktur bewältigt werden.

Künstliche Intelligenz ist nicht per se neu, bereits seit Jahrzehnten wird zu der Thematik geforscht und sie weiterentwickelt. Aber erst heute ist der technologische Nährboden gegeben, damit die Anwendungen sinnvoll und flächendeckend zum Einsatz gebracht werden können. Damit verbunden ist eine gewisse Handlungsdringlichkeit, denn die Megatrends der Digitalisierung sind längst noch nicht in allen Unternehmen angekommen. Der Aufholbedarf an Wissen um die Grundlagen und Einsatzmöglichkeiten muss schnellstmöglich gedeckt werden, um fit für die Zukunft zu sein. KI ist künftig der Schlüssel, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Das haben die großen Tech-Unternehmen und Vorreiter der Szene längst verstanden und sich entsprechend strategisch aufgestellt. Daher wollen auch wir einen Blick auf Unternehmen wie Amazon oder Google werfen: Wie konnten sie so groß werden, wo sie doch alle in einer Nische angefangen haben? Liegt es nur an ihren Produkten? So viel vorweg: nein. Erneut geht es um eine disruptive Herangehensweise, aus der sich zentrale Learnings für andere Branchen ableiten lassen. Wir müssen verstehen, wie diese Unternehmen denken, welche Pläne sie haben und was das für ihr Wettbewerbsumfeld bedeutet – ganz bewusst nicht nur in der eigenen Branche. Durch ihr ganz besonderes Mindset und die Tatsache, dass KI einen zentralen Stellenwert in ihrer strategischen Ausrichtung einnimmt, ist es ihnen möglich, nahezu alle Branchen − früher oder später, direkt oder indirekt − unter Druck setzen zu können.

Es sind aber nicht nur die Konzerne aus dem Silicon Valley, die voranmarschieren. In China schicken sich Unternehmen wie Alibaba, Baidu oder Huawei an, den Weltmarkt zu erobern. KI ist hier viel mehr noch als in der westlichen Welt eine Selbstverständlichkeit, gezielt gefördert von der Regierung. Wobei »gefördert« das falsche Wort ist, denn das behauptet die Bundesregierung in Deutschland von sich auch. Vielmehr: gewollt.

Man kann das alles nun gut finden oder nicht, aufregend oder nervig, innovativ oder moralisch bedenklich. Aufhalten lässt sich die Entwicklung nicht. Auch wenn es Nischen geben kann, in denen KI keine entscheidende Rolle spielen wird, sind diese längst nicht so groß, um allen Zweiflern eine Heimat zu bieten. So kann ein Schreiner oder ein Physiotherapeut sein Kerngeschäft vielleicht in absehbarer Zeit noch ohne KI durchführen; bei der Auftragsannahme, dem Kundenservice oder der Vermarktung ist aber vielleicht gerade in kleineren Nischenmärkten KI bald eine kostengünstigere und kundenfreundlichere Option als das bisherige Vorgehen.

Um ein grundsätzliches Verständnis für KI zu schaffen, werden wir zunächst einmal den großen Kontext herstellen. Was genau ist KI eigentlich, wie hat sie sich entwickelt und welche Teilbereiche gibt es bereits? Ein großes Thema ist hier das maschinelle Lernen und seine verschiedenen Lernarten. Ebenso werden wir uns damit beschäftigen, wie man eine KI-Strategie entwickeln kann, sprich: Was braucht man, um loszulegen? Zentrale Aspekte sind dabei die notwendigen Daten und Algorithmen. Auch hier werden wir auf verständlichem Level einen kurzen Einblick in die grundsätzlichen Lernverfahren geben, die aktuell die meiste Praxisrelevanz besitzen.

Anschließend wenden wir uns verschiedenen Einsatzszenarien aus der Praxis zu. Was kann KI beispielsweise schon im Kundenservice, in der Finanzwelt, in der Gesundheitsbranche, in der Industrie oder in der Landwirtschaft – und wo kommen dann die Roboter ins Spiel, die wir gerne vor Augen haben, wenn wir uns dem Thema bisher eher beim Anschauen von Science-Fiction-Filmen gewidmet haben? Ziel dieser Veranschaulichung ist es, Inspiration und Anstoß für das eigene Tun zu geben, und zu überlegen, welche Funktionen für welche Aufgaben sinnvoll sind und wie wir sie eventuell selbst einsetzen können.

Es gibt also viel zu tun. Die Frage ist nur: wie? Wir liefern Ihnen dafür einen einfachen Wegweiser zur Überprüfung Ihrer Produkte und Dienstleistungen sowie Ihrer Markt- und Zielgruppensicht: das COSIMA-Prinzip.

Mit diesem Denkansatz können Sie pragmatisch und ohne großen personellen und technischen Aufwand überprüfen, ob Sie bereits die Bedürfnisse Ihrer Kunden in den sich wandelnden Märkten optimal befriedigen und ob Ihre Markteinschätzung noch relevant sowie zeitgemäß ist. Kollege KI ist dabei nicht Ihr Feind, sondern ein wertvolles Element Ihrer Strategie. Ausgezeichnet? Dann mal los!

Sie werden Zweifel haben. Sie kennen Ihr Unternehmen. So ein Buch klingt zwar logisch, die tagtägliche Umsetzung aber ist etwas ganz anderes. Sie sehen Ihre Kollegen und Mitarbeiter schon vor sich mit all ihren festgefahrenen Routinen und Bedenken. Klar ist: Veränderung geht immer mit Reibungsverlust einher. Alte Dogmen, Angst vor dem Unbekannten, kurzfristige Zielvorgaben sowie der Faktor Mensch erschweren die Innovation. Doch wenn Sie sich diese Stolpersteine bewusst machen, lassen sich diese bewältigen. Auch hier bekommen Sie wieder praktische Hilfestellungen an die Hand, wie Sie Veränderungen in Ihrem Unternehmen etablieren und wie Sie Ihr Team auf den Weg in die Zukunft mitnehmen können.

Im letzten Kapitel wollen wir schließlich ein paar Überlegungen über die Welt von morgen anstellen. Alles wird anders und KI wird dieser Entwicklung eine neue Dimension geben. Welche Jobs werden von Menschen gemacht und welche von Maschinen? Wer wird abgehängt, wer profitiert? Unsere Gesellschaft wird sich stark wandeln und die Bewertungen darüber werden äußerst unterschiedlich ausfallen. Wie lässt sich ein Auseinanderdriften der Gewinner und Verlierer verhindern – lokal, national, international? Oder sind die Weichen längst gestellt? Was bedeutet dies für Ihre Branche und Ihr Unternehmen? Welche Kompetenzen müssen Sie und Ihre Mitarbeiter von heute, aber vor allem von morgen mitbringen?

All diese Fragen drängen sich uns auf. Die Diskussion um KI wird von vielen Faktoren begleitet, nicht zuletzt von den eigenen Präferenzen, Nutzungsmotivationen und Ängsten. Persönliche Befindlichkeiten kompromittieren aber die Unternehmensstrategie. Man kann sich durchaus traditionellen Werten verbunden fühlen, aber dennoch gleichzeitig mit dem Markt gehen. Wer den Wandel verpasst, überlässt das Geschäft jemand anderem. Treffen Sie für sich die Entscheidung, den Herausforderungen der Digitalisierung nicht nur zu begegnen, sondern sie als Chance zu verstehen.

Begeben Sie sich also mit uns auf die spannende Reise in die Zeit der Künstlichen Intelligenz!

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1.

Die großen Versäumnisse der Medienindustrie und anderer Branchen auf dem Weg zum Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

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Für die meisten Leserinnen und Leser, die wahrscheinlich noch im letzten Jahrtausend geboren wurden: Erinnern Sie sich, warum Sie in Ihrer Jugend die Zeitschrift Bravo gekauft haben? Klar: Dank Dr. Sommer haben Sie dort Dinge erfahren, die Sie Ihre Eltern nicht unbedingt fragen wollten und von denen Ihre Eltern gehofft haben, dass Sie sie niemals fragen werden. Aber Sie wussten dadurch auch, was »in« ist, welche Klamotten man trägt, welche Stars gerade angesagt sind, worüber man eben so spricht in der Clique. Kurz, Sie haben ein vorselektiertes Paket an für Sie damals beinahe überlebenswichtigen Informationen bekommen, mit dem Sie im Haifischbecken des Schulhofs mithalten konnten. Komplettiert wurde das pubertätsrettende Angebot durch die CD-Reihe Bravo Hits. Wer die im Regal stehen hatte, konnte beim ersten zaghaften Date mit dem Schwarm aus der Parallelklasse einigermaßen sicher sein, sich zumindest in Sachen Musikgeschmack nicht vollständig zu blamieren. Kein Wunder, dass die Bravo über Jahrzehnte das wichtigste Leitmedium für Jugendliche war.

Falls Sie jedoch erst um die Jahrtausendwende oder später geboren worden sind, schütteln Sie jetzt möglicherweise irritiert den Kopf. War die Bravo wirklich so wichtig? Denn die Situation heute: Instagram und Co. geben den Takt der Jugend vor. Inspiration und Austausch haben sich in die sozialen Netzwerke verlagert. Wer mit wem zusammen ist, was »in« ist, ebenso wie weitere zentrale Fragen werden online in Echtzeit erörtert. Das Angebot hat sich deutlich individualisiert, man folgt den Marken, Haustieren und Freunden – meistens aber wahrscheinlich nur eher groben Bekannten. Natürlich gibt es auch noch Stars, die mehr oder weniger flächendeckend in der Zielgruppe Akzeptanz finden. Heute sind es aber vor allem auch Influencer, die dank ihrer Social-Media-Kanäle berühmt geworden sind und über die dann wiederum auch die Bravo berichtet. Allerdings: Die Webseite der Zeitschrift hat kaum einen Hauch von Exklusivität, sondern liest sich teils wie ein »How to« für Social Media, die eigenen Kanäle in den sozialen Netzen sind eher blass. Kein Wunder: Der attraktive Content wird nicht mehr in den traditionellen Medienhäusern produziert, sondern von Influencern auf ihren eigenen Kanälen gepostet – und sei es aus dem heimischen Kinderzimmer. Während Musikstars früher im engen Schulterschluss von Produzenten und Medien aufgebaut wurden, um schließlich als mehrteiliger Starschnitt an der Wand der pubertären Zielgruppe zu landen, brauchen die neuen Stars Zeitschriften wie die Bravo nicht mehr, um Bekanntheit aufzubauen. Die klassischen Medien sind oft nur noch Zweitverwerter von Content, der auch ohne das Zutun von Profis per Smartphone generiert werden kann. Die jungen Stars von heute wissen selbst am besten, wie sie ihre Inhalte an die Zielgruppe bringen.

Und in Sachen Musik, wie eben die Bravo Hits? CDs im Regal sind in Zeiten von iTunes und Streamingdiensten eine Seltenheit geworden oder ein Ärgernis (»Eigentlich habe ich ja alles digital, aber soll ich das jetzt wirklich wegwerfen?!«). Auch das Date ist safe: einfach über Spotify und Co. die Playlist des oder der Auserwählten streamen und sich für den ausgezeichneten Musikgeschmack bewundern lassen.

Digitale Kanäle haben den Medienmarkt seit Aufkommen des Internets also fundamental umgekrempelt. Um beim Beispiel zu bleiben: Die Auflage der Bravo ist seit Ende der 1990er Jahre erdrutschartig um fast 90 Prozent gesunken. Daran konnte auch eine Umstellung der Erscheinungsweise vom Wochenrhythmus auf ein 14-tägiges Format im Jahr 2015 nichts ändern. Die Verkaufszahlen der Bravo Hits sind heute weit entfernt von früheren Glanzzeiten, auch wenn im Februar 2018 die 100. Ausgabe gefeiert wurde (die aber möglicherweise eher von nostalgisch veranlagten 40-Jährigen gekauft wurde). Was solche Entwicklungen für ein gewinnorientiertes Unternehmen bedeuten, lässt sich leicht ausmalen.

Es handelt sich hierbei keineswegs um einen Einzelfall. Die Bravo steht an dieser Stelle symbolisch für den Niedergang einer Industrie, die den digitalen Wandel im ersten Schritt falsch eingeschätzt und im zweiten Schritt die falschen Maßnahmen getroffen hat. Deshalb konnten neue Wettbewerber in den angestammten Markt eindringen und mit innovativen Geschäftsmodellen die Kundenbedürfnisse besser befriedigen als die vermeintlichen Marktexperten.

Die Medienindustrie ist bei Weitem nicht die einzige Branche, in der diese Entwicklung stattgefunden hat und künftig stattfinden wird. Sie eignet sich aber als exzellentes Beispiel für die Probleme, die Unternehmen auch in anderen Industrien bei der Bewältigung der digitalen Disruption hatten und haben (werden). Die Herausforderungen durch KI sind nicht dramatisch anders, jedoch werden sich die Märkte und die Bedürfnisse der Kunden noch schneller und umfassender ändern als zuvor. KI ist zwar neu, aber das alte menschliche Denken und die damit oft verbundenen Fehleinschätzungen und -entscheidungen sind nach wie vor so aktuell wie früher. Unternehmen, denen es nicht gelingt, sich schnellstmöglich zukunftsfähig aufzustellen, werden in absehbarer Zeit den Zugang zu ihren Kunden verlieren. Perspektivisch wird es also deutlich schwieriger, einmal Versäumtes nachzuholen.

Was genau ist den Medien also passiert, und welche Schlüsse lassen sich daraus für andere Branchen ziehen, um diese Fehler nicht zu reproduzieren?

Der unersetzliche Wert von Zeitschriften?!

Bleiben wir im Beispiel: In den späten 1990er Jahren war noch nicht klar absehbar, ob sich diese Sache mit dem Internet wirklich durchsetzen würde. Wer zu dieser Zeit Abitur gemacht hat, mag sich an Diskussionen in der Abizeitungsredaktion erinnern: Drucken wir E-Mail-Adressen mit oder nicht? Mal ganz davon zu schweigen, dass nur Nerds tatsächlich einen eigenen Account hatten. Ein Kontaktpunkt für die ganze Familie schien vollkommen ausreichend. Diese Zweifel am neuen Hybridmedium gab es vielerorts. Nach dem D21 Digital Index nutzten noch im Jahr 2001 nur 37 Prozent der Deutschen ab 14 Jahren das Internet zumindest gelegentlich, verglichen mit 84 Prozent im Jahr 2018. Der Zugang gestaltete sich teils zäh, wie sich manch einer leidvoll erinnern mag – bloß nicht aus Versehen online gehen, diese Kosten! Von einer flächendeckenden Versorgung der Haushalte mit breitbandigen Internetanschlüssen ganz zu schweigen. Wir erinnern uns an den wirren Einwahlton, gefolgt von einem aus heutiger Sicht ewigen Seitenaufbau. Und wenn man endlich drin war, beschwerte sich garantiert irgendein Familienmitglied, dass man die Telefonleitung blockierte.

Die Medienindustrie hatte durchaus den Anspruch, am Puls der Zeit zu sein und hat entsprechend auf die neue Technologie reagiert. Der Spiegel war 1994 ein absoluter Pionier und als erstes Nachrichtenmagazin im Netz, damit war er einen Tag schneller als das Time Magazine. Die Inhalte waren selbstverständlich kostenfrei, so wie alles im Netz dieser Tage. Und so ist es auch lange geblieben. Warum? Weil es alle so gemacht haben. Und weil die Verleger am Glaubenssatz festhielten, Printprodukte könnten nicht durch andere Medien ersetzt werden. Sie nahmen an, das Internet könne den USP einer Zeitung oder Zeitschrift keineswegs gefährden. Ihre Argumente:

  1. Der Leser will ein haptisches Erlebnis, also etwas zum Anfassen: Papier! In der Zeitschrift kann man blättern, vor- und zurückspringen, dabei Dinge entdecken, die man sonst nicht erfahren hätte.
  2. Dieses Papier will er überallhin mitnehmen: Mobilität! Das war mit dem Fernseher als Nachrichtenmedium kaum möglich, und lautes Radiohören machte sich gerade auf dem Weg zur Arbeit nicht gut. Papier ist leise, leicht und kann überall verwendet werden.
  3. Es geht ihm um die journalistische Aufbereitung und Kompetenz, gerade bei den Artikeln mit guten Ratschlägen zu Themen wie Partnerschaft, Haushalt oder Styling.

Also hat man den Content aus dem Heft auf die nächste Technologiestufe befördert und online gestellt. Eine Selbstkannibalisierung war mit den obigen Annahmen kaum zu befürchten, das Kernprodukt auf Papier war ja wertvoll und nicht zu ersetzen. Alles klar also, wir haben das mit den digitalen Medien verstanden! Alles richtig gemacht!

Falsch! Alle drei Annahmen wurden eines Besseren belehrt.

»Print wirkt.« − Vielleicht kennen Sie diese Kampagne des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger noch. Lange Jahre setzte die Branche auf plakative Slogans in Fachmagazinen und auf Onlinekanälen, um den Budgetverantwortlichen der werbetreibenden Industrie zu verdeutlichen, dass die Zeitschrift auch im digitalen Zeitalter als Werbeträger überzeugt. An dieser Stelle muss auch auf den bunten Strauß zusätzlicher Werbemittel verwiesen werden: von Einkaufstüten (Aufdruck: »Print macht fette Beutel«, »Print überzeugt mit Inhalten«) über Bierdeckel (»Print lässt doppelt sehen«) bis hin zum Handtuch (»Mehrfachkontakte garantiert«) wurden alle Register gezogen. Erst im Jahr 2015 erfolgte ein Strategiewechsel und damit die leise Ablösung vom Schlüsselbegriff Print. Stattdessen rückte der Begriff Editorial Media in den Fokus und damit die Erkenntnis, dass man vielleicht lieber den professionellen Journalismus auf allen Kanälen als Werbeumfeld anpreisen sollte. Lange Rede, kurzer Sinn: Dieser aus heutiger Sicht viel zu späte Schritt zeigt klar auf, mit welchem Selbstbewusstsein die Verantwortlichen aller Digitalisierung zum Trotz auf ihr angestammtes Format beharrten.

Auch TV-Programmzeitschriften mussten im Zuge der Digitalisierung ordentlich Federn lassen. Für die TV Movie weist die IVW (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern) für Ende November 2018 eine verkaufte Auflage von rund 875.000 Exemplaren aus. 20 Jahre zuvor, Ende November 1998, lag dieser Wert bei rund 2,7 Millionen Exemplaren. Immerhin, die TV Movie existiert noch, ist dabei jedoch weit entfernt von früheren Glanzzeiten. Es ist anzunehmen, dass die Zeitschrift eher wegen der Treue und Gewohnheit einer älteren Zielgruppe noch ihren Weg auf den Couchtisch findet, und nicht wegen ihres einzigartigen Informationsgehalts. Mit den Möglichkeiten der Onlinewelt bastelte selbstverständlich auch die TV Movie eine Webseite. Programmhinweise, rund um die Uhr im Internet verfügbar, in Kombination mit den kompetenten Filmbewertungen der Redaktion schienen das Maß aller Dinge zu sein. Man konnte viel mehr Informationen hinterlegen und war nicht auf die Enge des Zeitschriftenformats sowie die strikt einzuhaltenden Zeilenvorgaben angewiesen. Dann kamen die Smartphones. Erneut hob man das Format auf die nächste Digitalisierungsstufe, eine App musste her, das machen jetzt alle, top. Nutzerfreundlich mit wenigen Klicks sehen, was die Redaktion so empfiehlt. Oder beim Sonntagsspaziergang mit der Gattin unauffällig checken, was abends im TV läuft. Rosamunde Pilcher? Lieber mal proaktiv den Vorschlag machen, doch um 20 Uhr schön essen zu gehen!

Das ist praktisch – aber möchte der Kunde dafür Geld bezahlen? Natürlich nicht. Und wer noch Wert auf die Printversion legte, fand inzwischen billigere Anbieter oder gar kostenlose Postwurfsendungen. Nicht immer waren die Empfehlungen der Redaktion wirklich das Nonplusultra. Wie oft wurde ein Film mit dem roten Movie-Star als sehenswert bezeichnet und entsprach dann überhaupt nicht dem eigenen Geschmack? Wie ist das heute: Wer schaut überhaupt noch lineares Fernsehen? Bei Netflix erübrigt sich die Programmsuche. Der Nutzer bekommt Inhalte passend zu seinen Vorlieben vorgeschlagen und kann diese jederzeit abrufen, ohne sich dem Diktat der Programmplaner von ProSieben und Co. unterwerfen zu müssen. Bequemer geht es kaum.

Auch bei TV Movie griffen die falschen Glaubenssätze. Anstatt das eigene Angebot komplett zu überdenken und auf die tatsächlichen Zielgruppenbedürfnisse abzustimmen, hat man den bestehenden Inhalt wieder nur auf die nächste Digitalisierungsstufe gehoben, in diesem Fall von »online« auf »mobile« Der Glaube an die Zukunft des Fernsehens in der bisherigen Form und den Wert der Programmempfehlungen der eigenen Redaktion machte die Verantwortlichen blind für die dramatischen Veränderungen auf dem Markt.

Dabei hatten die Verlage anfangs eigentlich noch Glück im Unglück. Ihr Produktionsverfahren und die Distribution an sich wurden durch die Digitalisierung zunächst nicht infrage gestellt. Gedruckte Worte auf Papier. Das ist schon seit der Erfindung des Buchdrucks so. Lange Zeit war der Druck durch Disruptoren eher gering, da es keinen illegalen Marktplatz für den Content gab (anders als in der Musikindustrie, wie wir im Folgenden noch sehen werden). Diese Sicherheit jedoch war trügerisch und führte zu einem fatalen Fehler: Es etablierte sich keine Bezahlkultur für journalistische Inhalte im Netz. Onlineartikel waren frei verfügbar und eine nette Ergänzung zur Printausgabe. Diese Doppelstrategie schlug jedoch doppelt hart zurück, als immer mehr Nutzer ihre News zum Beispiel bei Google oder Facebook aggregiert und auf ihre Bedürfnisse abgestimmt abriefen. Textinhalte der Verlagsseiten wurden in das Angebot der großen Plattformen eingegliedert, die Verlage wurden jedoch nicht finanziell beteiligt. Auch wenn in Deutschland 2013 das Leistungsschutzrecht für Presseverleger eingeführt wurde, das eine Veröffentlichung durch den Aggregator ohne Lizenz untersagt, saßen die Verleger in der Zwickmühle: Ließen sie den von Google und Co. geforderten unentgeltlichen Zugriff auf ihren Content zu, blieb alles wie zuvor. Widersprachen sie, wurden sie eben nicht mehr in Google News gelistet. Und das wäre zwar konsequent, jedoch höchst geschäftsschädigend gewesen, da der Großteil des Traffics auf den Verlagsseiten eben über diese Plattformen kam.

Neue Endgeräte machten den Verlegern Hoffnung auf Besserung. Weltbekannt wurde das Zitat von Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, als er 2010 das iPad in höchsten Tönen lobte: »Jeder Verleger der Welt sollte sich einmal am Tag hinsetzen, um zu beten und Steve Jobs dafür zu danken, dass er die Verlagsbranche rettet.«2 Leider war es mit der Rettung dann doch nicht ganz so einfach. Die Strategien zur Problemlösung blieben erneut an dem Punkt stehen, dass man nur eine neue Digitalisierungsstufe hinzugenommen, jedoch nicht das grundsätzliche Denken erweitert hat.

Die Konsequenz dieser Fehleinschätzung: Die Verlage waren zwar online, ihre Inhalte wurden verbreitet – aber draufgezahlt haben sie selbst. Die Kunden hatten sich an die Kostenlos-Mentalität des Netzes gewöhnt, was sich auch in den Zahlen widerspiegelt: Die Zeitungsverlage waren bereits 2003 fast flächendeckend im Netz vertreten, es dauerte jedoch noch mehrere Jahre, bis sich immerhin einige Mutige fanden, die es wagten, auch Geld für den Inhalt zu verlangen. Dabei setzten die Verlage zunächst auf individuelle Lösungen, insbesondere das E-Paper. Dieses war jedoch oftmals kaum günstiger als das Print-Abo. Auch der Download einzelner Artikel war unverhältnismäßig teuer. Außerdem waren hochwertige Bezahlartikel oft mit Zeitverzögerung doch wieder kostenlos verfügbar, um neue Kunden anzuziehen, was wiederum die zahlende Kundschaft vor den Kopf stieß.

Nach den ersten ernüchternden Einzelversuchen beim Thema Paid Content kamen immerhin ein paar Verlage auf die Idee, ihre Inhalte zu bündeln und über eine gemeinsame Plattform kostenpflichtig anzubieten. Diese Versuche krankten aber an der Tatsache, dass eben doch nicht sämtliche Konkurrenten zur Kooperation bereit waren, wie zum Beispiel im Fall Pubbles. Dieses Portal wurde 2010 von der Direct Group und dem Deutschen Pressevertrieb (Verlagsgruppe Bertelsmann) gestartet, allerdings bereits 2013 wieder eingestellt. Denn dort gab es zwar jede Menge elektronischer Bücher und Presseerzeugnisse, aber eben bei Weitem nicht von jedem Verlag. Die Enttäuschung des Kunden war also vorprogrammiert. Der iKiosk von Axel Springer wurde 2011 ebenfalls für einige andere Verlage geöffnet und hatte schon damals ein vergleichsweise umfangreiches Angebot, jedoch: Es gibt nur E-Paper einer gesamten Ausgabe, die von den Inhalten meist nicht über das Printprodukt hinausgehen. Es liegt auf der Hand, dass dies für junge, multimedial sozialisierte Zielgruppen nicht wirklich das Nonplusultra ist. Und nebenbei: Warum eine Zeitschrift komplett kaufen, wenn mich nur ein Artikel interessiert?

Eine Lösung für letzteres Problem schien Blendle zu sein, ursprünglich ein Erfolgsmodell aus Holland und seit 2014 in Deutschland verfügbar. Hier können einzelne Artikel gekauft werden, die Bindung an den gesamten Titel entfällt also und der Nutzer kann seinen Vorlieben entsprechend sein individuelles Medienmenü zusammenstellen − das alles zu moderaten Preisen. Klingt nach einer erstklassigen Strategie. Allerdings sind wieder nicht alle Verlage an Bord. Die Rückgabefunktion (schließt ein Leser innerhalb von zehn Sekunden den Artikel wieder, wird er nicht berechnet), schreckte etwa die Bild-Zeitung ab. Ihre Artikel seien insgesamt nicht auf eine lange Lesedauer ausgelegt.

Ein weiterer und zentraler Knackpunkt: Haben Sie schon einmal auf einer Zeitungs- oder Zeitschriftenseite Werbung für den Bezug über Blendle gesehen? Die meisten Verlage pochen auf ihre eigenen Kanäle. Man kann den Spiegel auf Blendle lesen – aber davon erfährt man auf Spiegel Online nichts, es wird nur das eigene Modell Spiegel+ thematisiert. Darüber hinaus werden bestimmte Premiumartikel gar nicht über Blendle angeboten, sondern nur über die eigenen Kanäle. So zum Beispiel bei der Zeit. Das Argument ist dabei, dass der direkte Kontakt zum Kunden nicht an eine Plattform verloren gehen dürfe, um den Lesern weiterführende Angebote wie z. B. Abos direkt verkaufen zu können. Man kann das aus zwei Perspektiven sehen: Die Bindung zum Kunden ist das eine, aber was, wenn gar keine Kunden mehr kommen?

Die Liste der Portale ließe sich noch fortführen, allen gemein ist jedoch, dass niemand der Sache ganz traut. Lieber erst einmal die eigenen Kanäle stärken, statt die Kunden möglicherweise auf Wettbewerber aufmerksam zu machen. Kann man mit dieser Denkweise eine ganze Branche retten?

Ein weiteres Problem der Verlage war die Tatsache, dass zwar neue Plattformen sowohl online als auch mobil relativ früh etabliert wurden, die Produktion der Inhalte aber oft völlig unabhängig voneinander erfolgte. So gab es meist getrennt geführte Print- und Onlineredaktionen, die sich gegenseitig eher als Konkurrenten sahen, statt Inhalte konsequent miteinander zu einem multimedialen Informations- und Unterhaltungsangebot zu verknüpfen. Dieses starre Silodenken in vielen Verlagen ist modernen disruptiven Unternehmen völlig fremd. So ist es kein Zufall, dass eine der wenigen Erfolgsgeschichten bei der Umwandlung einer Print- zur Digitalmarke von einem Branchenfremden initiiert wurde. Der Amazon-Gründer Jeff Bezos erwarb 2013 die traditionsreiche US-Zeitung Washington Post und baute diese frei von allen branchentypischen Altlasten konsequent zu einer multimedialen Marke aus. Dabei vertraute er komplett auf die inhaltliche Kompetenz der Redaktion, gab aber allen Machern sämtliche modernen technischen Tools an die Hand, die nötig waren, um ein Medienunternehmen der Zukunft aufzubauen: Fokus auf den mobilen Abruf, hoher Grad an KI-Unterstützung für Redaktion und Vertrieb sowie konsequente crossmediale Verknüpfung aller Inhalte.

Die Musik spielt woanders

Auch die Musikindustrie hat leidvolle Erfahrungen mit der Digitalisierung gemacht. In den 150 Jahren bis zur Jahrtausendwende gab es verschiedene Produktinnovationen, vom Grammofon über die Schallplatte und die Kassette bis schließlich zur CD. Im Gegensatz zur Printindustrie war man also Kummer mit neuen Entwicklungen durchaus gewohnt, als die nächste Stufe der Digitalisierung anstand. Trotzdem konnten Branchenfremde angreifen und das klassische Geschäftsfeld zerstören, gerade als man sich in Sicherheit wähnte: Die CD hatte ein praktisches Format mit hoher Tonqualität, die Sammlung ließ sich demonstrativ in der Wohnzimmerschrankwand oder im Kinderzimmer zur Schau stellen. CDs waren Ende der 1990er Jahre äußerst »in« und die Branche befand sich auf dem Gipfel ihres Erfolges. 1997 machte die deutsche Musikindustrie im Bereich CD 2,3 Milliarden Euro Umsatz; zehn Jahre später hatte sich der Wert mit 722 Millionen Euro Umsatz weit mehr als nur halbiert.3 Was war passiert?

Im Jahr 2003 besaßen laut Statistischem Bundesamt bereits 61,4 Prozent aller deutschen Haushalte einen PC. 46 Prozent der Haushalte hatten einen Internetanschluss. Auch wenn man noch nicht genau wusste, wie sich alles entwickeln würde: Es war die Zeit, in der man online viele Dinge ausprobierte und begann, sich zu vernetzen und auszutauschen. Und in der man Möglichkeiten entdeckte, sich das Leben in vielerlei Hinsicht durch digitale Tricks zu erleichtern. Wie eben zum Beispiel diese Sache mit der Musik. Jeder konnte Songs von einer CD als MP3 auf den eigenen Rechner kopieren. Und wenn es jemand anderen gab, der genau diese Musik gerne haben wollte und dafür im Gegenzug Musik im Angebot hatte, die den eigenen Geschmack traf: Deal! Sogar automatisiert. Und kostenlos. Dank Peer-to-Peer (P2P) gruben illegale Tauschbörsen wie Napster der traditionellen Musikindustrie das Wasser ab, massive Umsatzeinbußen inklusive. Warum also noch CDs kaufen? Die MP3 kann man ja wieder selbst auf CD brennen und dem Schwarm aus der Parallelklasse nun statt zusammengestöpselter Kassettenaufnahmen aus dem Radio stolz eine eigens zusammengestellte CD überreichen. Die rechtlichen Aspekte? Nun ja. Sie waren zumindest nicht abschreckend genug.

Um der neuen Technologie des Downloads und dem illegalen File-Sharing zu begegnen, folgte die Musikbranche zunächst einer ähnlichen Strategie wie die Verlage. Die Label schufen Downloadportale, von denen die Nutzer Musik herunterladen konnten, allerdings meist nur die Künstler des jeweils eigenen Katalogs. Gleichzeitig wurde versucht, die Nutzer von Napster und Co. (die meist sogar treue CD-Käufer waren) mit Massenklagen abzuschrecken. Eingehen auf die wirklichen Zielgruppenbedürfnisse: Fehlanzeige.

Kein Wunder, dass auch hier ein Branchenfremder eine bessere Lösung parat hatte als die Verantwortlichen der Musikindustrie. Ein Technologieunternehmen, das sich gerade erst aus einer tiefen Krise berappelt hatte, brachte 2001 ein kleines Abspielgerät für Musikdateien auf den Markt. Schlicht, aber stylisch und intuitiv in der Bedienung: Apples iPod. Noch brummte zwar der illegale Download, in den Folgejahren aber wurde der iPod immer stärker zu einem Kultgerät, die Begehrlichkeit wuchs. 2003 kam mit iTunes der entsprechende Store dazu, in dem man das komplette Angebot der Musikindustrie mit einem einzigen Klick kaufen und herunterladen konnte. Der iPod stand für ein intuitives, hochwertiges Musikerlebnis, das Abspielgerät wurde zu einer Art Statussymbol. Das allein hätte aber noch nicht gereicht. Apple schaffte es, wozu die angezählte Branche aus altem Konkurrenzdenken nicht fähig war: alle Songs von allen Künstlern auf einer zentralen, hoch attraktiven Plattform zu einem Gesamtangebot zu verschmelzen. Als Konsequenz fingen sich die Umsatzverluste in der Musikindustrie wieder. Allerdings floss nun das Geld zum Teil nicht mehr in die eigene Tasche, sondern zu mehr als einem Drittel in die Kassen eines Tech-Konzerns, der vorher nichts mit Musik zu tun hatte.

Nur wenige Jahre später spricht kaum jemand mehr von Downloads. Heute sind Streamingdienste wie Spotify, Apple Music und Co. in aller Munde. Dank der flächendeckenden Verbreitung von Smartphones und mobilen Datendiensten steht auch hier das komplette Musikerlebnis zu jeder Zeit zur Verfügung. Allerdings werden einzelne Songs oder Alben nicht mehr gekauft, sondern nur temporär abgerufen. Statt also seine eigene Musikbibliothek zu füllen, kann der Kunde rund um die Uhr auf alle Songs der Welt zugreifen, ohne an Kosten per Download oder Speicherkapazitäten gebunden zu sein.

Für die Musikindustrie ist das gleichzeitig eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht zuerst: Bei den Kunden besteht nach wie vor Zahlungsbereitschaft. Zwar verdient auch hier eine Plattform mit, jedoch ist durch die größere Zahl an Konkurrenten, unter anderem auch Amazon und Google, die totale Abhängigkeit von Apple gesunken. Und die schlechte Nachricht? Streamingdienste sind nicht unumstritten, der kostenlose Zugang zu Musik widerspricht dem Gefühl der Wertigkeit, das Künstler für ihr Schaffen haben. Insbesondere die US-Sängerin Taylor Swift stand im Fokus der Diskussion. Im Jahr 2014 zog sie ihr gesamtes Werk von Spotify ab. Inzwischen jedoch erscheinen auch ihre Songs wieder auf dem Streamingportal, wenn auch teils mit einer gewissen Zeitverzögerung zum Release. Gerade die finanzielle Beteiligung der Künstler wurde in den vergangenen Jahren stark kritisiert, die Einnahmen gehen zu einem großen Teil an die Labels – welche natürlich auch die meisten Kosten tragen. Dennoch, ein Beigeschmack blieb für die Verfechter des klassischen Geschäftsmodells:

  1. Sind nicht die Künstler die eigentlichen Stars, die entsprechend sorgsam von ihrem Label aufgebaut werden und denen entsprechend die maximale Anerkennung zukommen sollte?
  2. Geht es nicht darum, einen Künstler exklusiv zu fördern und zu promoten?
  3. Will der Fan nicht das Gesamtwerk eines Künstlers besitzen, sei es analog oder digital?