CHET WILLIAMSON

 

The Crow -

Stadt der Engel

 

 

 

 

Roman

 

 

Apex Horror, Band 25

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

THE CROW – STADT DER ENGEL 

 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel  

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

 

Das Buch

 

 

Los Angeles, die Stadt der Finsternis.

Los Angeles, die Stadt der Engel.

Eingehüllt in immerwährende Dunkelheit herrschen in ihren Straßen Gewalt und Anarchie. Drogenbarone kontrollieren alles Leben – und Sterben. Als sie wieder ihrem blutigen Handwerk nachgehen, werden der Mechaniker Ashe Corven und sein kleiner Sohn Danny zu unfreiwilligen Zeugen. Und sie müssen dafür auf grausame Weise mit ihrem Leben bezahlen...

Doch Ashes ruhelose Seele erwacht von den Toten. Er will Rache und ist zurückgekehrt, um die Mörder zu jagen. Zusammen mit seiner irdischen Begleiterin und einer schwarzen Krähe mit magischen Kräften begibt sich Ashe auf die Suche – und er hat nichts zu verlieren...

 

Der Roman The Crow – Stadt der Engel aus der Feder des US-amerikanischen Autors Chet Williamson ist der Roman zum Film The Crow: City Of Angels (1996, Regie: Tim Pope), der Fortsetzung zu The Crow (1994, Regie: Alex Proyas) und erscheint als Neuausgabe in der Reihe APEX HORROR.  

In Deutschland lief der Film unter dem Titel The Crow: Die Rache der Krähe – in den Hauptrollen: Vincent Perez als Ashe Corven, Mia Kirshner als Sarah, Richard Brooks als Judah Earl und Iggy Pop als Curve. 

THE CROW – STADT DER ENGEL

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Die Stadt gehört der Nacht; vielleicht sogar dem Tod, gewiss aber gehört sie der Nacht...«

 

- James Thomson, The City Of Dreadful Night 

 

 

 

Aus Sarahs Tagebuch -

Ich glaube, es gibt einen Ort, an dem die ruhelosen Seelen umherwandern. Weil sie die Bürde ihrer eigenen Traurigkeit tragen, ist ihnen der Einlass zum Himmel verwehrt. 

Und so warten sie, gefangen zwischen unserer Welt und der nächsten, unablässig auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich vom Schmerz zu befreien - in der Hoffnung, dass sie irgendwie, irgendwann wieder mit denen vereint sind, die sie lieben. 

Ich glaube fest daran, dass dies die Wahrheit ist, denn ich habe es erlebt... 

 

Es gibt ein Land...

Es gibt ein Land, das den Lebenden unbekannt ist. Das ist ein Land, wo der Nebel wie ein Meer aus Tränen in der Luft hängt und sich in eine große Wolke aus Schmerz und Trauer verwandelt, die ebenso undurchdringlich wie unüberwindbar erscheint.

Nichts sonst existiert in diesem Land. Weder Hügel noch Täler lockern die karge Landschaft auf. In der feuchten Erde wachsen keine Bäume. Nichts gedeiht dort, nur die Traurigkeit.

Durch dieses ursprüngliche Reich der Schatten fliegt ein Vogel. Eine Krähe, mit Federn schwarz wie die Nacht, so schwarz, dass man meinen könnte, dass alles Licht, das den Vogel umgibt, vom sanften Glanz seines Gefieders geschluckt wird und er in diesem geraubten Licht leuchtet. Seine Augen sind von einem goldenen Braun, der Farbe eben abgestorbener Blätter, der Farbe der Reue, der Farbe längst verblichener Hoffnung und geplatzter Träume. Der Schnabel und die Krallen des Vogels funkeln kalt und tödlich wie harter Stahl.

Aber noch etwas anderes hält sich in diesem lieblosen Land auf. Es hat die Gestalt eines Kriegers zu Pferde. Das Ross galoppiert durch den undurchdringlichen Nebel, als wisse es, dass nur die in der Luft hängenden Tränen sein Fortkommen verhindern können. Es bewegt sich lautlos. Kein Schaum tropft aus seinem Mund, sein Brustkorb hebt und senkt sich nicht, seine Nüstern verharren unbewegt. Das Pferd scheint unermessliche Kraft zu haben. Seine Läufe, wie verschwommene schwarze Punkte im Nebel, sind kraftvolle Maschinen, die das Tier samt seinem Reiter weitertreiben.

Die unheilvollen Augen jenes Reiters glitzern in einem Gesicht, das einer Maske gleicht. Einer Maske aus weißer Kreide, die die gelben Knochen übertüncht, akzentuiert von schwarzer Farbe, die den grimmigen Mund hervorhebt, die die Mundwinkel nach oben zieht und somit ein falsches Lächeln auf die Lippen malt, in einem Land, wo das Lächeln fremd ist.

Auch die Augen sind in Schwarz getaucht. Ein breiter Streifen Schwarz zieht sich von den Brauen über die Wangen, ein dunkler Striemen, der wie durch ein Wunder die Augen ausspart. Es ist so, als tropfe eine ebenholzfarbene Träne aus der Mitte der beiden Augen und stiege nach oben.

Das ist die Maske des Gelächters und der Verzweiflung, ein Gesicht voller Schmerz und bitterer Ironie.

Pferd und Reiter dringen durch den Nebel und scheinen niemals ihr Ziel zu erreichen, falls sie überhaupt eins haben sollten. Über ihnen zieht die Krähe ihre Kreise, mit einem Gefieder aus strahlender Dunkelheit, mit einem Federkleid aus dunklem Licht, aus Schmerz...

Und aus Hoffnung.

 

Curve sah, wie die Krähe auf dem Schiffscontainer landete. Ein verdammt hässlicher Vogel und gerade mal zwanzig Meter entfernt. Am liebsten hätte er seine Knarre rausgeholt und das Tier in einer Wolke aus Federn und Blut erledigt, wenn seine Hände nicht gerade mit etwas anderem beschäftigt gewesen wären.

Er senkte den Blick und grinste über den grellen Aufdruck auf dem Zellophan-Tütchen, das er gerade aufriss. »Tag, kleiner Scheißer«, murmelte er dem Zeichentrickkobold zu, der ihm mit fröhlich erhobenen Daumen und einem gemeinen Grinsen entgegenblickte. So ist es richtig, Kinder, schien der Kobold zu sagen. Nun werden wir eine Menge Spaß haben.

Trinity – die Dreieinigkeit. Die gnadenlos beste Droge nach Einschätzung von Curves kaputtem und vernebeltem Erinnerungsvermögen. Vater, Sohn und heilige Scheiße und eine einzige riesige Bombe fürs Gehirn, alles in einem. Riss einem die Schädeldecke weg, damit die Engel reinfliegen, einen kosmischen Kreis ziehen und wieder verschwinden konnten.

Curve atmete tief und lange durch. Er brauchte eine freie Nase, damit er Trinity reinziehen und sein Hirn in dieses grelle Nirwana jagen konnte, das die Kombination aus der Droge und seinem eh schon abgedrehten Verstand erschuf.

Die Nacht und die Docks waren nicht gerade geeignet, seine Nase freizubekommen. Zusammen mit der Luft sog er eine hübsche, ungesunde Dosis Gift ein. An der Stelle, wo der Fluss ins Meer mündete, gab es ebenso viel Müll und Abfall wie Wasser. Die ganze verfluchte Stadt der Engel war mit Chemikalien und Nebenprodukten und anderem Mist verseucht, dessen Namen er nicht mal aussprechen konnte. Und sie war mit ihm verseucht.

Ja, Curve war Teil der Verseuchung und stolz darauf. Er sorgte dafür, dass er fest im Sattel seines Choppers saß, damit der Rausch ihn nicht umnietete. Dann neigte er den Kopf, drückte die Nase in die Zellophan-Tüte und zog sich das Zeug wie ein Hochleistungsstaubsauger rein. Er schniefte so fest, dass sich die Wände des Zellophan-Tütchens zusammenzogen.

Badda-bing, badda-bang, badda-Wow! 

In der Tat, die Glocken läuteten, und die Sirenen jaulten, und Trinity riss ihm den Schädel auf wie eine Stripperin, die ihr Höschen vom Hintern reißt. Dann schob Trinity mit seinem Hirn seine Nummer, und es kam an die zwanzig- oder dreißigmal, bis die Engel mit ihm fertig waren und wegflogen.

Aber die Krähe war immer noch da. Saß immer noch an der gleichen Stelle, ein großer, hässlicher Vogel auf einem großen, hässlichen Dock in der größten und hässlichsten und miesesten Stadt der Welt. Das schwarze Mistvieh beobachtete etwas, und als Curve wissen wollte, was das Tier sah, fiel ihm ein, dass er sich selbst ja auch auf diesem Stinkloch von Dock aufhielt.

Licht blendete seine Augen, und zuerst glaubte er, die schwarzen Engel kehrten zurück, aber dann bemerkte er, dass das nur das Licht von Nemos Camcorder war. Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel, um sich zu versichern, dass sein Hirn nicht den Elementen preisgegeben war. Das Gefühl seiner langen blonden Haare unter seinem Handteller beruhigte ihn, und er zündete sich eine Zigarette an. Tabak schmeckte besser, wenn er auf Trinity war. Scheiße, mit Trinity war alles besser.

Er stieg von seinem Motorrad und betrachtete wieder voller Bewunderung die Speziallackierung auf seinem tropfenförmigen Benzintank. Eine Frau mit den größten Titten, die man sich vorstellen konnte, trieb es wild mit dem Sensenmann, dem Tod selbst, und sie genoss es auch noch. Am Ende fickt der Tod jeden von uns, schoss es Curve durch den Kopf. Darum wäre es gar nicht schlecht, wenn wir den Hundesohn vorher mal kennenlernen würden.

Er schaute zum Ende des Piers zurück, das nur ein paar Meter entfernt lag. Nemo war wieder mal richtig drauf, tanzte mit seiner Kamera um den Typen und seinen Sohn herum, nahm das kleinste Zucken in ihren Gesichtern auf, fing jede Regung von Angst mit der Videokamera ein. Der alte Schleimbeutel stand auf Zuschauen. Curve war der festen Überzeugung, dass - falls man Nemo vor die Wahl stellte, es mit einer Braut zu treiben oder ihr nur zuzusehen - er sich immer fürs Zuschauen entschied und sich dabei lieber einen runterholte. Wenn er nicht gerade für Judah arbeitete, verbrachte er seine Zeit fast ausschließlich damit, Münzen in die klebrigen Schlitze des Peep-O-Rama zu schmeißen. Wenn er heute Nacht in seiner Bude war, würde er sich sicherlich das Video, das er gerade aufzeichnete, ansehen und es sich dabei besorgen.

»Kamera!«, brüllte Nemo, während er hektisch um Vater und Sohn lief. Der Mann war Ende Zwanzig und der Junge vielleicht acht oder zehn. Wenn es darum ging, das Alter von Kindern zu schätzen, versagte Curve auf der ganzen Linie. Er hatte sich alle Mühe gegeben, seine eigene Kindheit zu vergessen. Die war absolut beschissen gewesen, ein Alptraum aus Schlägen, Verbrennungen und noch schlimmeren Dingen.

Was war so heilig an der Kindheit? Die war keinen Deut anders und genauso grausam wie das Dasein der Erwachsenen. Soweit es Curve betraf, blieb einem nichts erspart, nur weil man ein Kind war. Kinder waren nichts Besonderes. Zum Teufel, in der Stadt der Engel war jeder - mit Ausnahme von Judahs Leuten - ein Opfer, und Kinder waren einfach kurz gewachsenere Opfer, das war alles. Das Gute an ihnen war, dass sie leichter als Erwachsene starben.

»Action!«, brüllte Nemo. Mit fliegenden Haaren umkreiste er das Paar. »Action, action, action!«

»Was erwartest du von ihnen, sollen sie anfangen zu tanzen?«, fragte Spider Monkey trocken. Womit er nicht Unrecht hatte. Der Mann und sein Sohn waren am Ende des Piers. Vatis rechter Arm war unter Sohnemanns linken geschoben, und man hatte ihnen die Arme auf den Rücken gebunden. Seite an Seite knieten sie auf den rauen, verwitterten Planken. Sie tanzten nicht, sie rannten nicht weg. Sie würden nichts tun, als zu sterben.

Und heulen. Wenigstens der Junge. »Es tut mir leid, Dad«, hörte Curve ihn jammern. »Es tut mir leid... ich hätte nicht hinschauen sollen...«

»Ist schon gut, Danny«, sagte der Vater. »Ist schon gut.« Aber es war nicht gut. Überhaupt nichts war gut, und der große Papi wusste das auch, egal, wie sehr er sich bemühte, den kleinen Danny zu beruhigen.

Danny. Typischer Jungenname, auch wenn ihm das nicht mehr half. Der kleine Danny hatte bei Kali nichts zu gewinnen, soviel war mal sicher. Die Augen dieser Hexe waren so kalt wie das Metall, aus dem ihre Garderobe zu sechzig Prozent bestand. Hartes Metall, hartes Herz, das war Kali. Sie stand einfach nur da und beobachtete die Angst der beiden, suhlte sich in ihr und wartete auf den besten Teil, der erst noch kommen sollte. Sie lächelte nicht, aber sie stand drauf, daran gab es keinen Zweifel.

Curve sah das zufriedene Funkeln in ihren Augen, als Nemo dem Vater einen harten Schlag ins Gesicht verpasste. »Makeup!«, brüllte er und schlug wieder zu. »Wir brauchen für die Nahaufnahmen ein bisschen Farbe in den Gesichtern!« Als Nemo grinste, kamen seine schwarzverfärbten Zähne zum Vorschein. Jesus, dachte Curve, bei all der Kohle, die Nemo bei Judah absahnte, hätte man eigentlich meinen müssen, er ließe sich mal die Zähne richten. Vielleicht lag es daran, dass er nie eine echte Braut abkriegte.

Dann schlug Nemo dem Jungen ins Gesicht, nicht so fest wie dem Vater, aber fest genug, dass der Kopf des Kleinen nach hinten flog. »Hör auf!«, rief der Vater. »Lass ihn in Ruhe, du Hurensohn!«

Der alte Papi hatte eine Menge Mumm. Schließlich war er nicht gerade in der Position, Forderungen zu stellen. Wie hieß er noch gleich? Curve überlegte einen Moment, und dann wusste er den Namen wieder, trotz seines von Trinity vernebelten Hirns.

Corven. Ashe Corven. Ziemlich abgefahrener Name. Aber eigentlich auch nicht abgefahrener als Curve und Kali und Spider Monkey, fand er. Natürlich hatten sie sich ihre Namen selbst ausgesucht. Die stammten nicht von irgend so einer Schlampe von Mutter. Ashe. Ja, Ashe war ein Asheloch, der bald Asche zu Asche wurde.

»Hast du mir was zu sagen, Mann?«, fragte Nemo Ashe Corven und schlug dann wieder den Jungen, diesmal allerdings fester, mit dem Handrücken. »Ich sagte Make-up!«, brüllte Nemo so laut, bis Spuckeperlen auf Corvens Gesicht glitzerten.

Der Junge begann in einer Sprache zu beten, die Curve nicht verstand. Konnte nur Latein sein.

»Haste das in der katholischen Schule gelernt, Kleiner?«, fragte Spider Monkey, kniete sich neben das gefesselte Pärchen und hielt dem Jungen eine Ringelblume vor die Nase, als wolle er ihn einladen, daran zu schnuppern. Wenn man seine lange, dürre Gestalt betrachtete, konnte man meinen, er wäre leicht flachzulegen, aber Spider Monkey bestand nur aus harten, sehnigen Muskeln. »Du verschwendest deine Zeit, angelito. Dort oben gibt es niemanden, der dir zuhört.«

»Vielleicht sollte er zum Sankt Lukas beten«, schlug Nemo vor. Immer noch durch die Kameralinse schauend, war er permanent in Bewegung, um ja alles einzufangen.

»Halt’s Maul, Mann«, riet Spider Monkey ihm. »Du hast doch keinen Schimmer. Es ist San Lucas - La Noche de San Lucas. «

Spider Monkey hatte Recht. Der 29. Oktober. La Noche de San Lucas. Curve wusste nicht, was das bedeutete - für ihn war dieses Datum nichts weiter als ein paar Nächte vor dem »Day of the Dead«, Allerheiligen, dem Tag der Toten. Andererseits war auch dieser Tag nichts Besonderes. Wenn man für Judah Earl arbeitete, war jeder Tag ein Tag der Toten.

Trotzdem schien Spider Monkey diesen religiösen Mist manchmal halb ernst zu nehmen, und nun hielt er seine Ringelblume Ashe Corven vors Gesicht. Das Gelborange der Blüte brachte das schlammbraune Dock für einen Moment zum Strahlen. »Blumen für die Toten, Senor?«, fragte Spider Monkey beinahe sanftmütig.

Corven starrte ihn nur an. Im Blick des Mannes lag eine Menge Haß. Er war entweder sehr tapfer oder sehr blöde. Oder vielleicht war er auch nur einfach realistisch. Möglicherweise wusste er, was kam, und sah an diesem Punkt keinen Grund mehr, jemandem in den Arsch zu kriechen.

»Nein?«, sagte Spider Monkey. Auf seinem langen Gesicht machte sich gespielte Traurigkeit breit. »Na dann - ganz wie es dir beliebt.« Spider Monkey betrachtete die Blume, steckte sie hinter das rechte Ohr und stand auf.

Curve sniffte noch einmal, tupfte die Überreste des weißen Pulvers von der Nase und rieb es auf das Zahnfleisch. Jetzt war es an der Zeit. Jeder hatte seinen Spaß gehabt. Er stellte sich neben Kali. »Lass es uns zu Ende bringen«, sagte er. »Judah wartet auf uns.«

Gemächlich nahm Kali ihren Revolver heraus und begann, ihn zu laden. Das war für Kali das Vorspiel. Sie legte jede einzelne Patrone so methodisch und gewissenhaft ein, als handle es sich um scharfe Granaten. Diese Hexe. Sie ließ sich alle Zeit der Welt und spuckte Curve in die Augen. Das gefiel dem Mann nicht. Aber er sollte verdammt sein, falls er ihr die Genugtuung gab und zeigte, dass er angepisst war. Genauso ausdruckslos wie Kali wartete er ab.

Das schien Stunden zu dauern, aber wahrscheinlich spielte Trinity seinem Zeitempfinden einfach nur einen Streich.

Schließlich machte sie eine kurze Drehung mit dem Handgelenk, und er hörte das hohle Kläcken des Zylinders, der einrastete. Ganz langsam ging Kali zu Ashe Corven und seinem Jungen rüber. Sie bewegte sich genauso vorsichtig und bedrohlich böse wie die Göttin des Todes, deren Namen sie gestohlen hatte.

Der Junge, Danny, hörte auf zu beten. Er ließ die näherkommende Kali nicht aus den Augen. »Ich habe Angst, Dad«, flüsterte er.

»Ich weiß«, sagte Ashe Corven. Curve fand, dass er sich bemühte, tapfer zu klingen. Aber Corvens Stimme brach, seine Miene wurde weicher, und Curve sah Furcht in dieses Gesicht kriechen. Furcht um seinen Sohn, nicht um sein eigenes Schicksal. Curve wusste, was jetzt kam. Jetzt war die Zeit gekommen, wo das Bitten losging.

»Hören Sie«, sagte Corven. »Bitte! Er ist nur ein kleiner Junge. Lassen Sie ihn gehen, er kann Ihnen doch nichts anhaben! Er weiß ja nicht mal, wer Sie sind. Töten Sie mich, aber bitte, tun Sie...«

...meinem Sohn nicht weh! Ja, dachte Curve. Das hätte er wohl als nächstes gesagt, wenn Kali nicht ihren Revolver hochgerissen und dem kleinen Danny eine Kugel in seinen Brustkorb verpasst hätte.

 

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

 

Krähe: Ein großer schwarzer Vogel, der sich von Tierkadavern ernährt.

 

- Johnson’s Lexikon

 

 

 

»Neiiiiin!«

Der Schrei kam von ganz tief drinnen, aus einem bis dahin unbekannten Land auf der Karte seiner Seele. Während sich sein Herz wie eine dicke rote Faust zusammenkrampfte, schrie er. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Er hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, hatte aber nicht geglaubt, dass es ihn mit solcher Macht übermannen würde.

Er wusste, dass er sterben würde, dass sie wahrscheinlich beide sterben mussten wegen dem, was sie gesehen hatten. Aber all die Einbildungskraft, all die Ängste, all die Tode, gestorben vor dem eigentlichen Tod, hatten ihn nicht auf das hier vorbereitet. Es gab keine Vorbereitung darauf, dass das strahlendste Licht im Leben eines Mannes ausgelöscht wurde. Mit dieser völligen Dunkelheit, mit diesem bodenlosen Abgrund hatte er nicht gerechnet. Er hatte nicht gewusst, dass man für immer und ewig in totaler Dunkelheit versinken konnte, und gleichzeitig wusste er, dass das seine Bestimmung war.

Als Danny zurückfiel, war Ashe mit ihm gefallen, hatte sich verdreht, so dass der blutige Brustkorb seines Sohnes auf seinem eigenen landete, und Dannys Augen nur wenige Zentimeter von seinen eigenen entfernt waren. Er sah zu, wie das Leben aus ihnen floh, und konnte nichts unternehmen, um es zurückzuholen, konnte nicht den Tod zu sich hinüberziehen, denn der Tod war gierig. Er wollte sie beide.

Irgendetwas, der Funken eines orangenen Lichtes, sauste über Ashes Kopf hinweg, und einen Augenblick lang glaubte er, dass das Dannys Seele war, die aus seinem Körper fuhr. Aber

das zornige Zischen verriet ihm, dass es sich nur um einen Zigarettenstummel handelte, der ins faulige Wasser fiel, dort, wo der Fluss in die See mündete, weggeschnippt von dem, den sie Curve nannten. Der Styx. Fluss der Toten. Tot.

Tot.

»Nichts Persönliches, Kumpel«, hörte er Curves heisere Stimme sagen. »Denke, du warst einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Dann kamen die Schüsse. Er hörte sie ganz deutlich, drei Schüsse. Er spürte sie auch, alle drei Kugeln, wie sie sich in seinen Rücken bohrten. Er spürte, wie seine Haut aufriss, seine Knochen splitterten, sein Herz und seine Lunge zerfetzt wurden, wie Blut und Luft in ihn reinströmte und wieder raus. Er spürte, wie der Druck in seinem Kopf zunahm, als das Blut in seinen Ohren rauschte, in seinem Kopf und ihn ertränkte. Der Schmerz dauerte ewig. War überall und unendlich, sowohl der Schmerz des Todes als auch der größere Schmerz des Verlustes.

Von irgendwo hoch oben, ganz oben, hörte er eine Stimme. Zuerst glaubte er, Gott zu hören, aber dann begriff er, dass er sich irrte, als die Worte in seinem Kopf eine Bedeutung erhielten, Sinn machten.

Schmeißt sie rein. Und dann lasst uns abhauen.

Er fühlte, was in seinem Körper an Gefühl übriggeblieben war, spürte, wie er an Danny gepresst wurde. Einen Moment lang spürte er, wie er sich drehte, herumrollte, sich bog, und dann war da wieder die Stimme:

Bon voyage, Arschlöcher...

Er fiel. Schien ewig zu fallen. Seine geöffneten Augen ruhten auf dem toten Gesicht seines geliebten Sohnes (der mir so große Freude bereitet hat), hinter ihm der dunkle, vergiftete Himmel, gegen den sich etwas noch Dunkleres abzeichnete, und Gestalten, Körper mit Köpfen und Schultern, die denjenigen gehörten, die das getan, die ihn getötet hatten.

Die Danny getötet hatten.

Dann landete er im Wasser, aber nicht mit einem Knall, sondern ganz weich. Weiche, kalte Arme schlangen sich um ihn und zogen ihn sanft nach unten. Das Licht verblasste, und als er an dem toten Danny vorbeischaute und die Welt betrachtete, war ihm, als blicke er durch eine beschlagene Glasscheibe, die zunehmend dicker wurde, bis sie alles Licht verbannte. Ashes einzige Bewegung war nun im Gleichklang mit den Gezeiten des schmutzigen Gewässers. Wie eine weit entfernte Trommel konnte er noch das Schlagen seines Herzens hören, das sich bemühte, die neuen Öffnungen mit Blut zu versiegeln. Ja, er hörte sein Herz, das versuchte sich zu retten, indem es Ashes Lebenselixier verschwendete.

In der stygischen Dunkelheit, als das Schlagen langsamer wurde, um schließlich ganz zu verstummen, sah Ashe sein Blut, sein Leben nach oben treiben, weg von ihm, sich wie eine Wolke über ihm ausbreiten, wie eine Decke, wie die Schwingen eines Engels...

...oder die Schwingen eines großen Vogels.

 

Im brackigen Wasser stieg die Krähe nach oben, auf einer Strömung treibend, stieg so sanft auf, wie Ashe mit seinem Sohn in die Tiefe sank, bis sie durch die schwarze Oberfläche brach, mit einem Triumphschrei in die Luft stieß, das Wasser wie eine abgelegte Haut, wie vergebene Sünden abstreifend.

Der Vogel kam aus dem dreckigen Wasser und flog durch die dreckige Luft, hoch über der Stadt, vorbei an ausgefransten Rauchwolken, die wie eine Armee kranker Geister über den Häusern schwebten. Die Krähe ließ sich von den Luftströmungen über der Stadt der Engel treiben, einem urbanen Schandfleck, eingekesselt von Feuer, von Flut und von Erdbeben. Die Lichter, die unten auf dem Boden so hell und kühn wirkten, waren in den goldbraunen Augen der Krähe blass und wirkungslos.

Die Krähe flog über die Brücke, die sich über den Styx spannte. Diesen Fluss hatten Menschen geschaffen. Zuerst voller Stolz und dann angetrieben durch die Gier jener, die in der Stadt der Engel herrschten. Dieselbe Gier hatte die Stadt noch effizienter und rücksichtsloser verschandelt.

Hinter der Brücke ging die Krähe runter. Hinunter in die Höhlen aus Beton und Glas, die von Taubenscheiße und Industrieschmutz überzogen waren. Die unruhigen Suchscheinwerfer der Polizeihubschrauber hüpften über vom Menschen erschaffene Schluchten, immer auf der Suche, aber selten erfolgreich.

Doch die Augen der Krähe sahen alles: die Autowracks, die wie Insektenkadaver die Straßen in Müllhalden verwandelten, die Obdachlosen, die in oder unter ihnen Schutz suchten. Sie sah die Verrückten und die Ängstlichen, die, die sich unbeholfen bewegten und zu Opfern wurden, und die menschlichen Raubtiere, die Grausamen, deren Seelen bereits vor Jahren verkümmert waren. Die Krähe sah jene, die vor Angst und Verzweiflung keinen Schlaf fanden und jene, die trotz ihres Schmerzes schliefen.

Die Krähe sah Sarah.

 

Aus Sarahs Tagebuch -

Es heißt, die Zeit würde alle Wunden heilen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Vor acht Jahren verlor ich zwei meiner besten Freunde. Zweitausend Meilen weiter muss ich erkennen, dass ich immer noch in der Vergangenheit lebe.

Jede Nacht, wenn ich die Augen schließe, suchen mich Träume heim. Durch Träume wenden sich die Toten an uns, vermute ich. In der Dunkelheit, wenn unsere Seelen wandern.

Ich wünschte nur, ich verstünde, was sie mir zu sagen haben.

 

Sarah war gerade mitten in einem Traum, als die Krähe auf dem Fensterbrett landete und durch die Öffnung in den Raum spähte. Ihre kleinen, stechenden Augen sahen eine attraktive Frau in einem zerwühlten Bett liegen. Obwohl sie erst Anfang Zwanzig war, hatten weitaus mehr Jahre Spuren in ihrem sorgenvollen Gesicht hinterlassen. In ihrem bisherigen Leben hatte sie eine Menge Kämpfe überlebt und gewonnen, aber die Auseinandersetzungen hatten einen beachtlichen Tribut gefordert.

Jetzt, in ihren Träumen, kämpfte sie eine andere Schlacht. Sie wollte verstehen, was sie sah, aber nicht hören konnte. Sie sah Eric und Shelly wieder, ihre Freunde aus vergangener Zeit, aus jenen Tagen, als sie noch ein Kind gewesen war und Freunde dringend gebraucht hatte. Sie schauten sie an, genau wie an jenem letzten Tag, an dem Sarah sie gesehen hatte, in der »Devil’s Night«, der Nacht der Teufel, kurz bevor Top Dollars Bande die beiden umbrachte.

In ihrem Traum waren Eric und Shelly wieder glücklich, lebten in Frieden und zusammen an einem wunderschönen Ort, auf den Sarah nur einen kurzen Blick werfen konnte. Aber obwohl sie sicher war, dass die beiden einander genügten, dort, in jenem Land zwischen Leben und Tod, spürte sie auch, dass sie ihr etwas zu sagen versuchten. Sie bewegten die Lippen, aber sie verstand die Worte nicht. Und als sie gestikulierten, hatte Sarah den Eindruck, sie befänden sich unter Wasser.

Im Traum ist man immer unter Wasser, dachte sie und versuchte, sich ihnen zu nähern. Aber das war geradeso, als ob sie sich in Gelee fortbewegte; sie konnte sich nicht bewegen, sondern nur reglos dastehen, mit dem Wissen, dass die anderen ihr etwas Wichtiges zu sagen hatten. Weil sie sie nicht verstehen konnte, kam sie sich unglaublich dumm vor.

Dann schien Eric etwas hinter ihr anzustarren, und plötzlich streckte er die Hand aus und zeigte mit dem Finger auf etwas, als wäre sie in der Lage, das Rätsel zu lösen, wenn sie nur in die angezeigte Richtung blickte.

In ihrer Wohnung schlug sie die Lider auf, und bevor sie sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, bewegte sich etwas an ihrem Fenster, stieg auf und tauchte in der Nacht unter. Sie meinte, das leise Schlagen von Schwingen gehört zu haben, konnte aber in der undurchdringlichen Dunkelheit nichts erkennen.

Die Krähe, kam es ihr in den Sinn.

Zuerst träumte sie von Eric, und dann sah sie auch noch die Krähe. Das war bestimmt kein Zufall. Eric hatte wahrscheinlich auf die Krähe gezeigt, oder nicht?

Oder ist die Krähe gar nicht dagewesen, fragte sie sich. Habe ich das auch geträumt?

Mit der Krähe hatte alles angefangen, damals vor acht Jahren. Sie hatte bewirkt, dass Eric ins Leben zurückkehrte, hatte ihn aus dem Grab geholt, wieder lebendig und nahezu unbezwingbar gemacht. Mit Top Dollars Leuten war noch eine Rechnung offen gewesen, und Eric hatte sie beglichen. Mit Blut und Gewalt hatte er ihnen seinen und Shellys Schmerz heimgezahlt, um dann wieder zu den Toten zurückzukehren.

Sarah wusste, dass es sich nicht um Rache gehandelt hatte. Das war Gerechtigkeit gewesen, Gerechtigkeit, die von den Lebenden nicht erwirkt werden konnte. Denn erst wenn diese Bürde von ihm genommen worden war, wenn die Schuldigen ihre Strafe erhalten hatten, konnte Eric wieder bei Shelly sein.

Aber nun waren sie längst wieder vereint, und Top Dollar und seine Bande waren tot, seit Jahren begraben. Also, was versuchte Eric ihr zu sagen?

Und weshalb war die Krähe zurückgekehrt?

Gabriel sprang auf das untere Bettende und riss Sarah aus ihren Gedanken. »Oh, Gabriel«, rief Sarah und umarmte die Katze, die zu schnurren begann. Auch Gabriel war Teil ihrer Erinnerungen. Er hatte Eric und Shelly gehört. Nach ihrem Tod hatte Sarah ihn quasi adoptiert. Egal, wohin sie ging oder was sie durchmachte, Gabriel war ihr treuer Gefährte geblieben und hatte für sich selbst Sorge getragen, wenn sie nicht in der Lage gewesen war, sich um ihn zu kümmern.

Aber inzwischen hatte sie sich fest im Griff und war entschlossen, es dabei zu belassen. Ihr Leben war nicht perfekt, aber sie war zufrieden. Sie hatte eine eigene Wohnung, ein eigenes Geschäft und ein paar Freunde.

Zufrieden ließ Sarah den Blick durch ihr Loft schweifen, das vollgestopft war mit in Trödelläden zusammengesuchten Schätzen. Die etwas abgenutzten Möbel waren bequem, und das ganze Loft strahlte Wärme und eine Erdverbundenheit aus, die in scharfem Kontrast zu dem Schmutz und Elend außerhalb dieser Wände stand.

Und dennoch war sie allein. Unter ihrer Wohnung lagen zwei Stockwerke leerer Lagerräume und darunter ein weiteres Lager, das noch genutzt wurde. Keine Nachbarn, keine Beziehung und keine Leidenschaft. Im Augenblick war ihr das genug.

Barfuß trat sie an das halbrunde Fenster und blickte hinaus auf den Dschungel unter ihr. Während sie die Jäger und Gejagten beobachtete, kam sie sich wie die Herrscherin über ein friedliches Eiland inmitten einer stürmischen, aufgewühlten See vor. Diese Wohnung gehörte ihr, und hier konnte sie machen, was immer sie wollte.

Am liebsten malte sie. Die Leinwände, sowohl die fertiggestellten als auch die, an denen sie noch arbeitete, lehnten an den Wänden oder standen auf einem halben Dutzend wackeliger Staffeleien. Die Bilder waren der Beleg für ihre Neigung. Die meisten Arbeiten - turbulent und brütend - waren vom Symbolismus geprägt. Alle strahlten eine starke Emotionalität aus, und manch ein Betrachter hätte sie bestimmt als beunruhigend empfunden. Vor einem Bild, an dem sie gerade arbeitete, blieb sie stehen und musterte es kritisch.

Es zeigte eine Frau, die Sarah nicht unähnlich war. Sie lag in den Armen eines Mannes mit blassem Gesicht und traurigen Gesichtszügen. Dutzende anderer Gestalten scharten sich um die beiden Hauptfiguren, die wie durch einen Nebelschleier nur undeutlich zu erkennen waren. Ihre Mienen waren fast ausdruckslos, aber mit geschickten Pinselstrichen war es ihr gelungen, ihren Gesichtern so etwas wie Besorgnis und Mitleid zu verleihen, gerade so, als dränge es sie danach, den Liebenden im Vordergrund zu Hilfe zu eilen und als ob sie die Fähigkeit dazu seit langem verloren hätten. Sarah wusste keine andere Möglichkeit, die Heerschar beobachtender Toter zu illustrieren.

Sie wandte den Blick von ihrer Arbeit ab, schüttelte sich, als ginge es darum, einen Alptraum abzustreifen, und steuerte das Badezimmer an. Dort zog sie das Nachthemd aus. Auf ihrem Rücken prangte ein Paar schwarzer Engelsschwingen, die sich über die Schulterblätter ergossen. Die filigrane Tätowierung zog sich über Rücken und beide Oberarme und lief dicht oberhalb ihrer Ellbogen in aufwendig gestalteten Federn aus. Darüber hinaus war ihr schlanker Körper mit zwei Ringen geschmückt. Einer ging durch die rechte Brustwarze, der andere durch den Bauchnabel.

Sarah trat unter die Dusche und zog den Vorhang hinter sich zu. Dann drehte sie das Wasser auf und schloss genüsslich die Augen. Eiskalt und hart prasselte der Wasserstrahl auf sie nieder...

...und sie sah, nur für einen kurzen Augenblick, ein anderes Gesicht, das Gesicht eines Mannes, blass und von Angst gezeichnet, das in dunkles, verschlammtes Wasser sank...

Sie riss die Augen auf. Das harte Wasser trommelte auf ihre Augäpfel, und sie drehte schnell den Kopf weg, stützte sich mit einer Hand an der Kachelwand ab, um sich von der Vision zu erholen.

Als sich das Zittern gelegt hatte, duschte sie rasch, trocknete sich mit einem Handtuch ab und zog sich an. »Wer war das?«, fragte sie sich und Gabriel mehrmals, aber keiner von beiden wusste eine Antwort. »Wer, zum Teufel noch mal, war das?« Sie war sich hundertprozentig sicher, dass sie den Mann noch nie  gesehen hatte, also warum schob er sich dann zwischen ihre Gedanken?

Nein, nicht einfach nur zwischen ihre Gedanken - sondern in ihre Seele. Sie hatte ihn gesehen, aber für einen Sekundenbruchteil hatte sie auch seinen Schmerz, seine Panik... seine Trauer empfunden.

Ja, Trauer und unerträglichen psychischen Schmerz, der den physischen, der in diesem Moment ihren Körper attackierte, bei weitem übertraf. Aber woher kam er und warum kam er ausgerechnet zu ihr?

Sie setzte sich an ihren Schminktisch, um den passenden Schmuck auszuwählen, den sie sich vor dem Spiegel anhielt. Vielleicht gelang es ihr damit, diesen Fremden und Eric und die Krähe und alles eine Zeitlang zu vergessen. Sie wählte eine Halskette aus, die sie oft trug, eine Silberkette mit einem silbernen Anker, dem Symbol für Ewigkeit.

Aber der Gedanke an die Ewigkeit ließ sie wieder an Eric und Shelly denken. Ihr Blick wanderte zu der Maske, die sie neben dem Schminktisch aufgehängt hatte. Sie war aus weißer Keramik gefertigt, hatte einen schwarz angemalten, lächelnden Mund und schwarze Striche unter und über den leeren Augen. Diese Maske hatte Shelly gehört. Früher hatte sie in Shellys Loft, das sie mit Eric teilte, neben dem Spiegel gehangen. Das war das Gesicht, das Eric auf sein totes und gleichzeitig lebendiges Fleisch gemalt hatte. Ehe er sich auf die Suche gemacht hatte, Gerechtigkeit zu finden.

Mit einem Seufzer griff Sarah nach dem verkratzten Verlobungsring, den Shelly getragen hatte. Sie hielt ihn so, dass das Licht auf die Gravur fiel:

Für immer.

Sarah hatte vorgehabt, sich Schmuck auszusuchen, um zu vergessen, aber jetzt kehrte die Erinnerung deutlicher denn je zurück. So viele Erinnerungen, so viele Geister.

Gabriel schien ihre Stimmung zu spüren und strich um ihre Beine. Er miaute einmal, und aus diesem einsamen Laut meinte Sarah die durch und durch menschliche Stimme von Traurigkeit herauszuhören. Da nahm sie die Katze hoch, drückte sie an sich und flüsterte: »Ich auch...«

Shellys Ring hatte Sarah seit langem nicht mehr getragen. In den Straßen der Stadt der Engel herrschte die Gesetzlosigkeit, und sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass er ihr gestohlen wurde. Aber jetzt war das Bedürfnis, sich Shelly und Eric und dem, was sie ihr sagen wollten, nah zu fühlen stärker als ihre Vorsicht.

Sie hängte den Ring an die silberne Kette zu dem Anker. Dann legte sie die Kette um den Hals, zog eine Jacke an und ging - nachdem sie Gabriel ein letztes Mal an sich gedrückt hatte - nach draußen auf die Straße. Es war mitten in der Nacht, aber sie fand keinen Schlaf und sie fürchtete sich nicht.

Denn sie wusste, wie man sich nachts in der Stadt der Engel verhielt.

 

Glücklicherweise schlief niemand vor dem Eingang zu ihrem Wohnhaus, als sie es verließ. Wahrscheinlich hatte der Besitzer das Schloss reparieren lassen. Dem Schloss gab sie eine Woche, bis es wieder aufgebrochen war und die Vagabunden zum Schlafen hierher zurückkehrten. Das störte Sarah nicht. Die meisten Obdachlosen waren nicht gewalttätig. Die suchten nur nach einem warmen Ort, wo sie nachts pennen konnten und wo die Hunde nicht hinpinkelten und die Banden sie nicht anzündeten. Arme Kerle.

Doch ihre Anteilnahme endete an der Tür zu ihrem Loft. Sie war so sicher wie ein Banktresor. Sarah hatte knapp dreihundert Dollar für Schlösser und Riegel ausgegeben, und der Schlosser hatte ihr versichert, dass ein Einbrecher Plastiksprengstoff brauchte, um in ihre Festung einzudringen. Nun trat sie in die Nacht hinaus, atmete die abgestandene Luft ein. Das war der Geruch der Stadt, eine Symphonie aus stinkenden Gerüchen, die sich aus orientalischem Essen, Busabgasen, Industriemüll, altem Ol und Pisse zusammensetzte, aber weil das der einzige Ort war, den sie kannte, die einzige Luft, die sie jemals gerochen hatte, war sie daran gewöhnt. Es hatte sogar Zeiten gegeben, wo sie darauf abgefahren war.

Sarah stieg die Treppe ihres Gebäudes hinunter, schloss die Augen, als der Wind Dreck und Abfall aufwirbelte. In der Wolke schwebten auch ein Dutzend leere Zellophan-Tütchen mit dem allseits bekannten Grinsen des Kobolds. »Scheiß Trinity«, murmelte Sarah, als die Drogentütchen vorbeischwirrten.

Das war der allerneuste Dreh, die Droge du jour, billig genug für die fertigen Junkies, aber mit einer Durchschlagskraft, die selbst die Augen des gutbetuchten Connaisseurs zum Strahlen brachte. Sarah hatte das Zeug nie probiert. Sie war seit längerem clean und hatte vor, es auch weiterhin zu bleiben.

Aber diejenigen, die das Zeug schnieften, hatten ihr erzählt, die Wirkung halte länger vor als bei Crack. Nach Meinung der Süchtigen war es beruhigender als Heroin und brachte einen schneller drauf als Speed. Und falls man auf kunterbunte Farben und Blumen stand, verschaffte es einem einen intensiveren Farbflash als das beste LSD. Kurzum, Trinity war dein bester Freund, deine Traumdroge. Es machte, was immer du verdammt noch mal wolltest. Trinity las deine Gedanken und verdrehte dir dann den Kopf.

Der einzige Nachteil bestand darin, dass die Sucht schnell und dauerhaft und mit absoluter Sicherheit einsetzte. Hatte man einmal die Freuden des Kobolds die Nase hochgezogen, dann kam einem jede andere Droge wie Kinderkram vor und das wahre Leben wie die ungespülte Toilette in einem billigen mexikanischen Restaurant.

Langsam aber sicher verschwanden die weggeworfenen vielfarbigen Crackröhrchen aus Plastik aus dem Straßenbild. Nun sah man nur noch die Zellophan-Tütchen mit dem lächelnden Kobold auf den Straßen. Worüber freut sich dieser Bastard denn so, fragte Sarah sich. Die Leute verbrauchten den Inhalt und warfen ihn dann weg, sie traten auf ihn, rannten über ihn hinweg, und dann löste er sich auf und wurde vom Regen in die Abwasserschächte gespült.

Aber er kehrte immer wieder zurück. Immer war er irgendwo, auf einem Bürgersteig oder in einem Gulli, und lachte dir entgegen. Von Tag zu Tag begegnete man ihm öfter. Vielleicht war das der Grund für seine Fröhlichkeit. Er konnte sterben und von neuem zum Leben erwachen, immer wieder.

Auf dem Weg zu einem Coffee Shop, wo sie zu jeder Tages- und Nachtzeit eine ordentliche Tasse schwarzen Kaffee und eine halbwegs intelligente Unterhaltung kriegen konnte, stapfte Sarah durch den Dreck und die leeren Bierdosen und das Trinity-Konfetti. Aber irgendetwas ließ sie innehalten, als kralle sich etwas an ihrem Fuß fest. Sie hob ihren Doc Martens hoch und sah, dass ein Kaugummi, der an einem Trinity-Tütchen klebte, sich in ihre Profilsohle gequetscht hatte.

»Scheiße«, entfuhr es ihr. Sie schnürte den Schuh auf und zog ihn aus. Gerade als sie dabei war, den Mist an einer Bürgersteigkante abzuscharren und insgeheim kaugummikauende Junkies verfluchte, fiel ihr ein Mädchen auf, das sie aus einem im Dunkeln liegenden Eingang anstarrte, dessen Türen vor langer Zeit geklaut worden waren.