Frank Goldammer

Der Angstmann
Tausend Teufel
Vergessene Seelen

Kriminalromane

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Der Angstmann

Kriminalroman

Erster Teil

30. November 1944

Heller stemmte sich mühsam hoch. Mit seinen eins zweiundachtzig passte er gerade noch in den Beiwagen des BMW-Gespanns aus Wehrmachtsbestand. Ein anderes Fahrzeug hatte nicht mehr zur Verfügung gestanden. Heller stieg mit dem rechten Bein zuerst aus und zuckte zusammen, als sein Fuß das Kopfsteinpflaster berührte. Er wischte sich den eiskalten Sprühregen aus dem Gesicht, der während der Fahrt eingesetzt hatte, und schüttelte missbilligend den Kopf. Anstatt in den Hof zu fahren, hatte Strampe das Motorrad vor dem Tor abgestellt. Heller wertete das als Zeichen der Geringschätzung. Der junge SS-Mann konnte ihn nicht leiden.

Jetzt stand Heller vor dem Gebäude der Rudergesellschaft Dresden. Er klappte den Kragen hoch und vergrub seine Fäuste tief in die Taschen seines langen Mantels. So stand er mit hochgezogenen Schultern, ohne seine lederne Schiebermütze, und wusste nicht, wohin er gehen sollte. In seinem kurz geschnittenen, langsam ergrauenden Haar sammelte sich die Feuchtigkeit.

Die Elbe bot einen trostlosen Anblick, grau und verwaschen, an diesem letzten Nachmittag im November. Einige Bäume am Ufer, blattlos und schwarz von Feuchtigkeit. Elbaufwärts Rohre von Flakgeschützen, von denen Heller wusste, dass sie nur Attrappen waren. Die Wolken hingen tief, tauchten die Hänge am anderen Ufer in Nebelschleier. Es würde bald dunkel werden. Heller schniefte leise. Da löste sich aus dem schwarzgrauen Hintergrund der feuchten Putzwände eine Gestalt und kam auf ihn zu.

»Herr Kriminalinspektor?«, fragte der Uniformierte, warf dann eilig seine Rechte in die Luft. »Heil Hitler!«

Heller sah sich unversehens gezwungen, seine Hand aus der Tasche zu winden, erwiderte die Geste lustlos, ohne einen Ton zu sagen.

Der Schutzpolizist trat einen Schritt zur Seite, deutete eine Verbeugung an, mit der er Heller den Vortritt ließ. »In dem alten Ruderhaus«, fügte er erklärend hinzu.

Es war nicht weit, fünfzig Meter etwa, doch Heller, dem die Feuchtigkeit in die Knochen gekrochen war, haderte mit seinem rechten Fuß. Er tat jeden Schritt mit Bedacht und spürte die Ungeduld des Uniformierten hinter ihm.

Beim Ruderhaus angelangt blieb Heller stehen, um den Mann vorzulassen.

Doch der Polizist reagierte nicht. »Gehen Sie nur voran, immer geradeaus. Sie ist ganz hinten in der Werkstatt.«

Heller sah den Mann eine Sekunde lang emotionslos an, dann betrat er das Haus. Es war nicht mehr als eine Baracke, angeschlossen an eine große Garage, in der die Boote aufbewahrt wurden, die langen Ruder und weiteres Zubehör. Es roch nach brackigem Wasser, Öl und Metallabrieb.

»Da durch!«, erklärte der Uniformierte.

»Wären Sie doch einfach vorgegangen«, bemerkte Heller ungehalten. Zwar brannte ein Licht in dem Bootshaus, doch die Birne war schwach und trübe. Es war deprimierend, so wie alles derzeit.

»Es ist noch niemand da?«, fragte er. »Kein Fotograf?«

»Niemand, Herr Kriminalinspektor, aber alles angefordert.«

Heller nickte. Angefordert wurde viel. »War jemand am Fundort, hat jemand die Leiche berührt?«

»Nein, Herr …« Der Uniformierte prallte auf Heller, der unvermittelt stehen geblieben war.

Die Tür der Werkstatt stand offen, und das, was Heller dort sah, hatte er so nicht erwartet.

»Wer hat sie gefunden?«, fragte er heiser.

»Zwei Jungen. Sitzen drüben im Vereinshaus.«

»Also hat niemand den Raum betreten?« Heller riss sich vom Anblick der Leiche los und suchte den Boden nach Spuren ab. In der Mischung aus Staub und Öl müsste etwas zurückgeblieben sein, vermutete er. Das Blut war geronnen. In der Lache bildeten sich Risse, wie im Schlamm einer ausgetrockneten Pfütze.

»Ich brauche Licht hier, viel Licht und den Fotografen.«

»Dann müssen wir die Fenster verdunkeln.«

»Kümmern Sie sich darum!«

Der Schupo nickte knapp und verschwand. Heller betrachtete die Frau, die mit festem Strick an den Handgelenken an die Werkbank gebunden war, sitzend, die Arme weit ausgebreitet, wie Jesus am Kreuz. Ihre Bluse und das Unterhemd waren aufgerissen worden, ebenso der Rock. Ein Stück von demselben Strick diente als Fußfessel, ihr Unterleib war völlig entblößt. Die Unterhose und die langen Strümpfe waren ihr bis zu den Fußknöcheln hinuntergezogen worden. Der Kopf hing nach vorn, tief auf ihre Brust, und Heller konnte ihren Nacken sehen. Wieder wischte er sich über das Gesicht.

Mittlerweile war der Regen stärker geworden, begann auf das Blechdach zu trommeln und gluckste bald durch die Dachrinnen und Fallrohre. Heller ging in die Hocke, um zu sehen, ob die Frau geknebelt worden war. Er konnte es nicht erkennen, zu finster war es schon im Raum, und den Lichtschalter durfte er nicht berühren. Ihr Gesicht lag im Dunkel.

Endlich hörte Heller Motorengeräusche. Dann Männerstimmen. Er straffte sich und steckte die Hände in die Manteltaschen. Oldenbusch von der Spurensicherung kam herein, unter einem Arm ein Holzstativ, in der anderen Hand einen großen braunen Koffer. Da ihm niemand folgte, konnten sie sich den Hitlergruß ersparen.

»Geben Sie her, Werner.« Heller wollte nach dem Koffer greifen, doch Oldenbusch, dreißig Jahre alt, untersetzt und etwas dicklich, schüttelte den Kopf.

»Machen Sie mal Ihr Ding, Max, ich mach meins«, schnaufte er. »Gräulicher Anblick – hab schon gehört.«

Heller nickte. »Ein Elend.«

»Alles Elend heutzutage.«

Heller ging nicht darauf ein. Solcher Art Gespräche vermied man.

»Versuchen Sie jedes Detail aufzunehmen. Auch die Kleidungsstücke. Vorher aber den Boden nach Spuren absuchen, ich meine, da einen Schuhabdruck gesehen zu haben. Ich denke, an der Werkbank könnte es Fingerabdrücke geben und am Lichtschalter auch. Fremdhaare vielleicht auf der Kleidung des Opfers. Woher stammt der Strick? Und ich bin mir nicht sicher, aber ist das dort eine Sichel?« Heller deutete auf einen dunklen Halbmond halb unter der Werkbank.

Oldenbusch wiegte beruhigend den Kopf. »Schon klar, ich weiß, was zu tun ist. Zuerst aber muss ich Scheinwerfer haben. Blitzlichter sind auch knapp. Alles knapp. Klepp wollte erst gar nicht einsehen, warum ich hierherkommen sollte.«

Heller sah den Kriminaltechniker misstrauisch an. »Weshalb, wenn ich fragen darf?«

Oldenbusch grunzte nur, damit schien ihm alles gesagt. Schon war er wieder auf dem Weg nach draußen. Heller folgte ihm.

»Ich werde eine Weile brauchen. Kennen Sie den jungen Friedrich? Den haben sie letzte Woche eingezogen.«

Heller kannte ihn nicht. »Ich rede mal mit den Burschen. Wenn Sie mich suchen, ich bin im Vereinshaus.« Heller deutete mit dem Kinn auf das gegenüberliegende Gebäude.

Die beiden Jungen saßen artig an einem Tisch, den Tee in ihren Tassen hatten sie nicht angerührt. Beide trugen Mäntel, unter denen Heller die Kragen von Uniformen des Deutschen Jungvolks erkennen konnte.

Als er sich ihnen näherte, sprangen beide auf und ihre Arme gingen steif in die Luft. »Heil Hitler!«, quäkten sie im Chor.

Wie alt mochten sie sein, dachte Heller, keine zwölf. Hatten nie etwas anderes kennengelernt. Diesmal grüßte er vorschriftsmäßig. Bei Kindern musste man besonders aufpassen, sie waren oft die schlimmsten Denunzianten.

»Setzen!«, befahl er. »Was hattet ihr in dem Ruderhaus zu suchen?«

»Ha’m gespielt, Herr Kriminalrat!«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Name!«

»Merker, Gustav.«

»Trautmann, Alwin.«

»Ihr seid eingebrochen!«

»Nein, Herr Kriminalrat! Die Tür war offen.«

Hellers Blick wanderte zum Nachbartisch, auf dem zwei einfache Holzgewehre lagen.

»Herr Kriminalinspektor, heißt es. Wissen eure Eltern, wo ihr seid?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Erzählt, was ihr getan und gesehen habt. Lasst nichts aus. Du zuerst, Gustav.« Heller nahm durch das Fenster eine Bewegung wahr. Klepps Auto war auf den Hof gefahren.

»Wir haben gespielt. Wir sind oft hier. Wir wohnen da drüben auf der Gneisi, der Gneisenaustraße. Die Tür stand offen, so einen Spalt, und wir gingen rein, weil es kalt war und weil vielleicht ein Spion da drinnen war. Es hat gar nicht lang gedauert, da haben wir die Tote gesehen.« Gustav schien es nichts auszumachen, doch bei den letzten Worten war sein Freund zusammengezuckt.

»Habt ihr was gesehen? Lief jemand weg? Habt ihr Schreie gehört?« Das war Routine, die Frau war seit Stunden tot.

»Nein, da war niemand.«

»Habt ihr nichts angefasst? Die Tür, den Lichtschalter? Die Tote?«

»Nein, Herr Kriminaler, gar nichts!« Gustav und Alwin schüttelten eifrig die Köpfe.

»Wie hast du dann die Tür geöffnet?«

»Hab ich mit dem Gewehr aufgedrückt!«

Heller nickte. »Ihr geht jetzt heim, auf dem kürzesten Weg. Lügt ihr auch nicht, wegen der Namen? Ihr wisst doch, dafür gibt’s Zuchthaus.«

Wieder schüttelten beide heftig den Kopf.

»Gut, dann ab!«

Die beiden erhoben sich. Doch Alwin blieb stehen. »Das war der Angstmann, nicht?«

Heller sah auf. »Der Angstmann?«

»Mutter sagt, der Angstmann geht um.«

»Der Angstmann? Wer soll das sein?«

»Fängt kleine Kinder!« Alwin war es ernst und sein Kinn zitterte.

Heller erhob sich. »Geht heim. Angst gibt es genug, da braucht’s nicht noch den schwarzen Mann dazu.«

»Ob er uns jetzt folgen wird, weil wir die Frau gefunden haben?«

Heller griff dem Jungen fest an die Schulter. »Geh zu deiner Mutter. Wenn es der Angstmann war, dann hat er jetzt andere Sorgen, als sich um euch zwei Bengel zu kümmern.«

»Angstmann«, flüsterte Heller zu sich selbst, als er über den Hof zum Fundort der Leiche zurückkehrte. Was sollte er davon halten? Es war Krieg und da waren die Menschen anders als im Frieden. Wer fesselte eine Frau und richtete sie so furchtbar zu, ohne sich die Mühe zu machen, die Tat zu verbergen? Er hätte die Leiche einfach in die Elbe werfen, danach den Boden abspritzen können. Heller hatte im Bootshaus ein Waschbecken mit angeschlossenem Schlauch gesehen.

Als er das Bootshaus betreten wollte, kam ihm Klepp entgegen. Der Mann war fast so groß wie Heller, wog aber entschieden mehr und war ein paar Jahre jünger als er. SS-Obersturmbannführer Rudolf Klepp war sein Vorgesetzter, neuerdings. Und er war noch nie Polizist gewesen, stattdessen hatte er vor seiner SS-Laufbahn Fleischer gelernt.

»Schweinerei!«, murmelte er. Heller erwiderte nichts. Leute mit Totenköpfen an ihren Mützen sollten einen Anblick wie diesen aushalten können, dachte er sich.

»Ich fahre zurück ins Präsidium. Räumen Sie hier noch auf. Viel zu holen wird es wohl nicht geben.«

Heller blieb stumm, blinzelte nicht einmal, spürte, wie die Nässe sein Haar durchdrang, seine Mantelschultern, und ihm ins Genick lief. Bisher hatte er nur wenig mit Klepp zu tun gehabt. Man hatte ihn aus Polen geholt, von der Waffen-SS. Der Posten bei der Dresdner Polizei sollte wohl seine Belohnung sein. Was in Polen geschehen war, kannte man nur als Gerücht. Und Gerüchten hatte Heller noch nie Glauben geschenkt, erst recht nicht im Krieg.

»Ich würde die Leiche gern obduzieren lassen«, sagte er.

Klepp winkte ab. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich denke, morgen werden Sie einen Abschlussbericht haben.« Er beugte sich vor und hetzte die wenigen Schritte zu seinem Wagen. Sein Fahrer, der die ganze Zeit regungslos im Regen gestanden hatte, riss die Tür auf.

»Einen Abschlussbericht?«, fragte Heller, doch in dem Moment warf der Fahrer die Tür zu, sodass Klepp die Frage nicht mehr hören oder zumindest vorgeben konnte, sie nicht gehört zu haben.

Heller sah dem wegfahrenden Wagen hinterher und ging dann zurück ins Bootshaus.

Oldenbusch schien bereits auf ihn gewartet zu haben. »Kommen Sie rein.« Er deutete auf etwas an der Wand neben Heller. Es war ein Besen. »Der Täter muss den Boden gefegt haben. Ich habe keine einzige Fußspur ausmachen können.«

Heller betrachtete den Stiel, auf dem sich heller Staub in feinen Schlieren abgesetzt hatte. Als er seine Hand danach ausstreckte, räusperte sich Oldenbusch.

»Der Besen muss noch nach Fingerabdrücken untersucht werden. Der Täter ist durch die Blechtür eingedrungen, die zur Elbe hinausgeht, hat das Schloss einfach aufgestemmt. Einbruchswerkzeug ist nicht zu finden. Die Spuren draußen hat der Regen schon fortgespült. Ansonsten das Opfer, keine Papiere, nichts«, sagte Oldenbusch weiter, ohne dass Heller fragen musste. Sie arbeiteten schon lange zusammen. »Nichts in der Kleidung. Arierin, trägt keinen Stern. Klepp meint …« Oldenbusch sah erschrocken auf, um sich zu vergewissern, dass Klepp nicht mehr anwesend war. »Er meint, es wäre eine Schlesierin, doch die Kleidung scheint mir nicht dazuzupassen.«

Heller deutete auf den Fuß der Toten. »Das sind Krankenhausstrümpfe.«

Oldenbusch schürzte die Lippen. »Aus dem Gerhard-Wagner-Krankenhaus?«

»Es läge in der Nähe. Oder der Diakonissenanstalt.«

»Die Sichel übrigens ist sauber, die Tatwaffe muss eine andere gewesen sein, ein sehr scharfes Messer, auf den ersten Blick. Ich habe ein Dutzend Bilder gemacht, die werde ich heute noch entwickeln.«

»Klepp spricht von einem Abschlussbericht?«

Oldenbusch warf Heller einen mitfühlenden Blick zu. »Eine Zufallstat, meinte er zu mir, von einem Durchfahrenden begangen.«

Heller sah Oldenbusch ein paar Sekunden an. »Lassen wir sie zum Gerichtsmediziner bringen.«

Oldenbusch schüttelte traurig den Kopf. »Alle an der Front. Doktor Kassner hat letzte Woche seinen Marschbefehl erhalten.«

Heller schnaubte, offenbar galten die UK-Bescheide auch nichts mehr. Irgendwann würden sie auch noch ihn an die Front schicken.

»Das kann so nicht weitergehen. Es wird alles den Bach runtergehen.« Noch während er sprach, bereute Heller seinen emotionalen Ausbruch und nahm sich sofort wieder zurück. »Kein zufällig durchreisender Mörder macht sich die Mühe, seine Spuren so sorgfältig zu verwischen. Er muss sich auch gewaschen haben. So eine Tat kann man nicht durchführen, ohne sich selbst zu besudeln. Lief er mit dieser Kleidung einfach hinaus?«

Oldenbusch zog die Mundwinkel nach unten. »Es wäre ein Leichtes, einen Mantel überzuwerfen. Er kann sich aber auch da am Waschbecken gewaschen haben, sofern es erforderlich war. Abdrücke gibt es allerdings keine.«

»Ich meine, er kannte sich aus, das war geplant! Der Ort, die Tat. Auch der Abgang.«

»Aber die Leiche ließ er einfach liegen!«

Heller zog Luft durch die Zähne. Genau dies machte ihm Gedanken.

»Machen Sie weiter hier, ich finde heraus, wohin wir sie bringen können!«

30. November 1944, Abend

Heller war von seinem Weg ins Krankenhaus vollkommen durchnässt. Er hatte sich seines Mantels entledigt und hoffte, dass dieser im Vorzimmer auf der Heizung ein wenig trocknen würde. Es war schwierig gewesen, einen Fachmann aufzutreiben. Das Krankenhaus war total überfüllt, das Personal überlastet. Besonders schwere Krankheiten häuften sich gerade, Verletzte von den Fronten trafen täglich ein, unterernährte Flüchtlinge mussten versorgt werden, die Läuseplage ging um. Heller war in das Arztzimmer beordert worden, wartete nun schon seit fast einer Stunde. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Max Heller schob den Ärmel seines Jacketts hoch, sah auf die Armbanduhr. In diesem Moment öffnete sich die Tür.

Heller erhob sich, doch der Arzt schritt straff an ihm vorbei zu seinem Stuhl, raffte den weißen Kittel, setzte sich und gebot Heller mit einer knappen Geste, sich wieder zu setzen. Doktor Alfred Schorrer, wie es auf dem Namensschild auf seinem Schreibtisch zu lesen war, lehnte sich zurück. Er war etwa in Hellers Alter oder knapp darüber. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten. Er trug einen kurz gestutzten Oberlippenbart, kaum mehr als ein silberner Schleier. Seine Augen waren grau, blickten hell und intelligent auf sein Gegenüber.

»Leider hatten Sie recht mit Ihrer Vermutung. Es handelt sich tatsächlich um eine unserer Krankenschwestern. Klara Bellmann. Sie ist, soweit ich weiß, nicht viel länger als ich hier im Krankenhaus, drei Monate. Sie arbeitete in der Frauenklinik.« Doktor Schorrer stützte seine Ellbogen auf die Armlehnen seines Stuhls und legte die Fingerspitzen der Hände zusammen.

»Ich fürchte, die junge Frau hat ein arges Martyrium hinter sich bringen müssen, ehe sie der Herr gnädig zu sich nahm. Keine ihrer Wunden scheint tödlich gewesen zu sein. Das Herz ist unversehrt. Es gibt einen Lungenstich, doch dies hat meist nur zur Folge, dass der betroffene Lungenflügel sich mit Blut füllt. Ein sehr langsamer Erstickungstod ist die Folge. Oft genug erlebt an der Front. Sie sind auch ein Frontkämpfer gewesen?«

Heller räusperte sich. »Ja, im letzten Krieg.«

Schorrer lebte sichtlich auf. »Da war ich auch schon dabei. Garde-Grenadier-Regiment Nr. 5. Und Sie?«

»Grenadier-Regiment Nr. 101«, erwiderte Heller. Mehr würde er dazu nicht sagen.

Schorrer schien das zu ahnen und kam augenblicklich zum Thema zurück. »Die Verletzung der Bauchdecke ist immer mit großen Schmerzen verbunden, die tiefen Schnitte in Armen und Beinen ebenso. Sie muss geschrien haben, es sei denn, sie ist bald bewusstlos gewesen. Ihr Tod trat entweder durch den Schock ein oder sie verblutete. Letzteres ist mir wahrscheinlicher.« Schorrer tippte die Fingerspitzen zweimal aneinander.

Heller vermied es, sich mit der Hand in den Nacken zu fahren, er wollte nicht unsicher wirken angesichts des souveränen Auftretens des Arztes. Doch er fühlte sich unwohl. Er fröstelte und rieb seine Schultern im Anzug. Er ahnte, dass er heute Nacht nur schlecht schlafen würde.

»Lässt sich nachvollziehen, ob sie alkoholisiert war? Oder anderweitig betäubt, besinnungslos, gelähmt? Hat sie sich nicht gewehrt? Sie wird doch nicht freiwillig das Bootshaus betreten haben.«

Schorrer beugte sich ein wenig vor, sah auf ein Formular. »Eine Blutabnahme wurde vorgenommen«, erwiderte er knapp. »Noch Fragen?«

»Sie leiten dieses Haus? Man sagte mir, Sie seien Pathologe.«

»Das bin ich. Doch das Gebot der Stunde erfordert besondere Maßnahmen, weshalb mein Wirkungsbereich über mein Fachgebiet hinaus erweitert wurde.« Schorrer öffnete die Handflächen. »Nun, Herr Kriminalinspektor, es gibt viel zu tun!«

Heller verstand und erhob sich. »Vielen Dank für Ihre kurzfristige Hilfe. Darf ich vielleicht auf Ihren Rat zurückkommen, falls er vonnöten ist?«

»Jederzeit, ich wohne hier auf dem Gelände. Man hat mir in der Schwesternschule zwei Zimmer frei gemacht.« Schorrer hatte sich ebenfalls erhoben, nun standen sie sich zum Abschied gegenüber und zögerten einen Moment.

»Heil Hitler.« Heller hob den Arm, doch er streckte ihn nicht ganz durch und ließ ihn augenblicklich wieder fallen.

Doktor Schorrer tat es ihm gleich und einen Moment lang sahen sie sich dabei forschend in die Augen. Im Vorzimmer gab ihm Schorrers Sekretärin den Mantel wieder, der angenehm warm geworden war. Heller bedankte sich und ging.

Auf dem Gang roch es nach Abendessen, nach Brühe und Brot. Er selbst hatte seit einem kargen Mittag aus ein paar Kartoffeln und salzigen Rüben nichts mehr gegessen. Das Personal ging ungerührt seiner Arbeit nach. Heller musste ein-, zweimal ausweichen, presste sich an die Wand, als Essenswagen und Betten an ihm vorbeigeschoben wurden.

Im Treppenhaus wartete er nicht auf den Aufzug, sondern nahm die Treppe.

»Sagen Sie«, sprach er eine vorbeilaufende Krankenschwester im Erdgeschoss an, »wo finde ich die Personalabteilung?«

»Das Verwaltungsgebäude ist da hinten, aber dort ist jetzt niemand mehr.« Die Schwester deutete auf ein Haus.

»Vielen Dank!«

»Bitte.« Die Schwester lief weiter und ging die Treppe hoch.

Dann durchfuhr es Heller heiß und er drehte sich noch einmal um. »Heil Hitler«, rief er.

Die Schwester hielt inne und sah sich langsam nach ihm um. Dann stieg sie, ohne den Gruß zu erwidern, die Treppen weiter hinauf.

»Was ist mit dir?«, fragte Karin und nahm Heller den Mantel ab. Sie hängte ihn auf einen Bügel und brachte ihn in die Küche, wo sie ihn neben den Ofen hängte. Dann kam sie in den Flur zurück. Währenddessen hatte Heller sich auf die kleine Bank gesetzt und zog mühsam seine Schuhe aus. Missbilligend sah seine Frau ihn an. »Deine Mütze?«

»Hab ich im Büro vergessen.« Der rechte Schuh rutschte ihm ruckartig über die Ferse, Heller verzog das Gesicht.

»Ach, du! Eine Erkältung können wir als Letztes gebrauchen!«

Heller schwieg. Er mochte es nicht, wenn sie so war, doch sie hatte ja recht und er ärgerte sich über sich. Dass er leicht fröstelte, verschwieg er lieber.

»Also, was ist?« Karin setzte sich neben ihn.

»Eine Frau ist ermordet worden. Nicht weit von hier, eine viertel Gehstunde. Eine furchtbare Tat. Wirklich grässlich. Jemand hat sie … aufgeschnitten …«

»Ein Raub?«

»Nein, Karin, um Raub ging es da nicht. Das war die Tat eines Wahnsinnigen!«

»Kannst du etwas tun?«

Heller schnaubte leise. »Keine Leute, kein Benzin, keine Blitzlichtbirnen, keine Zeit. Klepp meint wohl, das wäre ein Durchfahrender gewesen.«

»Ach der, dieser dumme Kerl!«

Heller legte seine freie Hand auf ihren Unterarm und drückte ihn sanft. Sie sollte nicht so laut sprechen, wenn sie im Flur waren.

»Ist doch wahr«, flüsterte Karin trotzig.

»Was gibt’s zu essen?«

»Eintopf mit Kartoffeln und Rüben.« Karin erhob sich und Heller folgte ihr in die Küche. »Vier Stunden hab ich bei Kiebels gestanden, weil es hieß, es gäbe Fett. Schon weit vor mir war es alle.«

»Und sonst?«, fragte Heller fast beiläufig.

»Nichts«, antwortete Karin, ohne ihn anzusehen.

Das war gut und schlecht zugleich. Das bedeutete, es war also kein Heldenbrief gekommen, in dem es hieß, einer ihrer Jungen sei für Führer, Volk und Vaterland gefallen. Das bedeutete aber auch, dass es keine Post von der Front gab. Seit Monaten schon. Ihre eigenen Briefe waren zurückgekommen, alle mit dem Vermerk: Zurück an Absender, weitere Nachricht abwarten.

Schweigend saßen sie am Esstisch, und es gab kein Geräusch außer dem leisen Klappern ihrer Löffel auf den Tellern. Das Radio blieb stumm. Eigentlich mochte Heller klassische Musik. Händel und Vivaldi, doch er konnte das dümmliche Geplapper zwischen der Musik nicht mehr hören. Immer nur die gleichen Phrasen.

Karin hatte zuerst aufgegessen, sie hatte sich viel weniger auf den Teller getan. Mit Bedacht legte sie den Löffel weg, sodass es keinen Laut verursachte. »Die Lehmann sagte heute, in Russland gingen sie wieder vor.«

Heller aß auf, kippte den Teller, um noch das letzte bisschen Brühe herauszulöffeln. Dann legte auch er ganz leise den Löffel ab. »Die Leute schwätzen nur noch dummes Zeug. Gingen sie in Russland vorwärts, hätten sie es längst laut verkündet.« Er erhob sich, um ins Wohnzimmer zu gehen. Um die Zeitung zu lesen, die nur noch aus ein paar Blättchen bestand und beinahe zur Hälfte mit Todesanzeigen gefüllt war. Karin würde aufwaschen und ihm in wenigen Minuten folgen, wo sie dann im Kerzenschein abwarten würden, ob es in der Nacht Alarm geben würde. Erst wenn sie sicher waren, dass der Engländer wegblieb, würden sie zu Bett gehen. In der Tür drehte sich Max Heller noch einmal um. »Hat die Lehmann schon einmal was vom Angstmann gehört?«

Karin räumte das Geschirr zusammen. Sie überlegte und schüttelte den Kopf. »Der Angstmann? Nein.«

Heller ärgerte sich, es überhaupt angesprochen zu haben. Genauso wie er sich ärgerte, der Krankenschwester dieses viel zu laute »Heil Hitler« nachgerufen zu haben. Heldenhafter Kampf, las Heller. Überall heldenhafter Kampf. Auch so eine Phrase. Jeder wusste – jeder müsste wissen –, was diese Nachrichten wert waren, nämlich nichts. Und doch gierte man danach zu lesen, suchte nach jedem kleinen Hinweis darauf, was tatsächlich vor sich ging. Auch in seinem Krieg hatten sie heldenhaft gekämpft. Heldenhaft hatten sie im Schlamm gelegen, heldenhaft hatten sie sich geduckt, wenn die Granaten um sie herum einschlugen, ihre Gesichter in den Schlamm gepresst.

»Was hat das zu bedeuten, der Angstmann?«

Heller zuckte zusammen. Er hatte Karin nicht kommen hören. »Die Frau heute, zwei Burschen haben sie gefunden, der eine war ganz verschüchtert. Er fragte mich, ob das der Angstmann gewesen sei. Mehr weiß ich nicht, Karin.«

Karin wechselte die Kerze auf dem Stubentisch, löschte das Deckenlicht, setzte sich dann auf das Sofa und schlug eine Decke um ihre Beine.

»Du sagst, er hat sie aufgeschnitten …« Sie zögerte. »Wer macht denn so etwas?«

Heller sah sie nachdenklich an. »Ich weiß es nicht. Aber das war kein normaler Mord. Kein Raub. Das ist etwas anderes. Ich fühle das.«

»Aber Max«, flüsterte Karin, und ihr Gesicht war kaum zu sehen, knapp außerhalb des Kerzenlichts, »halte dich bloß zurück, wenn dieser Klepp das so will.«

»Es ist ein Mord und ich habe meine Arbeit zu tun!«

»Max, es wäre nicht das erste Mal, dass du mehr tätest als nötig!«

»Ich habe immer nur getan, was nötig war.«

»Aber gerade jetzt …«

»Gerade jetzt gilt es, nicht alle Regeln über Bord zu werfen und jeden Anstand zu verlieren.«

»Fall mir nicht ins Wort, Max! Ich mache mir nur Sorgen. Nicht, dass du zum Schluss der einzige Anständige unter all den Verrückten bist.«

»Was willst du denn damit sagen? Soll ich auch verrückt spielen?«

Karin schüttelte ungehalten den Kopf. »Stell dich nicht dumm, du weißt, was ich meine!«

Dreiundzwanzig Uhr gab es Voralarm, wenige Minuten später Vollalarm. Heller, der im Sessel eingedöst war, erhob sich, holte seinen Mantel aus der Küche. Dann nahmen sie die Koffer, die sie bereits vor Wochen gepackt und die sie nun schon zwanzig Mal in den Keller getragen hatten.

Im Treppenhaus trafen sie ihre Nachbarn und die Mieter aus der obersten Etage. Sie murmelten einen Gruß und gingen in den Keller hinab. Niemand scherzte mehr oder wagte zu behaupten, dass Dresden verschont bleiben würde. Nicht seit dem siebten Oktober, als das erste Mal Bomben gefallen waren. Es waren nicht viele Flugzeuge gewesen, einige wenige Häuser waren eingestürzt und es hatte einige Dutzend Tote gegeben. Doch die wenigen Bomben hatten ausgereicht, alle Illusionen diesbezüglich zu zerstören.

Im Keller setzte sich jeder auf seinen angestammten Platz. Nur eine einzige Glühlampe brannte. Nun mussten sie wieder warten, bis die Entwarnung kam. Niemand sprach, nicht ein einziges Wort. Heller wusste, warum. Er war der Grund. Er war Polizist, und spätestens seit allen Polizisten nahegelegt worden war, der SS oder dem SD beizutreten, wollte ihm niemand mehr trauen, so wie er niemandem mehr traute.

1. Dezember 1944, früher Vormittag

»Tut mir leid, Herr Kriminalinspektor, Schwester Klara war aus dem Schwesternwohnheim ausgezogen. Ihre neue Adresse ist hier leider nicht vermerkt.« Die Frau mittleren Alters, deren Haar gescheitelt und zu einem strengen Kranz geflochten war, blätterte noch einmal die drei Seiten durch, welche den gesamten Umfang von Klara Bellmanns Akte darstellten, fuhr die Zeilen mit dem Finger ab. Sie tat das nur, um geschäftig zu wirken, wusste Heller. Ihr grauer Rock und die weiße, bis zum Hals zugeknöpfte Bluse strömten einen starken Geruch von Mottenkugeln aus. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Bestimmt schlief auch sie schlecht seit Monaten. Hinter ihr klackerten drei weitere Frauen auf ihren Schreibmaschinen. »Sie kam vor zwölf Wochen aus Berlin. Ich könnte im Schwesternheim anrufen oder in ihrer Abteilung.«

»Danke, Frau Schmitt, ich frage mich selbst durch.« Heller nahm seine Mütze vom Tisch und erhob sich. »Aber kann es denn sein, dass Schwester Klara ihren neuen Wohnort nicht bekannt gab? Ist die Notiz vielleicht falsch abgelegt worden?« Er wusste, dass er die Frage unglücklich formuliert hatte.

»Wenn Frau Bellmann ihrer Meldepflicht nicht nachgekommen ist, kann man das nicht mir zuschreiben!«, sagte Frau Schmitt dann auch sehr spitz.

Die anderen drei Frauen hielten ihre Köpfe gesenkt, wagten keinen Ton. Grußlos verließ Heller daraufhin das Büro.

»Sind Sie wegen Klara Bellmann hier?« Eine junge Frau in Schwesterntracht sprach ihn an. Sie musste hier auf ihn gewartet haben.

Heller musterte die junge Frau. Ihm fiel auf, dass sie nicht einmal einen Anflug von Sächsisch sprach. Komplett dialektfrei. »Sind sie nicht die Schwester von gestern Abend?«

»Sind Sie nun wegen Schwester Klara hier, ja oder nein?«

Heller war so einen respektlosen Ton nicht gewöhnt. »Ich bin Kriminalinspektor Heller. Und ja, ich war hier, um den Wohnort von Frau Bellmann zu erfahren, leider konnte man mir nicht weiterhelfen. Kannten Sie Frau Bellmann?«

Die Schwester nickte. »Wir hatten uns angefreundet. Ich weiß, wo sie untergekommen war.«

Heller nahm sein Notizbuch hervor und seinen Bleistift. Er leckte die Mine an. »Sagen Sie mir bitte Ihren Namen und die Adresse!«