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Inhalt

 

BLAUES BLUT

DAS IST IHR SARG, SIR!

BAD IN HCL

BIEDERMANN UND RAUSCHGIFTHÄNDLER

MR. GREGORY KANN NICHT STERBEN

DR. MORTON EMPFIEHLT SELBSTMORD

MORTONS TOTALE OPERATION

SIR HENRY, DER DRITTE IM BUND

EIN GANGSTER KILLT DEN ANDERN

SEIN ERSTER MORD

DR. MORTON

Grusel-Krimi-Bestseller

Herausgeber:

ROMANTRUHE-Buchversand

Cover: Theo Thomas

Satz und Konvertierung:

DigitalART, Bergheim.

© 2019 Romantruhe.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Personen und Begebenheiten der

Romanhandlung sind frei erfunden;

Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen sowie mit tatsächlichen

Ereignissen sind unbeabsichtigt.

Abdruck, auch auszugsweise,

Vervielfältigung und Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien zum

Zwecke der Veräußerung sind untersagt.

Internet: www.romantruhe.de

 Kontakt: info@romantruhe.de

Produced in Germany.

Dr. Morton ist auch als

Print-Ausgabe erhältlich!

BLAUES BLUT

Dr. Morton 1

Dr. Glenn Morton steuerte seinen Wagen selbst. Er war auf der Fahrt von der Praxis in Harley Street nach Brighton, befand sich auf der A 23, ungefähr in der Höhe von Redhill, als das Telefon auf dem Getriebetunnel optische und akustische Signale gab.

Morton nahm den Hörer ab, ohne das Tempo zu verringern. Er meldete sich.

»Grimsby, Sir.«

»Was gibt es?« Mortons Stimme klang ruhig, sonor, vertrauensweckend. Kurz: Die Stimme eines erfolgreichen Arztes, bei seinen Patienten beliebt, von vielen vergöttert, von den Kollegen geachtet, Mitglied des Königlichen Kollegiums der Chirurgen und eines halben Dutzends anderer, ähnlich exklusiver Vereinigungen.

»Ein Zwischenfall, Sir«, sagte William Grimsby. »Mr. Stone …«

»Was ist mit ihm, Grimsby?«

»Meine Schuld, Sir. Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte …«

Grimsby war erkennbar verwirrt. Morton runzelte die Stirn. Wenn William Grimsby, sonst die Verkörperung von Zuverlässigkeit und Ruhe, solche Symptome zeigte, musste wirklich etwas Außergewöhnliches geschehen sein.

»Was ist passiert?«

»Mrs. Clandon lief schreiend durch die Gänge. Ich konnte sie gerade noch einfangen, bevor sich eine der Krankenschwestern um sie kümmerte. Ich habe sie nach unten gebracht.«

»Eben sprachen Sie von Mr. Stone, Grimsby. Jetzt von Mrs. Clandon. Ich gestehe, dass ich nicht klug aus Ihrem Bericht werde.« Mortons Stimme klang ruhig und sicher wie immer.

»Sie schrie unaufhörlich: Da läuft ein blauer Mann! Ein nackter blauer Mann! Hilfe, ich bin einem nackten blauen Mann begegnet!«

Glenn Morton konnte sich das Fehlende zusammenreimen.

»Das hätte wirklich nicht passieren dürfen, Grimsby«, sagte er. »Wer ist auf die Szene aufmerksam geworden?«

»Glücklicherweise nur eine andere Patientin, Miss Knowles.«

»Sind Sie sicher?«

»Völlig sicher, Sir.«

»Was haben Sie Miss Knowles erzählt?«

»Dass Mrs. Clandon einen Anfall hatte.«

»Und?«

»Ich konnte sie beruhigen, Sir.«

Dr. Morton warf einen Blick auf die Uhr im Instrumentenbrett.

»In einer knappen halben Stunde bin ich da, Grimsby. Ich parke im Hof. Sie erwarten mich.«

»Jawohl, Sir.«

 

*

 

Mrs. Clandon, schwarzhaarig, attraktiv und sehr weiblich, sah ängstlich zur Tür, als sie ein Geräusch hörte.

Die Tür wurde geöffnet. Mrs. Clandon erkannte den Besucher und atmete erleichtert auf.

»Ich bin so froh, dass Sie da sind, Doktor! Es war schrecklich. Ich dachte, ich sterbe! Wie in einem Albtraum war es!«

»Beruhigen Sie sich, Mrs. Clandon«, sagte Glenn Morton und lächelte. »Denken Sie einfach, Sie hätten einen bösen Traum gehabt, und vergessen Sie ihn möglichst bald.«

»Es war aber kein Traum!«, sagte Mrs. Clandon bestimmt.

Dr. Morton zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz. Schon beim Hereinkommen war ihm aufgefallen, dass Grimsby die Frau sehr sorgfältig ans Bett gefesselt hatte. Sie konnte sich kaum rühren. Die doppelte Tür und die Tatsache, dass kein Unbefugter in diesen Teil der Klinik kam, waren Gewähr dafür, dass auch niemand reagieren würde, falls Mrs. Clandon sich einfallen ließ, zu schreien.

»Es war kein Traum?«, fragte Morton ruhig.

»Ganz bestimmt nicht. Ich bin aus meinem Zimmer gekommen und habe einen nackten Mann gesehen. Einen nackten blauen Mann! Er starrte mich an, drehte sich um und lief den Flur hinunter.«

»Mrs. Clandon«, sagte Morton beruhigend, »es gibt keine blauen Männer. Das sollten Sie wissen.«

»Ich weiß es«, sagte Mrs. Clandon. »Aber was soll ich machen? Ich habe ihn gesehen! Blau und nackt!«

Dr. Morton schüttelte den Kopf.

»Das ist sehr kompliziert«, sagte er. »Was soll ich jetzt mit Ihnen anfangen?«

»Anfangen?«, fragte Mrs. Clandon. »Sie sollen überhaupt nichts mit mir anfangen. Ich möchte in mein Zimmer zurück. Am liebsten möchte ich nach Hause.«

»Sie sind krank, Mrs. Clandon«, sagte Dr. Morton ruhig. »Ich kann Sie nicht nach Hause schicken.«

»Aber in mein Zimmer darf ich doch?«

Er stand auf und ging zur Tür.

»Wir werden sehen, Mrs. Clandon. Später.«

»Ich will nicht allein hier bleiben!«, schrie Mrs. Clandon.

Dr. Morton hatte die Tür schon erreicht. Langsam drehte er sich um.

»Vor allem müssen Sie sich beruhigen, Mrs. Clandon«, sagte er und lächelte sie freundlich an. »Ich werde Grimsby schicken. Er wird Ihnen etwas geben.«

»Nein!«, sagte sie und schüttelte sich. »Nicht Grimsby! Jeden anderen, aber nicht ihn! Ich bitte Sie, Dr. Morton!«

»Was haben Sie gegen Grimsby?«, fragte er ruhig.

»Er … er ist unheimlich. Ich habe Angst vor ihm!«

»Grimsby tut Ihnen nichts«, sagte Dr. Morton. »Er ist mein zuverlässigster Mitarbeiter.«

Die Tür schloss sich hinter ihm. Halb gelähmt vor Angst und Entsetzen blieb Mrs. Clandon zurück. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, Dr. Morton zu bitten, er möge ihre Fesseln lösen.

Ob er das getan hätte?

Sie war sich jetzt nicht mehr so sicher.

 

*

 

Mr. Samuel Stone war einer der Menschen, die Dr. Morton aus tiefstem Herzen verabscheute. Mr. Stone hatte in wenigen Jahren ein für Außenstehende nicht mehr überschaubares Vermögen zusammengerafft. Er hatte das vor allem auf Kosten kleiner Leute getan. Pfund um Pfund hatte sich auf seinen Konten angesammelt, von Angestellten und Arbeitern, von Dienstmädchen und Köchinnen, von Totengräbern und Milchhändlern, von Taxifahrern und Verkäuferinnen. Tausende hatte Mr. Stone um ihre Ersparnisse gebracht, die sie ihm in der Hoffnung auf hohe Renditen anvertraut hatten.

Wie sich herausstellte, hatte er auf eine Art gearbeitet, die unangreifbar war. Die Behörden hatten Untersuchungen eingeleitet, aber es war nicht einmal zu einer Anklage gekommen.

Mr. Stone hatte sich bei allen seinen Unternehmungen streng an die Lücken der Gesetze gehalten.

Jetzt war er seit zwei Tagen in Dr. Glenn Mortons Privatklinik in Brighton.

Nicht freiwillig, versteht sich. Um genau zu sein: Es war Grimsby gewesen, der ihn überredet hatte, mitzukommen. Es war auch Grimsby gewesen, der Samuel Stone in den unterirdischen Räumen der Klinik, von denen außer Dr. Morton und ihm niemand etwas wusste, präpariert hatte. Präpariert für die Experimente, die Dr. Morton an Mr. Stone vorzunehmen beabsichtigte.

Der erste Versuch hatte übrigens bereits stattgefunden, kaum dass Mr. Stone in der Klinik eingetroffen war. Nur hatte Stone nichts davon bemerkt, denn als Glenn Morton das Labor betrat, in dem er – nackt wie Gott ihn geschaffen hatte – auf einen Arbeitstisch geschnallt war, hinderte die gehörige Portion Äther, die Grimsby ihm verabreicht hatte, ihn daran, irgendetwas zu bemerken.

Nein, Mr. Stone wusste wirklich nicht, wie es kam, dass er beim Erwachen vom Kopf bis zu den Füßen so verändert war. Und deshalb entsetzte ihn diese Tatsache doppelt.

Nach dem Besuch bei Mrs. Clandon sagte Dr. Morton zu Grimsby: »Kommen Sie mit. Wir werden nach Stone schauen.«

Grimsby nickte gehorsam. Er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen.

Der Anblick, der sich den beiden Männern bot, als sie Stones Zimmer betraten, erklärte, weshalb Mrs. Clandon schreiend durch die Flure der Klinik gerannt war.

Auch Menschen, die weniger leicht zu beeindrucken waren, hätte das Entsetzen gepackt, wären sie unvermittelt einem Menschen mit tiefblauer Haut begegnet.

Stone lag nackt auf seinem Bett, an Händen und Füßen gefesselt, sodass er sich kaum zu rühren vermochte. Er starrte Grimsby hasserfüllt an, bevor er den Blick auf Dr. Morton richtete.

»Wer sind Sie? Ich kenne Sie! Sie sind …«

»Dr. Morton«, sagte der Arzt ruhig. »Und Sie sind mein Gast, Mr. Stone.«

»Ihr Gast?«, heulte Stone auf. »Sie haben mich kidnappen und hierher bringen lassen! Ich verlange, sofort freigelassen zu werden! Ich weiß nicht, weshalb Sie mich hergebracht und was Sie mit mir gemacht haben, aber ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen! Darauf können Sie sich verlassen, Dr. Morton! Es wird einen Skandal geben, wie England seit Jahren keinen mehr erlebt hat.«

Seine Wut steigerte sich. Er schrie: »Sagen Sie mir, weshalb ich überall blau bin! Was haben Sie mit mir gemacht?«

»Das ist sehr einfach erklärt«, sagte Dr. Morton fast fröhlich. »Ich habe Ihr Blut ausgetauscht.«

»Mein – Blut ausgetauscht?«, fragte Stone. »Was soll das heißen?«

»Ich habe Ihr Blut gegen verschiedene chemische Substanzen ausgetauscht. Mit dem kleinen Nebeneffekt, dass Ihre Haut sich blau verfärbt hat.«

»Das ist ungeheuerlich«, flüsterte Stone. »Wie kommen Sie dazu, so etwas zu tun? Wie wollen Sie das rechtfertigen?«

»Überhaupt nicht«, sagte Dr. Morton ruhig. »Und damit ich nicht in die Verlegenheit komme, das tun zu müssen, werden Sie hierbleiben, Mr. Stone.«

Samuel Stone war kein Dummkopf. Er dachte scharf nach. Was Dr. Mortons Worte bedeuteten, war nicht schwer zu erraten. Mehr als eine Minute blieb es völlig still im Zimmer.

Dr. Morton betrachtete seine Versuchsperson mit wissenschaftlichem Interesse. Für den Augenblick war völlig vergessen, weshalb er ausgerechnet Stone für dieses Experiment ausgesucht hatte.

Aber als Samuel Stone zu sprechen begann, erwachte Mortons ganze Abneigung gegen diese Hyäne erneut.

»Wie lange wollen Sie mich hierbehalten, Dr. Morton?«, fragte Stone.

»Darüber sollten Sie sich keine Gedanken machen.«

»Wie lange?«

»Ständig«, sagte Morton ruhig.

»Das können Sie nicht tun! Man wird mich suchen!«

»Man wird Sie suchen.«

»Und finden!«

»Das bezweifle ich.«

Mit gehetztem Blick sah Stone von einem zum anderen. Grimsby grinste.

»Der da! Der hat mich hergebracht! Das ist ein Verbrechen! Man wird ihn einsperren! Man wird Sie beide einsperren! Für den Rest Ihres Lebens!«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte Glenn Morton. »Sorgen Sie sich lieber um Ihre eigene Zukunft.« Seine Stimme war plötzlich verändert; eiskalt und grausam.

»Was habe ich Ihnen getan?«, fragte Stone. »Weshalb haben Sie ausgerechnet mich für diese Experimente ausgesucht?«

»Sie können sich das wirklich nicht denken?«, fragte Morton interessiert.

»Ich – nein!«

»Mr. Stone«, sagte Morton langsam, »Sie sind ein Verbrecher. In meinen Augen sind Sie schlimmer als ein Mörder. Denn Sie haben nicht einen oder zwei oder drei Menschen umgebracht, Sie haben die Existenz von Tausenden ruiniert.«

»Das ist nicht wahr!«

»O doch.«

»Kein Wort ist wahr! Man konnte mir …«

»Was wollten Sie sagen?«, fragte Morton. »Man konnte Ihnen nichts nachweisen. Richtig. Für unsere Gesetze waren Sie zu geschickt. Man konnte Ihnen nichts nachweisen, und deshalb liefen Sie frei herum und erfreuten sich an dem Vermögen, das Sie unrechtmäßig in Ihren Besitz gebracht haben.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Grimsby hämisch. »Jetzt ist's vorbei mit der Freude. Vorbei mit dem süßen Leben.«

Stones Gehirn arbeitete fieberhaft. Er wusste noch nicht, wie er sich verhalten sollte. Um Zeit zu gewinnen, sagte er: »Sie können nicht den Richter spielen, Morton. Sie sind nicht mein Richter. Sie dürfen sich nicht anmaßen, Recht sprechen zu wollen. Man hat mich nicht einmal angeklagt. Ich habe nichts getan, hören Sie? Nichts getan! Nichts, wofür man mich bestrafen könnte! Ich habe mich an die Gesetze gehalten, das haben Sie selbst gesagt! Was wollen Sie von mir?«

Morton wischte mit einer Handbewegung weg, was Stone gesagt hatte.

»Ich will Sie bestrafen«, sagte er. »Und niemand wird mich daran hindern, das zu tun.«

»Wie?«, fragte Stone. »Wie wollen Sie mich bestrafen?«

»Können Sie sich das nicht denken? Ich habe doch schon damit begonnen. Und diese Strafe erfüllt einen doppelten Zweck. Sie nutzt der Wissenschaft. Quasi nebenbei. Ich bin nicht nur Mediziner, ich bin auch Biochemiker. Seit Jahren experimentiere ich mit einem Kunstprodukt, das das menschliche Blut ersetzen kann. Andere tun das auch. Es ist sehr wichtig, verstehen Sie? Die anderen sind noch nicht so weit wie ich.«

Er lachte.

»Ich habe die bessere Ausgangsposition. Ich habe Sie. Meine Kollegen müssen sich mit Ratten begnügen. Ich kann meine Experimente am Menschen durchführen, nachdem Sie jetzt in das entscheidende Stadium getreten sind.«

Wieder war es lange still im Raum. Stone hatte Mühe, zu begreifen, was Dr. Morton gesagt hatte. Es war ungeheuerlich.

Schließlich fragte er angstvoll: »Werde ich sterben?«

»An meinen Experimenten?«, fragte Morton zurück. »Das weiß ich nicht, Stone. Das wird sich zeigen.«

Sein Blick glitt noch einmal über den von Kopf bis Fuß tiefblauen Mann, der machtlos, ohnmächtig, gefesselt auf seinem Bett lag.

Dann wandte er sich zu Grimsby um.

»Fünf bis sechs Tage schätze ich. Dann wissen wir mehr.«

»Was?«, schrie Stone.

Aber weder Morton noch Grimsby beachteten ihn. Gemeinsam verließen sie das Zimmer.

Wie er es schon vorher mehrmals getan hatte, zerrte Stone ungeduldig an seinen Fesseln. Das war vergeblich. Grimsby hatte ihn so gut versorgt, dass es ihm kein zweites Mal gelingen würde, seinem Verlies zu entkommen.

Stone fühlte die Tränen, die ihm übers Gesicht liefen. Er erschrak, denn er konnte sich nicht erinnern, jemals geweint zu haben.

Später versuchte er, sich Mut zu machen.

Man wird mich finden, sagte er sich. Bestimmt sucht man schon nach mir. Und ganz bestimmt findet man mich. Dann wird man diesen verfluchten Morton und seine Kreatur Grimsby einsperren. Man wird mich für alles entschädigen, was ich hier erdulde.

Und ich werde mich rächen!

Das Zimmer verschwamm vor seinen Augen. Diesmal waren es Tränen der Wut, die er vergoss.

»Ich werde Rache nehmen«, murmelte er immer wieder. »Meine Rache wird furchtbar sein.«

Aber ganz tief drinnen nagte der Zweifel an ihm. Würde er je die Gelegenheit für seine Rache bekommen?

Wenn es ihm gelungen wäre, hätte er gern alles für einen furchtbaren Traum gehalten.

 

*

 

Dr. Morton hatte die Chef-Visite hinter sich und diktierte Schwester Barrington einige Notizen zu diversen Krankengeschichten. Cynthia Barrington war seine rechte Hand, sowohl in der Londoner Praxis als auch hier draußen in Brighton. Es gab eine Menge Leute, die vermuteten, die schöne Schwester sei mehr als nur eine Mitarbeiterin des attraktiven Junggesellen.

Nachdem sie gegangen war, drückte er einen Knopf der Sprechanlage auf seinem Schreibtisch und sagte: »Grimsby, kommen Sie bitte zu mir.«

»Sofort, Sir.«

Es dauerte keine Minute, bis Grimsby eintrat.

»Setzen Sie sich.«

»Danke, Sir.«

Sobald sie allein waren, änderte sich etwas im Verhältnis Grimsbys zu seinem Chef. Er wurde eine Spur vertraulicher, und das hatte seine Gründe.

»Was war los, Grimsby?«, fragte Dr. Morton. »Ich kann mir diese Panne nicht erklären. Können Sie es?«

»Erklären?«, fragte Grimsby zurück. »Ich weiß, es hätte nicht passieren dürfen. Und Sie wissen, dass es auch noch nie passiert ist.«

»Noch nie«, bestätigte Morton. »Ich hoffe, Grimsby, es war eine einmalige Panne. Sie wissen, dass wir uns so etwas nicht leisten können.«

»Ich weiß es so gut wie Sie, Sir.«

»Keine Erklärung?«

Grimsby zuckte die Achseln.

»Ich bin verkrampft, Sir. Unruhig. Seit Tagen schon.« Seine Stimme veränderte sich, bekam einen fast träumerischen Klang. »Neulich war ich drüben in Eastbourne. Auf den Kreidefelsen von Beachy Head. Sie wissen schon, Sir.«

Morton hörte interessiert zu, ohne Grimsby zu unterbrechen.

»Ich habe dort ein Mädchen getroffen. Ein wunderschönes Mädchen. Eine Blonde mit langen Haaren. Sie fielen ihr bis auf die Schultern. Ich habe sie lange beobachtet. Sie sah aus wie ein Engel.«

Er wiederholte langsam:

»Wie ein Engel …«

»Immer noch«, murmelte Morton. »Ich hatte gehofft, das läge hinter uns.«

»Ich kann nichts dazu, Sir.«

Morton lachte kurz auf.

»Und ich bin machtlos. Ich habe kein Mittel, um Ihnen zu helfen. Um Sie davon zu befreien.«

Grimsby straffte sich. Seine Stimme nahm den früheren bestimmten Ton an. »Ich brauche eine Entspannung, Sir. Ich brauche sie, um wieder normal zu reagieren. Es muss sein, damit Sie sich auf mich verlassen können.«

»Ein blondes Mädchen?«, fragte Dr. Morton. »Blond, schlank, jung?«

»Ja«, sagte Grimsby. »Blond und schlank und jung.«

»Ich will nichts davon wissen, Grimsby.«

»Ich werde Sie nicht damit belästigen, Sir«, murmelte der andere.

»Sie müssen sehr vorsichtig sein.«

»Selbstverständlich, Sir. Wie immer.«

»Nehmen Sie Mrs. Clandon die Fesseln ab.«

Grimsby nickte.

»Und Stone?«

»Der bleibt gefesselt«, entschied Dr. Morton. »Es ist zwar nicht notwendig, aber es vergrößert seine Leiden. Und die Ergebnisse meiner Versuche wird es nicht beeinträchtigen.«

Am nächsten Vormittag war Mortons Plan gefasst, was Mrs. Clandon betraf. Er rief Grimsby zu sich und sprach mit ihm darüber.

Grimsby nickte.

»Sie geben mir recht?«

»Voll und ganz, Sir. Ihr Plan ist einfach und genial. Er muss gelingen.«

»Er wird gelingen«, sagte Morton, »wenn Ihnen kein Fehler unterläuft. Sie wissen, worauf es ankommt.«

»Voll und ganz«, sagte Grimsby. Morton fixierte ihn. Er schien zufrieden.

Etwa eine halbe Stunde später brachte Grimsby Mrs. Clandon den Lunch. Sie fand den Mann sehr verändert. Er lächelte und plauderte mit ihr. Nach zehn Minuten hatte sie fast vergessen, wie sehr sie ihn fürchtete.

»Nun lassen Sie sich's schmecken, Mrs. Clandon«, sagte Grimsby, »ich wünsche Ihnen guten Appetit.«

Er verließ das Zimmer.

Mrs. Clandon musste zweimal hinschauen, um sich zu vergewissern, dass ihr Blick sie nicht täuschte.

Sie stand auf, ohne das Essen anzurühren, ging langsam, mit behutsamen Schritten auf die Tür zu.

Es stimmte wirklich. Grimsby hatte nicht abgeschlossen.

»Er hat es vergessen«, murmelte sie. »Er hat vergessen, die Tür abzuschließen.«

Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

»Was mache ich?«, flüsterte sie. »Ob ich's versuche?«

In Wahrheit konnte sie gar nicht anders. Die Verlockung, dem Gefängnis zu entkommen, war zu groß. Sie sah an sich herab und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken.

Ich könnte versuchen, mein altes Zimmer zu finden, dachte sie. Dann rufe ich nach Schwester Barrington. Sie hilft mir bestimmt.

War das richtig?

War es nicht besser, wenn sie versuchte, die Klinik ganz zu verlassen?

Ich muss mich beeilen, dachte Mrs. Clandon. Vielleicht fällt Grimsby ein, dass er nicht abgeschlossen hat, und er kommt zurück. Vielleicht ist es schon zu spät, wenn ich noch eine Minute zögere.

Der Gedanke, im Nachthemd und in Hausschuhen auf die Straße zu laufen, schreckte Mrs. Clandon. Aber immerhin war es besser, fast nackt hinauszulaufen, als hier in diesem Zimmer gefangen zu sein.

Am qualvollsten war die Ungewissheit: Was würde die nächste Stunde, was der nächste Tag bringen?

Nein, da war es wirklich besser, sich für wenige Minuten dem Gelächter und den anzüglichen Bemerkungen der Straßenpassanten auszusetzen, den Touristen, von denen es im Moment in Brighton wimmelte und die fast so schlimm waren wie die Leute vom Kontinent.

Mrs. Clandon strich das Nachthemd noch einmal glatt. Die Nippel ihrer Brüste stachen durch den dünnen Stoff. Vorsichtig näherte sie sich der Tür.

Sie dachte an Dr. Morton. Was war mit ihm los? Warum hatte er sie nicht hier herausgeholt?

Mrs. Clandon schüttelte den Kopf. Sie konnte sich immer noch keinen Reim auf das machen, was geschehen war. Und sie weigerte sich schlicht, zu glauben, dass Dr. Morton nicht der untadelige Held war, für den sie ihn gehalten hatte.

Vor ihrem Zimmer gelangte sie auf einen langen, in gleichmäßigen Abständen von Deckenlampen erleuchteten Flur. Links und rechts sah sie Türen. Der Fußboden war gefliest und wirkte sehr sauber, fast steril.

Nirgends war jemand zu sehen.

Sie schlich den Gang entlang. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es am anderen Ende einen Ausgang oder eine Treppe geben musste.

Tatsächlich, da war die Treppe. Sie führte nach oben.

Mrs. Clandon sah sich noch einmal um. Was, wenn Grimsby jetzt auftauchte?

Ich schreie!, dachte sie. Ich kann gar nicht anders. Ich schreie so laut, dass alle zusammenlaufen.

Aber wer würde zusammenlaufen? War außer ihr überhaupt jemand hier?

Stufe um Stufe erklomm sie die Treppe. Sie rechnete immer noch mit Grimsbys Auftauchen und damit, wieder hinuntergeschleppt zu werden.

Dann war die Treppe zu Ende. Mrs. Clandon stand vor einer Tür. Ihre Hand drückte die Klinke nach unten. Sie wagte kaum zu hoffen, dass auch diese Tür nicht verschlossen war.

Doch die Tür gab dem leichten Zug nach. Gleich darauf stand Mrs. Clandon in einem der Seitenhöfe von Dr. Mortons Privatklinik. In einem Hof, auf den kein einziges Fenster ging, wie sie erkannte, als sie an den Mauern emporblickte.

Sie sah hinüber zu der Begrenzungsmauer und entdeckte die kleine Pforte neben dem verschlossenen Tor.

»Oh lieber Gott, gib, dass sie auch unverschlossen ist«, murmelte Mrs. Clandon. »Gib, dass ich hier herauskomme. Ich will alles tun! Alles!«

Sie rannte los. Erreichte die Pforte. Drückte die Klinke.

Die Pforte war nicht verschlossen.

Aufatmend lehnte Mrs. Clandon sich außen gegen die Umfassungsmauer.

Sie befand sich in einer stillen Seitenstraße. Wo sie war, wusste sie nicht genau. Sie hatte sich auch noch keine Gedanken darüber gemacht, wie es jetzt weitergehen sollte. Doch der Wunsch, möglichst viel Raum zwischen sich und das Gefängnis zu bringen, dem sie eben entronnen war, trieb sie weiter.

Sie rannte los, so schnell ihre Hausschuhe das gestatteten.

In einer Ausfahrt tauchte ein junger Mann auf. Er sah ihr verblüfft nach. Dann rief er etwas, ein Fenster öffnete sich, zwei, drei Gesichter drängten sich. Der junge Mann rief, deutete auf die davoneilende Mrs. Clandon.

Sie hörte das Lachen hinter sich. Erreichte eine Ecke. Bog nach rechts ab. Die Straße, in der sie sich jetzt befand, war ebenso ruhig wie die, die sie gerade verlassen hatte.

»Ich werde irgendwo klingeln«, murmelte sie. »Ich werde läuten und bitten, dass man mich aufnimmt und die Polizei benachrichtigt. Dass man meinen Mann verständigt. Die Polizei muss in die Klinik. Sie muss Grimsby verhaften. Grimsby ist an allem schuld. Nicht Dr. Morton! Ich glaube, Dr. Morton ist ebenso in Grimsbys Gewalt, wie ich es war.«

Grimsby …

Ein unauffälliger Wagen näherte sich von hinten und hielt neben Mrs. Clandon. Die Tür wurde geöffnet. »Steigen Sie doch ein. Mrs. Clandon«, sagte eine freundliche Stimme.

Sie blieb stehen, starrte in das Gesicht, das ihr entgegenlächelte, und fühlte, wie sie langsam zum Eiszapfen wurde. Etwas krampfte sich um ihr Herz. Sie konnte sich nicht wehren, als eine Hand nach ihrem Gelenk griff und sie mit einer knappen Bewegung in den Wagen riss.

Grimsby.

Er hatte sie wieder. Sie war ihm nicht entkommen. Er hatte sie erneut eingefangen. Jetzt saß sie neben ihm im Wagen und er fuhr mit ihr davon.

»Wohin fahren wir?«, fragte sie.

»Wohin?«, fragte Grimsby freundlich. »Zur Klinik natürlich, Mrs. Clandon. Sie sind krank. Sie hätten nicht davonlaufen sollen.«

»Das ist nicht der Weg zur Klinik«, sagte sie. »Wir fahren in die falsche Richtung. Wohin bringen Sie mich?«

»Eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Grimsby. »Zur Klinik fahren wir später. Vorher machen wir einen kleinen Ausflug. Warum genießen Sie ihn nicht?«

Mrs. Clandon dachte mehr als einmal daran, die Wagentür zu öffnen und sich einfach auf die Straße fallen zu lassen.

Aber sie war viel zu schwach, ihre Glieder gehorchten nicht. Sie zitterte am ganzen Körper. Wenn sie versuchte, eine Hand zu heben, wurde das Zittern noch schlimmer. Sie gab den Versuch jedes Mal rasch wieder auf.

Mr. Grimsby steuerte den Wagen in Richtung Worthing. Aber schon nach einer knappen Meile bog er von der Hauptstraße ab. Sie fuhren mehr als zwei Stunden kreuz und quer über schmale Straßen und Feldwege und erreichten schließlich ein halbverfallenes Cottage.

»Sie bleiben sitzen, Mrs. Clandon«, befahl Grimsby, während er ausstieg.

Sie nickte.

Wie konnte sie sich ihm widersetzen, hier, wo es weit und breit keinen Menschen gab, der ihr helfen würde.

Mir hilft niemand, dachte sie. Nicht mal in Brighton hat mir jemand geholfen. Und dort gab es andere Menschen.

Sie sah zu, wie Grimsby ein Tor öffnete und einen Wagen herausfuhr. Er zwang sie, umzusteigen. Dann fuhr er den Wagen, mit dem sie gekommen waren, in die Garage und verschloss sie.

Mrs. Clandon brauchte gar nicht zu fragen, wohin die Fahrt diesmal ging. Aber bevor sie die Hauptstraße nach Brighton erreichten, hielt Grimsby auf einem Parkplatz.

Er lächelte sie freundlich an.

»Es tut nicht weh, Mrs. Clandon. Und es dient nur der Sicherheit.«

Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Sie sah, wie er die Spritze aus dem Etui nahm, wie er die Nadel in die Ampulle stieß, die Spritze aufzog und nach dem Wattebausch griff.

Sie wollte schreien, sie wollte sich wehren. Aber sie konnte sich nicht einmal rühren. Sie war wie gelähmt. Den Einstich spürte sie kaum.

Der Wagen hatte den Parkplatz noch nicht verlassen, da dämmerte Mrs. Clandon bereits hinüber. Sie merkte nichts davon, dass sie nach Brighton zurückkehrten. Sie merkte nicht, dass man sie aus dem Wagen in die Klinik trug – durch den versteckten Seiteneingang. Sie merkte nicht, dass Grimsby sie auf ihr Bett legte.

Dieser wandte sich zu Dr. Morton um.

»Es ist alles glattgegangen, Sir. Keine Schwierigkeiten.«

»Sie haben sie an der vereinbarten Stelle in den Wagen genommen?«

»Ja, Sir. In der engen Durchfahrt. Dort, wo niemand zusehen konnte.«

»Und vorher?«, fragte Dr. Morton. »Hat man Mrs. Clandon gesehen?

»Selbstverständlich«, sagte Grimsby. »Ganz, wie Sie es geplant hatten. Mindestens zwei Dutzend Menschen haben sie im Nachthemd über die Straße laufen sehen, nachdem sie unser Grundstück verlassen hatte. Einige davon kenne ich. Wenn wir Zeugen brauchen, werden sie sich bestimmt melden.«

»Man sieht nicht jeden Tag eine Frau fast nackt durch Brightons Straßen laufen«, fügte Dr. Morton lächelnd hinzu.

Jedem Fremden wäre wieder aufgefallen, in welch vertraulichem Ton Grimsby und Dr. Morton miteinander sprachen. Aber daran war eigentlich gar nichts verwunderlich.

Morton und Grimsby kannten sich seit vielen Jahren. Im Zweiten Weltkrieg hatten sie als blutjunge Infanteristen Seite an Seite im Schützengraben gelegen. Jeder hatte dem anderen mehrmals das Leben gerettet. Nach dem Krieg hatten beide begonnen, Medizin zu studieren.

Ihre Wege hatten sich getrennt, als Grimsby die Universität einer finsteren Affäre wegen verlassen musste. Erst Jahre später – Dr. Morton war mittlerweile bereits als erfolgreicher Chirurg in Londons Harley Street etabliert – begegneten sie sich zufällig.

Nach einem sehr langen Gespräch fanden sie, dass es beiden zum Vorteil gereichte, sich zusammenzutun.

 

*

 

Allmählich kam Mrs. Clandon wieder zu sich. Sie tauchte aus der Tiefe ihrer Bewusstlosigkeit an die Oberfläche der Realität.

Als sie die Augen aufschlug, sah sie in Dr. Mortons Gesicht. Seine Augen lächelten. Er sah sie beruhigend an. Mrs. Clandon atmete ganz tief durch. Dass er an ihrem Bett saß und nicht Grimsby, empfand sie fast wie ein Geschenk.

»Was ist geschehen, Dr. Morton?«, fragte sie. »Warum bin ich wieder hier?«

»Sie hätten gar nicht weglaufen sollen«, sagte er. »Sie sind sehr krank, Mrs. Clandon.«

»Warum hat er mich nicht laufen lassen?«, schluchzte sie. »Warum hat er mich hierher zurückgebracht?«

»Glauben Sie mir, es musste sein«, sagte Dr. Morton.

»Ihret- oder meinetwegen?«

Er sah sie an und zuckte die Schultern.

»Wenn Sie es genau wissen wollen: meinetwegen.«

»Und jetzt?«, fragte sie angstvoll. »Was wird aus mir? Was haben Sie mit mir vor? Was wird Grimsby mit mir machen?«

»Grimsby? Der wird Ihnen kein Haar krümmen.«

Obwohl Sie sich selbst darüber wunderte – Mrs. Clandon glaubte Dr. Morton.

»Mir werden Sie helfen«, sagte er. »Sie werden mich bei meiner Arbeit unterstützen.«

Sie war bereit, allem zuzustimmen, wenn man ihr nur versprach, dass der schreckliche Grimsby sie nicht mehr anrühren durfte,

»Ich soll Ihnen helfen, Dr. Morton? Was kann ich denn tun?«

»Sie werden an meinen Experimenten teilnehmen«, sagte er.

»Wie kann ich das? Ich verstehe doch gar nichts davon.«

Er lächelte.

»Als Versuchsperson. Und dazu brauchen Sie nichts von Medizin und Biochemie zu verstehen.«

»Versuchsperson«, flüsterte Mrs. Clandon tonlos.

Sie dachte an den blauen Mann und ahnte plötzlich, was ihr bevorstand.

Hinter Dr. Morton stand Grimsby. Mrs. Clandon schrak zusammen. Sie hatte ihn nicht hereinkommen hören. Grimsby grinste sie an.

»Drüben ist alles vorbereitet, Sir. Soll ich Mrs. Clandon hinüberbringen?«

»Nein!«, schrie sie. »Nein! Nein! Nein!« Mühsam beherrscht sagte sie zu Dr. Morton: »Sie haben mir versprochen, dass er mich nicht mehr anrührt! Sie haben gesagt, er darf mir kein Haar krümmen!«

»Das wird er auch nicht tun, liebe Mrs. Clandon«, sagte Morton. »Grimsby, Sie werden sich doch wie ein Gentleman benehmen?«

»Selbstverständlich, Sir. Soll ich sie jetzt hinübertragen?«

»Ich glaube, wir warten noch damit«, entschied Dr. Morton. »Ich werde Mrs. Clandon selbst ein Beruhigungsmittel geben. Sie soll wieder ganz sie selbst werden, bevor wir es tun.«

 

*

 

Grimsby fuhr einen mehrere Jahre alten, unauffälligen Austin A 60, einen Wagen, wie sie zu Tausenden auf den Straßen waren, ein absolut unauffälliges Fahrzeug. Niemand konnte ahnen, dass unter der Haube ein kräftiger Dreilitermotor versteckt war, der das Gefährt, wenn es sein musste, mühelos auf mehr als 100 Meilen in der Stunde beschleunigte.

Grimsby trug eine leichte Sommerhose und ein buntes Hemd. Um den Hals hatte er ein Tuch geschlungen. In der Nähe von Eastbourne parkte er den Austin und ging zu Fuß nach Beachy Head.

Hier kannte er sich aus. Es gab keinen Weg und keinen Steig an den Kreidefelsen, der ihm fremd gewesen wäre.

Grimsby war einer der wenigen Menschen, die es wagten, von Beachy Head bis hinunter zum Meer zu klettern – und auch wieder zurück –, ohne sich anzuseilen oder auf andere Art zu sichern.

Zu einer Kletterpartie war er an diesem Tag allerdings nicht hergekommen. Er spazierte scheinbar ziellos am Rand der Felsen entlang, die fast senkrecht über 170 Meter tief zum Meer abfielen. Dabei erreichte er einen exponierten Punkt, an dem es ihm immer besonders gut gefallen hatte.

Wenn man sich hier auf den Bauch legte und vorsichtig bis zum Rand des Felsens robbte, sah man genau dorthin, wo etwa bis zur halben Höhe ein fast nadelspitzer Felsen emporragte.

»Man müsste ihn exakt treffen«, murmelte Grimsby. »Direkt die Spitze. Ich bin gespannt, was dann passiert.«

Von weither drangen fröhliche Stimmen, drang Gelächter zu ihm. Grimsby stand auf, säuberte seine Hose und sein Hemd und sah nach, wer sich außer ihm noch hierher gewagt hatte.

Es war eine Gruppe von jungen Leuten, Jungen und Mädchen. Als er eine Blonde mit langen Haaren darunter entdeckte, glaubte er, sein Herz würde stillstehen. Aber bald erkannte er, dass die Blonde nicht die war, die er erwartete.

Ob die sich heute überhaupt hier blicken ließ?

Grimsby ging der Gruppe, die immer näher kam, aus dem Weg. Er spazierte zurück in Richtung Eastbourne. Auf halbem Weg schlug er sich seitwärts in das niedrige, aber dichte Gebüsch. Das Gelände stieg leicht an. Er fand bald den Platz, den er suchte. Von hier aus konnte man alle Wege überblicken. Niemand, der kam oder ging, entging Grimsbys Aufmerksamkeit.

Auch das Mädchen nicht, das sich drüben ziemlich dicht am Rand der Felsen bewegte. Es war blond und schlank und sehr jung, und diesmal gab es keinen Zweifel. Die Art ihrer Bewegungen verriet Grimsby, dass er die Richtige gefunden hatte.

Er beobachtete sie. Es dauerte lange, bis sie so nah war, dass er ihr Gesicht erkennen konnte.

Jetzt!, dachte er. Jetzt ist es endlich soweit. Ich muss sehr geschickt vorgehen. Vor allen Dingen darf ich mich nicht verraten. Nicht zu früh. Das würde alles verderben. Wenn es zu schnell geht, macht es keinen Spaß. Wenn ich einen Fehler mache und mich hinterher beeilen muss, bringe ich mich selbst um das ganze Vergnügen. Dann war alles umsonst. Dann werde ich nicht entspannt nach Brighton zurückkehren. Dann wird es schlimmer sein als vorher.

Er überlegte, ob Glenn Morton ihm eine weitere Panne, wie sie mit Mr. Stone geschehen war, verzeihen würde.

Er kam zu dem Schluss, dass Morton das gar nicht durfte. Risiken einzugehen, die ein gewisses Maß überschritten, das war Dummheit.

Grimsby arbeitete sich durch das Gebüsch zurück bis zum Weg. Ganz unvermittelt stand er dem Mädchen gegenüber.

Es erschrak. Grimsby lächelte.

»Aber, aber!«, sagte er gewinnend. »Sie haben doch keine Angst vor mir?«

»Wo kommen Sie so plötzlich her?«

»Ich habe mich da oben gesonnt«, sagte er. »Wunderschönes Fleckchen. Kennen Sie's?«

»Nein.« Sie wollte weitergehen. Grimsby blieb an ihrer Seite. »Sie haben's doch nicht eilig?« Keine Antwort.

»Warum reden Sie nicht mit mir?«

»Was wollen Sie denn?«, fragte sie, blieb stehen und sah ihn schnippisch an.

»Mich mit Ihnen unterhalten, was sonst? Sie gefallen mir nämlich.«

»Ach! Das haben Sie schnell gemerkt.«

»So schnell auch wieder nicht«, sagte Grimsby lachend. »Ich habe Sie schon vor einigen Tagen gesehen. Da sind Sie auch hier spazieren gegangen.«

»Ich komme jeden Tag her«, sagte sie. »Wie heißen Sie denn?«

»Grimsby. William Grimsby. Und Sie?«

»Nicky Brown«, sagte sie artig.

»Nicky. Das ist ein hübscher Name. Warum kommen Sie nicht mit, Nicky?«

»Wohin denn?«

»Dort hinauf. Ich zeig's Ihnen.«

»Was?«

»Na, das Fleckchen, von dem ich gesprochen habe. Sie werden sehen, es ist wirklich schön. Und Sie können dann immer hingehen. Auch ohne mich.«

»Da hab ich was von!«, sagte Nicky lachend, wurde aber gleich wieder ernst und fügte hinzu: »Ich weiß nicht. Wir sind uns doch völlig fremd. Und es ist sehr einsam hier, nicht wahr?«

»Einsam?«, fragte Grimsby. »Schauen Sie sich um. Hören Sie sich um. Überall Menschen.«

»Die sind weit weg.«

»Kommen Sie schon«, drängte er. »Vor mir brauchen Sie wirklich keine Angst zu haben.«

Nicky zögerte. Sie fühlte sich unsicher. Es war ihr noch nie passiert, dass ein Mann sie so unvermittelt angesprochen hatte. Was sollte sie tun?

»Sie sind zwar noch sehr jung«, sagte Grimsby mitten in ihre Überlegungen hinein, »aber doch kein solches Küken!«

»Was wollen Sie damit sagen? Natürlich bin ich kein Küken.«

»Eben. Deshalb werden Sie auch mitkommen. Wir werden uns nett unterhalten. Ich habe was zu trinken mit. Zigaretten auch. Wir werden plaudern und rauchen und ab und zu einen Schluck trinken.«

»Ich vertrage gar keinen Alkohol«, sagte Nicky. »Und Zigaretten – pah, in meinem ganzen Leben habe ich nicht mehr als ein Dutzend geraucht.«

Aber sie ging mit. Als sie ins Gebüsch eindrangen, nahm er ihre Hand und zog sie hinter sich her. Einmal schlug ihr ein Zweig ins Gesicht. Sie schrie auf. Grimsby blieb sofort stehen, drehte sich um und sah sie besorgt an.

»Es hat doch nicht wehgetan?«

»Nein, nein, schon gut. Ich war nur erschrocken.«

»Sehen Sie«, sagte er, anscheinend stolz auf das Plätzchen, das er hier entdeckt hatte, »ist das nicht wunderbar? Drehen Sie sich um. Sehen Sie dorthin. Und da hinüber. Es gibt keinen Punkt auf dem ganzen Felsen, den Sie von hier aus nicht übersehen können.«

»Tatsächlich, das stimmt«, sagte Nicky. »Und ich habe mir eingebildet, ich kenne mich hier aus.«

»Wohnen Sie in Eastbourne?«

»Ja.«

»Was machen Sie da?«

»Ich gehe noch zur Schule.«

»Sie wohnen bei Ihren Eltern?«

»Natürlich«, sagte Nicky. »Wo sonst?«

»Eine brave Tochter braver Eltern«, sagte Grimsby und grinste.

»Wenn Sie mich so ansehen, wird mir ganz komisch.«

»Wie denn?«

»Na, komisch eben.«

»Aber Sie haben keine Angst vor mir.«

»Angst?«, fragte sie gedehnt, »Warum sollte ich Angst vor Ihnen haben?«

Grimsby grinste stärker. »Ja, warum?«

Sie streckten sich im Gras aus. Es war genauso, wie er es gesagt hatte. Sie plauderten. Sie rauchten, und hin und wieder nahm jeder von ihnen einen Schluck aus der Flasche. Grimsby größere, Nicky sehr kleine.

»Ganz hübsch warm heute.«

»Allerdings.«

»Aber wenn Sie damit sagen wollen …«

»Sagen? Gar nichts will ich damit sagen. Woran denken Sie denn?«

»Ach, nur so«, sagte Nicky und wurde ein bisschen rot.

»Raus mit der Sprache!«, verlangte Grimsby. »Jetzt haben Sie angefangen, jetzt müssen Sie's auch zu Ende bringen. Ich will wissen, woran Sie gedacht haben.«

»An Ausziehen und so.«

»Aha. Warum nicht? Bei dem Wetter könnte man tatsächlich auch ein Sonnenbad nehmen, ohne so eingemummt zu sein.«

Nicky zierte sich noch ein bisschen. Aber schließlich legte sie doch ihr Kleid ab und die Sandalen und trug nichts mehr auf ihrem schlanken Mädchenkörper als einen knappen weißen Slip und einen ebenso knappen Büstenhalter.

»Sie haben doch nichts dagegen, dass ich es mir auch leichter mache?«, fragte Grimsby.

Er zog sich bis auf die Unterhose aus. Nicky tat, als starre sie an ihm vorbei, aber er merkte, dass sie ihn mit verstohlenen Blicken bedachte.

»Hast du einen Freund, Nicky?«

»Warum duzen Sie mich plötzlich?«

»Hast du einen?«

»Ja. Nein.«

»Also hast du einen!«

»Wenn schon. Was geht Sie das an?«

»Was macht ihr miteinander?«

»Gar nichts. Er ist in London. Er studiert dort.«

»Schön, schön, aber was macht ihr, wenn ihr euch trefft?«

»Was alle machen«, sagte sie unwillig.

»Knutschen, he? Petting, wie man das jetzt nennt. Schlaft ihr miteinander?«

Nicky gab keine Antwort.

»Mir kannst du's ruhig erzählen. Und wenn du Fragen hast … Ich gebe dir gern Auskunft.«

»Worüber denn? Was sollte ich Sie schon fragen?«

Er fixierte sie.

»Ich wette, du hast noch nie mit ihm geschlafen!«

»Mit wem?«

»Mit deinem Freund.«

»Doch, schon.«

»Oft?«

Nicky schüttelte den Kopf.

»Warum nicht? Macht's dir keinen Spaß?«

»Wir sehen uns so selten«, sagte sie. »Außerdem geht es nur, wenn nichts passieren kann. Wir passen nämlich höllisch auf. Frank möchte nicht, dass ich ein Kind bekomme. Und ich will's natürlich auch vermeiden, solange wir noch nicht verheiratet sind.«

»Ah, ihr wollt heiraten«, sagte Grimsby.

»Natürlich wollen wir das.«

Er rückte ein Stück näher. Als er seine Hand auf ihre Brust legte, hielt sie ganz still. Sie sahen sich in die Augen.

»Bitte nicht«, sagte Nicky leise.

Grimsbys Hand blieb, wo sie war. Als er Nicky zu küssen versuchte, drehte sie den Kopf zur Seite. Als es ihm trotzdem gelang, seine Lippen auf ihre zu bringen, blieb ihr Mund geschlossen.

Er gab den Versuch bald auf.

»Du bist ja albern«, sagte er.

Da sie nicht reagierte, begann er, ihre Brust zu kneten. Er spürte die harte Warze. Sie stach durch den Stoff.

Einmal stöhnte Nicky ein bisschen. Als seine Hand hinabglitt bis zu dem Dreieck zwischen ihren Schenkeln, drehte sie sich rasch auf den Bauch.

»Das nicht!«, sagte sie scharf.

»Wegen Frank, he?«, fragte er grinsend.

»Wegen Frank. Und überhaupt.«

»Wie ich mir's gedacht habe.« Grimsby drehte sich auf den Rücken und starrte, die Finger hinter dem Kopf ineinander verschränkt, in den Himmel.« »Wie ich mir's gedacht habe. Du bist ein dummes kleines Küken.«

Nicky schwieg.

»Ich mag solche Küken wie dich«, sagte Grimsby. »Verdammt, und wie ich sie mag! Mir wird immer ganz anders, wenn mir eins begegnet. Weißt du, dass du meine Tochter sein könntest?«

»Leicht«, sagte Nicky.

»Vielleicht hätte ich 'ne Tochter wie dich haben sollen. Vielleicht wäre dann alles ganz anders.«

»Was?«, fragte sie.

Er brummte.

»Was wäre anders?«

»Geht dich nichts an«, sagte er.

Nicky bedauerte es ein bisschen, dass seine Hände sich gar nicht mehr mit ihr beschäftigten. Sie rückte näher. Grimsby reagierte nicht.

Sie rückte noch näher. Schließlich berührte sie ihn.

»Was gibt's jetzt?«, fragte er.

»Nichts.«

»Was willst du?«

»Was schon? Gar nichts.«

Jäh drückte er ihre Schultern ins Gras und presste seinen Mund auf ihren.

Diesmal bot sie nicht lange Widerstand.

Seine Zunge drang in ihren Rachen.

Gleich darauf spürte er ihre Zunge. Sie tastete die Reihe seiner Zähne ab.

Sie hörten nicht auf, sich zu küssen, solange sie noch Luft hatten.

»Und jetzt?«, fragte Nicky hinterher atemlos.

Grimsby betrachtete sie schweigend.

»Ich kenn' das doch«, sagte Nicky altklug. »Männer! Wenn man sich von Ihnen küssen lässt, wollen sie gleich mehr.«

»Was du nicht sagst«, brummte Grimsby.

»Sie denken immer nur daran!«, sagte Nicky. »Immer nur an das eine.«

»Es gibt auch welche, die's nicht tun.«

»Aber die sind nicht normal!«

Der Satz traf Grimsby wie der Hieb einer Peitsche. Sie weiß nicht, was sie da sagt, dachte er. Sie weiß nicht, was sie sich selbst damit antut. Sie hat ihr Schicksal besiegelt. Sie hat es so gewollt. Sie ganz alleine!

 

*

 

Je weiter die Dämmerung fortschritt, desto leerer wurde der Kreidefelsen von Beachy Head.

Nicky fröstelte.

»Jetzt muss ich aber wirklich gehen«, sagte sie. »Ich werde mich anziehen.«

»Tu das«, brummte er und stieg ebenfalls in seine Hose.

Sie war schon fertig, als er sein Hemd zuknöpfte.

»Warte, ich bring dich noch ein Stück.«

»Nicht nötig«, sagte sie. »Ich finde den Weg alleine. Ich kenne mich ja aus.«

»Ich bring dich trotzdem.«

»Warum?«

»Ich möchte ganz gern noch ein bisschen mit dir zusammen sein.«

»Wirklich?«, fragte sie kokett.

»Warum fragst du?«

Sie zuckte die Schultern.

»Hm, ich dachte, Sie machen sich nichts mehr aus mir.«

»Versteh ich nicht.«

»Na, sonst hätten Sie doch sicher versucht …«

Grimsby brachte es fertig, zu lächeln.

»Ach, deswegen, meinst du! Nein, nein, das hat ganz andere Gründe.«

»Welche denn?«

»Du bist mir einfach zu jung. Und zu schade«, sagte er. »Außerdem hast du einen Freund.«

Nicky kam langsam auf ihn zu, blieb dicht vor ihm stehen, hob sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen raschen Kuss auf die Wange.

»Das ist nett von Ihnen. Wirklich! Ich mag Sie.«

»Freut mich«, brummte Grimsby. »Ich mag dich nämlich auch.«

Zu zweit zwängten sie sich durch die Büsche und kehrten zurück zum Weg. Grimsby warf einen Blick nach rechts, einen Blick nach links. Es gab keinen Menschen, der ihm hinderlich sein konnte.

»Lass uns da vorne herumgehen«, sagte er.

»Aber warum? Wenn wir den Weg hier hinuntergehen, sind wir viel schneller da.«

»Es ist noch früh. Kommt doch auf zehn Minuten nicht an. Oder?«

Sie gab nach.

Nebeneinanderher gingen sie auf die Stelle zu, die Grimsby liebte wie keine andere hier auf den Kreidefelsen. Auf die Stelle, an der er am gleichen Tag, nur wenige Stunden zuvor, bäuchlings gelegen und in die Tiefe gestarrt hatte.

Dorthin, wo der nadelspitze Felsen emporragte.

»Der Weg geht aber hier rechts weiter«, sagte Nicky.

»Wenn schon. Da vorne kann man auch langgehen.«

»So dicht am Rand?«

Er lachte.

»Du hast doch keine Angst? Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Ich kenne hier jeden Fleck.«

»Sie kommen oft her, nicht?«

»Ja, sehr oft.«

»Ich auch«, sagte sie. »Aber wir wohnen noch nicht lange in Eastbourne.«

»Hab ich mir gedacht«, sagte Grimsby. »Sonst hätte ich dich schon früher gesehen.«

Jetzt hatten sie die Stelle erreicht. Grimsby blieb stehen. Nicky auch. Sie sah ihn fragend an.

»Setzen wir uns«, sagte er.

»Warum?«

»Setz dich!«

Sie gehorchte. Plötzlich hatte sie Angst. Aber da setzte Grimsby sich neben sie, legte einen Arm um ihre Schulter und lächelte sie an.

»Du bist wirklich ein nettes Mädchen.«

»Ich hab richtig Angst gehabt«, sagte sie atemlos. »Vor Ihnen! Weil Sie mich so angeherrscht haben.«

»Mach dir nichts draus. Vergiss es.«

»Was soll das?«, fragte sie, als er begann, sie wieder auszuziehen.

»Vorhin hast du doch darauf gewartet.«

»Worauf?«

»Dass ich's tue.«

»Was?«

»Dass ich mit dir schlafe.«

Sie widersprach. Aber je mehr sie widersprach, desto weniger Wirkung schien das auf Grimsby zu haben. Natürlich hätte sie sich wehren können. Aber dazu kam sie gar nicht. Bevor's ihr einfiel, war sie fast nackt. Wie drüben auf dem kleinen Hügel trug sie auch jetzt nur noch ihre spärliche Wäsche.

Grimsby griff nach dem BH-Verschluss.

»Bitte nicht!«, sagte sie. »Nicht hier!«

»Warum nicht hier?«

»Es ist schon spät. Und es ist kalt. Ich friere.«

»Nicht mehr lange«, sagte Grimsby.

»Ich werde mich erkälten.«

»Das spielt keine Rolle.«

»Wieso?«, fragte Nicky empört. »Wieso spielt das keine Rolle, wenn ich mich erkälte?«

»Es spielt keine Rolle mehr«, sagte Grimsby freundlich.

In diesem Augenblick begriff Nicky, dass sie sich in den Händen ihres Mörders befand.

Sie wollte schreien. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber da war Grimsbys große Hand, die hielt ihren Mund zu, und niemand hörte den Schrei, der in ihrer Kehle erstickte.

Mit der freien Hand fetzte er den BH zur Seite. Mit funkelnden Blicken betrachtete er die nackten Brüste. Dann kam der Slip an die Reihe. Auch er riss unter dem harten Griff.

Grimsby hielt das nackte Mädchen in den Armen. Seine Finger betasteten den jungen, festen Körper. Als er merkte, dass Nicky zu ersticken drohte, lockerte er den Griff.

Tief saugte sie die Luft in ihre Lungen.

»Versuch nicht wieder zu schreien!«

Ängstlich schüttelte sie den Kopf. Versuchte es tatsächlich nicht. Welchen Sinn hätte es gehabt?

»Warum?«, keuchte sie. »Was hab ich denn getan?«

»Gar nichts«, sagte Grimsby. »Du hast nichts getan. Und ich hab dir auch nichts getan. Ich konnte dir gar nichts tun. Wenn ich gekonnt hätte …«

Er robbte näher zum Abgrund. Einen Arm hatte er um Nickys Körper geschlungen und zog sie mit sich.

»Nicht!«, schrie sie. »Wir fallen hinunter! Wir stürzen ab!«

»Wir werden nicht abstürzen«, sagte Grimsby. »Glaub mir, ich kenne mich hier wirklich besser aus als irgendein anderer.«

Unter seinem Blick wurde sie ganz starr. Alle möglichen Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie wollte ihn anflehen. Sie wollte ihm Versprechungen machen. Sie wollte bitten und betteln. Um ihr Leben. Aber sie brachte keinen Ton heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Gedanken bewegten sich im Kreis. Hilflos.

Ich darf es nicht zu lange hinauszögern, dachte Grimsby. Auch wenn ich das möchte. Ich darf nicht. Das Risiko ist zu groß. Schließlich kommt doch jemand in der Nähe vorbei, ich passe ein paar Sekunden nicht auf, sie schreit - und schon ist es passiert.

Er zog sie mit einem Ruck näher zum Abgrund. Sie lag schräg vor ihm, wimmerte, zitterte, krallte sich an seinen Arm.

»Das nutzt nichts, Kindchen«, sagte er fast zärtlich. »Es hat keinen Zweck. Du machst es dir nur selbst schwer.«

Noch einmal liebkoste er ihren nackten Körper mit seinem Blick.

Dann stieß er sie über den Abgrund.

Im gleichen Moment schob er sich nach vorne, sodass sein halber Oberkörper hinausragte. Er sah sie fallen. Sie fiel genau auf den nadelspitzen Felsen zu.

Grimsby sah's mit angehaltenem Atem und weit aufgerissenen Augen.

Jetzt! Jetzt musste sie von der Spitze aufgespießt werden!

Enttäuscht atmete er aus. Sie war haarscharf vorbeigefallen. Seine Enttäuschung verflog so schnell, wie sie aufgekommen war.

Nickys markerschütternder Schrei gellte durch die Dämmerung. Fast im gleichen Moment zerschmetterte ihr schlanker Körper am Fuß des Kreidefelsens, am Rand des Wassers.

Grimsby warf sich herum. Er hatte seine Hose aufgerissen. Eine Hand war darin verschwunden. Alles dauerte nur Sekunden. Er bäumte sich auf, stöhnte, fiel dann in sich zusammen und blieb wie tot liegen.

Aber auch dieser Zustand währte nicht lange.

Als er sich eine knappe Minute später erhob, atmete er zwar noch heftig, aber seine Bewegungen waren ruhig und kontrolliert.

Er sammelte Nickys Kleider zusammen, machte ein Bündel daraus und warf's hinter dem Mädchen her. Dann kehrte er zu seinem Wagen in der Nähe von Eastbourne zurück.

»Dr. Morton kann sich wieder auf mich verlassen«, murmelte er, als er den Motor startete.

 

*

 

Nachdem Dr. Glenn Morton zwei volle Tage in London in seiner Praxis in der Harley Street und in seiner luxuriösen Wohnung am Grosvenor Square verbracht hatte, kehrte er nach Brighton zurück. Er besaß auch hier ein weitläufiges Wohnhaus, Lannix-Manor, etwas außerhalb des Badeorts, aber sein Weg führte direkt zur Klinik.

Nachdem er das Notwendigste mit verschiedenen ärztlichen Mitarbeitern sowie mit Schwester Barrington besprochen hatte, klingelte er nach Grimsby.

Wie gewohnt kam der sofort.

»Was gibt's Neues?«

»Nichts Wesentliches, Sir.«

Morton lehnte sich in seinem bequemen Ledersessel zurück und schlug die Beine übereinander. Er starrte Grimsby an.

»Sie fühlen sich wieder in Ordnung?«

»Danke, Sir. Völlig.«

»Ich mache mir Sorgen.«

»Worüber, Sir?«

»Über Miss Knowles.«

»Ich verstehe, Sir. Wegen der Geschichte mit Stone.«

»Ganz recht. Haben Sie Miss Knowles beobachtet, während ich nicht da war?«

»Selbstverständlich, Sir.«

»Wie hat sie sich benommen?«