Thyra Maris ist ein Pseudonym der Autorin.

Geboren 1962 im Ruhrgebiet, aufgewachsen zwischen Kohle und Stahl, seit der Ausbildung berufstätig, lebt sie seit zwanzig Jahren mit Mann und zwei Kaninchen am grünen Niederrhein.

Seit ihrem ersten Kontakt mit Buchstaben hat sie die Welt der Bücher nicht mehr losgelassen. Sie liebt es, zu lesen und zu schreiben; zudem interessiert sie sich leidenschaftlich für Geschichte und ist stets auf der Suche nach wenig bekannten historischen Details.

Jedes Zeitalter hatte seine besonderen Herausforderungen, dabei versucht sie nachzuspüren, wie die Menschen wohl damals gedacht und gefühlt haben könnten.

Und nicht zuletzt stellen sich immer solch spannende Fragen wie: Woher kommen wir? Wo stehen wir jetzt? Wohin gehen wir?

Aus dieser Arbeit ist der vorliegende historische Roman „Feuertanz, stirb - damit du leben kannst“ entstanden.

Er besteht aus zwei Teilen; mit Teil 2 ist er abgeschlossen.

Thyra Maris

Feuertanz

Stirb – damit du leben kannst (Teil 1)

Historischer Roman

Inhaltsverzeichnis

Wetterleuchten

Tag des Feuers

Hof Carol

Schloss Burgfels

Die Saat

Hammergericht

Burg der Geheimnisse

Feuer oder Wasser

Der Weiße Turm

Im Hexenkessel

Ein Gottesurteil

Die Flucht

Personenverzeichnis

Historische Persönlichkeiten

 

***

Manchmal muss man sich selbst verraten,
um das Richtige zu tun.

Manchmal muss man in die Irre gehen,
um das wahre Ziel zu finden.

Manchmal begeht man in der Absicht,
Gutes zu tun, die schlimmsten Taten.

Manchmal muss man sterben, um weiterzuleben.

Wie weit muss man gehen, um das Schicksal zu ändern?

***

Wetterleuchten

Tag des Feuers

Seit dem frühen Morgen war Severin vom Pech verfolgt gewesen, aber davon hatte er sich nicht beirren lassen. Was war schon eine zerdepperte Schüssel? Verschüttete Milch? Eine Beule am Kopf? Ein Steinchen im Haferbrei, das ihn beinahe den Zahn gekostet hätte? Oder der Streit mit dem Knecht, weil der wieder mal vergessen hatte, die Stalltür zu schließen und folglich die Hühner Besuch vom Marder bekommen hatten? Immerhin hatte er nur drei verloren. Pah! Irgendwann würde er dem Marder das Fell über die Ohren ziehen, und dann hatte es sich ausgehühnert.

Es war nicht mehr weit bis zur Stadt, über die, weithin sichtbar, das Landgrafenschloss thronte. Fast konnte er schon die höher gelegenen Fachwerkhäuser am Hang zählen. Fröhlich pfiff er ein Liedchen vor sich hin; er freute sich darauf, seinen Bruder wiederzusehen. Eine Feldmaus huschte über seine Füße und verschwand flink im Strauch. Spontan fiel ihm ein, was er neulich in der Vorratskammer vorgefunden hatte – winzige Krümel, dunkler als Brotkrumen. Das konnten nur Mäuse gewesen sein. Diese kleinen Diebe!! Als Erstes würde er auf dem Markt neue Fallen besorgen.

Heut‘ Abend hat euer letztes Stündlein geschlagen, dachte er spöttisch und bekam direkt Lust, ein Jagdlied zu singen, gerade so, wie es die hohen Herren während der Hatz zu tun pflegten. Häsleins Klage1 passte gut. Kurzerhand dichtete er den Text um und schmetterte: „Du arme Maus im weiten Feld, wie grausam werd‘ ich dir nachstell ’n …“

Bis er es roch. Und sah.

Das Unheil.

Abrupt blieb ihm die Strophe im Halse stecken. Und er rannte los … rannte wie noch nie zuvor in seinem Leben, querfeldein, sprang über Pfützen und Äste, hetzte durch Büsche und Brennnesseln.

Nur weiter! Immer weiter!

Der Himmel über Marburg färbte sich blutig-rot.

Er rannte nicht mehr, er flog. Bald konnte er fast überdeutlich jeden Stein in der Stadtmauer erkennen …

Die Wachen am Stadttor ließen ihn anstandslos durch. Er ließ sich von dem Geruch und dem Feuerschein leiten, Ascheflocken und glühende Funken wehten ihm ins Gesicht.

Dann war er endlich am Ziel. Fassungslos betrachtete er das Geschehen. Aus seiner bösen Ahnung war grausame Gewissheit geworden.

Es brannte lichterloh! Ein heftiger Wind trieb den dichten Qualm auseinander und entfachte die Flammen zu einer Feuerwand, die unter ohrenbetäubendem Knattern und Prasseln rasch höher und höher wuchs.

Aus allen Gassen liefen die Menschen herbei; ungeachtet der Gefahr rückten sie mannhaft vor. Mit Eimern und Schaufeln und Spaten. Jeder wusste, was zu tun war, das verrieten ihre entschlossenen Mienen.

Auch Eckart befand sich unter ihnen. Sofort rannte Severin auf ihn zu und bestürmte ihn mit Fragen. „Sind sie am Leben? Sind sie in Sicherheit? Sind sie …?“

Nur ein hilfloses Achselzucken war die furchtbare Antwort.

Severin zauderte nicht länger und reihte sich in die vorderste Reihe der Eimerkette ein, die vom Brunnen bis zum brennenden Haus reichte. Ihm hämmerte das Herz bis zum Halse. Sein Bruder, die Schwägerin, die beiden Kinder – sie waren dort drinnen gefangen!

Unermüdlich schleuderte er Wasser in die fauchenden Flammen. Das Feuer musste niedergerungen werden!

Feuer oder Wasser.

Doch die Ungewissheit bohrte, quälte weiter in ihm, er hielt kurz inne und schrie gegen das Prasseln an: „Haben sie sich am Fenster gezeigt? Habt ihr irgendetwas gesehen?“

„Nein, nichts“, brüllte Eckart zurück. „Nur einen Schrei hat man gehört. Danach hatte es irgendwo unten fürchterlich gekracht!“

„Vielleicht war das die Treppe gewesen? Dann ist der Fluchtweg verbaut, womöglich liegen sie eingeklemmt in den Trümmern! Wir müssen sie da ’rausholen! Wo sind die Leitern? Her damit, schnell!“

Schon wollte Severin davonstürmen, doch Eckart hielt ihn zurück. „Die nützen nichts, bald stürzt alles ein! Wir werden drinnen erschlagen, noch bevor wir jemanden retten können! Zuerst löschen!“

Der Einwand klang vernünftig, Severin sah es ein. Die Retter würden rascher den Tod finden als die im Feuer Eingeschlossenen. Er riss den nächsten vollen Eimer an sich.

Feuer oder Wasser.

Erbittert schleuderte er Schwall um Schwall Wasser in die Lohe. Sein Gewand knisterte in der Hitze. Löschen, löschen, das Feuer zurückdrängen, es ersticken, bevor die heiße Luft alles in Brand setzte!

Schneller, schneller.

Severins Gedanken rasten. Himmel hilf!! Lass sie nicht in ihren Betten liegen, betäubt von Rauch oder gerade verbrennen …

Weiche, Feuerdämon!

Aber er schien unbezwingbar. Wo das Wasser ausgegossen wurde, zischte der Dampf und rächte sich mit unerträglicher Hitze; erstickte endlich eine Flamme, erhob sich prompt eine neue und teilte sich in mehrere Feuerzungen, die sich rasch ausbreiteten und weitere Nahrung in dem knisternden Gebälk fanden. Es war zum Verzweifeln.

Kopfschüttelnd gab Eckart, inzwischen rußgeschwärzt wie ein Köhler, den Eimer an Severin zurück. „Es ist zwecklos, mach‘ allein weiter! Ich kümmere mich besser um die übrigen Häuser, ehe das Feuer übergreift.“

„Was tust du?!“, brüllte Severin. „Noch können wir den Weg hinein freimachen – wir müssen sie retten, wir müssen!!“

Doch Eckart winkte nur müde ab „Zu spät. Das Haus brennt bereits an allen Ecken und Enden!“

„So schnell?! Das kann nicht sein, doch nicht schon überall! Du irrst dich.“

„Von wegen, alles brennt wie Zunder, das schaffen wir nicht. Besser, ich helfe den anderen!“

Fassungslos sah Severin, wie Eckart sich einen Spaten griff und zu den Männern hinüberlief, die die Gräben aushoben, um das Feuer umzulenken. Mit Mühe unterdrückte Severin seine Wut. Er durfte nicht nur an sich denken. Auch andere Leben waren in Gefahr. Norwigs Haus stand zwar allein, aber die Gasse war eng, wie die meisten anderen auch, da konnte rasch der Funke überspringen! Marburg würde einfach abbrennen, fast war dies schon einmal geschehen …

Plötzlich erschien vor seinem inneren Auge seine Lieblingsnichte Sylviane, umringt von lodernden Flammen … das war ein Zeichen! Sie brauchte ihn! Jetzt! Frische Energie schoss in seine Arme. In rasendem Tempo goss er nacheinander die Eimer aus.

Tod oder Leben.

Endlich trafen die Wagen mit neuen Wasserfässern ein; bei den zahlreichen Treppen in der Stadt hatten sie einen Umweg fahren müssen. Mit bloßen Händen wühlten Weiber und Kinder Kanäle in die Erde, um das zurückfließende Löschwasser aufzufangen. Glühende Holzstücke flogen herab, einer davon erwischte Severins Ohr. Er jaulte auf vor Schmerz. Er blickte hoch und entdeckte Eckarts Sohn Mathis, der auf dem Dach des Nebenhauses herumturnte und mit einem langen Feuerhaken die brennenden Schindeln herunterriss. Ein Stein fiel von Severins Herzen. Guter Junge! So ist‘s recht! Nun ließ auch der Wind nach, und damit verlor der Feuersturm den Atem. Riesige Qualmwolken breiteten sich aus. In Severins Herzen keimte eine wilde Hoffnung auf. Gott war mit ihnen!

Genau in diesem Moment fauchte eine Flamme aus dem oberen Fenster, danach eine zweite. Das gesamte Stockwerk brannte lichterloh! Kurz darauf züngelten die Flammen wie Höllenschlangen auch aus dem Dach und fraßen rasend schnell weiter.

Mit einem Aufschrei ließ Severin den Eimer fallen und rannte zum Haus. Jetzt oder nie!! Sonst war alles zu spät. Da – die Tür!

Jemand packte von hinten zu und riss ihn zurück. Es war der Schmied. „He, Mann, willst du in dem Höllenofen gebraten werden? Bleib‘ hier!! Du kannst nichts mehr für sie tun!“

„Was fällt dir ein, lass mich los! Ich muss hinein, ich muss!!“ Severin versuchte sich aus dem eisenharten Griff zu befreien, er schlug und trat um sich, doch ebenso gut hätte er mit einem Bären ringen können. Erschöpft ließ er die Arme hängen und gab auf.

Blind und taub für den Tumult um ihn herum, merkte er nicht einmal, wie er wieder losgelassen wurde, sondern starrte nur blicklos in die schwarzen Rauchschwaden, die aus der Haustür quollen. Seine Augen tränten, die Kehle war wie ausgedörrt. Wenn er noch länger hier stehen blieb, würde er in Brand gesetzt werden wie eine Fackel. Aber jetzt aufgeben, so nah am Ziel? Trotzig ballte er die Fäuste. Und wenn sie vielleicht ohnmächtig oder verletzt in der Nähe der Tür liegen? Noch kann ich sie retten!

Kurz entschlossen schnappte er sich den nächsten Wassereimer und goss ihn über sich aus. Zusätzlich wickelte er sich ein nasses Tuch vor den Mund …

… da legte sich eine Hand auf seinen Arm. Zornig fegte er sie hinweg wie eine lästige Fliege. Schon wieder jemand, der ihn hindern wollte! Knurrend drehte er sich um … und starrte verblüfft in ein ascheverschmiertes Mädchengesicht. Ihr angesengtes Haar flammte im Widerschein des Feuers dunkelrot auf wie eine unheilige Aureole.

„Sylvelin!“, brüllte er auf.

„Oheim!“, weinte sie und warf sich ihm in die Arme.

Im nächsten Atemzug stürzte der Dachstuhl ein. Mit Grauen verfolgte Severin, wie Balken hinunterdonnerten und Trümmer umherflogen. Einige Steinbrocken trafen einen Mann am Kopf, der daraufhin zu Boden taumelte. Danach knirschte es nochmals, lang und gedehnt, bis es in einem schauerlichen Todesröcheln verklang. Als starb ein lebendes Wesen … Und endlich krachten auch die letzten Reste des Gebäudes in einer riesigen Wolke verkohlter Klumpen, glühender Asche und Mauerbruchstücken in sich zusammen. Schleunigst suchten die Menschen ihr Heil in der Flucht.

Das Mädchen kreischte schrill, als würde ein Pflock in ihr Herz gestoßen.

Severin presste sie ganz fest an sich. „Hab‘ keine Angst, es ist vorbei!“

Wimmernd verkroch sie sich tiefer in seine Arme. „Wo sind Vater … und Mutter? Und … und Idisa? Konnten sie entkommen?“

„Schsch …“ Er wiegte das zitternde Mädchen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er sich bemühte, den süßlichen Geschmack hinunterzuschlucken, der sich klebrig in seiner Kehle festgesetzt hatte. Verbranntes Fleisch. Oh Gott!

Wie schrecklich war jetzt die Stille nach dem Getöse! Totenstille. Selbst der gewohnte Stadtlärm war verstummt.

Schutt und Asche.

Düster betrachtete er den rauchenden Trümmerhaufen, in dessen Mitte sich ein verkohlter Holzpfosten anklagend emporreckte wie ein skelettierter Zeigefinger. Der traurige Überrest eines Pfeilers oder des Treppengeländers vielleicht … und nun nichts weiter als ein düsteres Monument auf einem Grabhügel. Noch vor wenigen Stunden befand sich hier ein Hort des Glücks und nun regierte das Grauen. War die strafende Hand Gottes im Spiel gewesen? Oder aber Menschenhand …?

Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Das Feuer hatte gesiegt.

***

1 Häsleins Klage, ein Jagdlied vor 1805. Quelle: Volksliederarchiv