Inhalt

Die faszinierende Geschichte des Inders Hussein Jinah, der auf einem britischen Dampfer geboren wurde, in Tansania und Südafrika aufwuchs und in den 1980ern als Gaststudent in die DDR nach Sachsen kam – und blieb. Er setzt sich seit über 25 Jahren für Integration ein und war der erste Demonstrant gegen Pegida. Er erzählt, wie er als Streetworker mit Jugendlichen arbeitete und auch schon zwischen Neonazis und Dönerladenbesitzern vermittelte. Wie sich seiner Meinung nach Vorurteile gegen Muslime und allgemein gegen Menschen nicht-deutscher Herkunft nach 9/11 und nach Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab verhärtet haben. Warum er immer noch ruhig und entschieden sagen kann: „Ich gebe nie auf.“ Eine wahre Geschichte über Mut und Engagement und darüber, wie ein gutes Zusammenleben gelingen kann.

Eine ostdeutsche, migrantische Sicht auf Sachsen und die beiden Deutschlands vor und nach 1989. Ein engagiertes Leben, geführt mit unbeirrbarer Menschlichkeit und klaren Werten.

Hussein Jinah

Als Weltbürger zu Hause in Sachsen

Mit Sebastian Christ

ein mikrotext

Erstellt mit Booktype

Cover: Inga Israel
Covermotiv: Kenya, Aquarell eines britischen Linienschiffs zwischen Indien und Afrika aus den 1950er Jahren, Andrew Dibben, Norfolk

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-73-4

© mikrotext 2019, Berlin

Hussein Jinah

Als Weltbürger zu Hause in Sachsen

Mit Sebastian Christ

1

Ich bin am 20. Juli 1958 auf einem britischen Dampfer zur Welt gekommen, der einige Seemeilen vor der Insel Mafia im Indischen Ozean einen Motorschaden erlitten hatte. Meine erste Heimat ist Indien und mein Geburtsort das Meer.

Unsere Familiengeschichte ist ein wenig erklärungsbedürftig. Mein Urgroßvater ist vor über 100 Jahren von Indien nach Tanganjika gegangen, dem heutigen Tansania, um dort ein Handelsunternehmen aufzubauen. Damals war das Gebiet noch Teil von Deutsch-Ostafrika, später gehörte es zum britischen Kolonialreich. Urgroßvater war also, aus dem Blickwinkel der Staatsbürgerschaft betrachtet, zuerst ein „Angehöriger der Schutzgebiete“, später dann „British Subject“. Er lebte 4.500 Kilometer von seinem Heimatort entfernt und sprach Hindi, Englisch und Suaheli.

Später hat er dann meinen Großvater nachgeholt, und schließlich kam auch mein Vater nach Tanganjika, wo er in einem Laden Textilien verkauft und einen Großhandel mit Kolonialwaren betrieben hat. Ich erinnere mich noch vage an Bleistifte und Radiergummis, die sich in seinen Lagern stapelten.

Ursprünglich kommt meine Familie aus dem indischen Bundesstaat Gujarat, genauer: aus der Stadt Porbandar, dem Geburtsort von Mahatma Gandhi. Dort haben meine Eltern auch 1957 geheiratet. Mütterlicherseits bin ich entfernt mit Gandhi verwandt. Väterlicherseits stamme ich aus der Familie des Staatsgründers von Pakistan – Muhammad Ali Jinnah.

Mein Vater ging nach der Hochzeit zurück nach Tanganjika, meine Mutter blieb in Indien – bis sie hochschwanger zu meinem Vater fahren wollte. Eine Krankenschwester, die auf dem Schiff mitfuhr, half bei meiner Geburt. Die britische Marine rettete uns schließlich von dem schiffbrüchigen Dampfer und brachte uns in ein Krankenhaus. Königin Elisabeth II. sandte später ein Gratulationsschreiben an meine Mutter.

Weil es in den Verordnungen der britischen Behörden nicht vorgesehen war, dass ein Mensch an Bord eines schiffbrüchigen Dampfers das Licht der Welt erblickt, trugen sie die Stadt Daressalam in die Papiere ein.

Ich hatte eine schöne Zeit in Tansania. Wir sind oft ans Meer gefahren oder haben uns indische Filme im Kino angeschaut. Die Geschäfte meines Vaters liefen gut, er besaß mehrere Häuser in Daressalam. Gewohnt haben wir in der Market Street, in einem kombinierten Wohn- und Geschäftshaus.

Viele Inder gehörten damals zu den wohlhabenderen Menschen im Land – sie hatten bis zum Ende der Kolonialzeit im Jahr 1960 mit den britischen Herrschern zusammengearbeitet und sich weitgehend von der einheimischen Bevölkerung separiert. Bisweilen schwang Abschätzigkeit gegenüber den Schwarzen mit, auch mein Vater war nicht frei davon. Meine Mutter war dagegen überzeugt, dass alle Menschen gleich geboren sind.

Nach der Gründung der Vereinigten Republik Tansania im Jahr 1964 wendete sich das Blatt. Die führenden Positionen im Land wurden neu besetzt und die Inder sahen sich mit Anfeindungen konfrontiert: „Geht zurück nach Indien!“, so etwas konnte man nun auf den Straßen hören. Es gab No-Go-Areas für Inder. Meine Mutter sagte mir zum Beispiel, dass ich in bestimmte Gegenden nicht spielen gehen dürfte. Ich war damals noch ein kleiner Junge und hatte keinen Sinn für das Politische. Dass sich jedoch die Dinge veränderten, das spürte ich.

Der tansanische Präsident Julius Nyerere stellte 1967 in der Arusha-Deklaration sein Modell eines „afrikanischen Sozialismus“ vor. Anfang der 1970er Jahre begannen die Enteignungen, auch der Besitz meines Vaters wurde verstaatlicht. Und so entschied er, dass wir noch einmal neu anfangen würden – in Südafrika.

Was viele Menschen in Europa nicht wissen: Seit der britischen Kolonialzeit leben am Kap sehr viele Inder. Durban, wo wir fortan wohnten, ist auch heute noch eine Hochburg der indischen Community. Doch schon bald mussten wir feststellen, dass das System der Apartheid noch viel schlimmer war als die ethnischen Spannungen, die wir in Tansania erlebt hatten. Es gab ein „Amt für Rassenklassifizierung“, das die gesamte Bevölkerung in drei Gruppen einteilte, die höchst unterschiedliche Rechte hatten: „Weiße“, „Farbige“ und „Schwarze“.

Als Inder gehörten wir zu den „Farbigen“. Züge hatten damals in Südafrika drei Klassen. Uns war die zweite vorbehalten. Und es war verboten, zwischen den einzelnen Abteilungen zu wechseln. Wir wussten außerdem, dass wir bestimmte Straßen nicht benutzen oder uns nicht auf bestimmte Parkbänke setzen durften. Dort stand dann: „Only for Whites“.

Wirtschaftlich lief es bei uns hervorragend. Mein Vater verdiente wieder gutes Geld. Doch nun sah auch er ein, wie viel Schaden Rassismus anrichten kann. Im Jahr 1974 entschieden wir uns, nach Indien zurückzukehren.

Ich war damals bereits mit der Schule fertig. Welchen Beruf ich erlernen wollte, wusste ich jedoch noch nicht. Und so beschloss ich, als Offiziersanwärter in die Armee einzutreten. Auf diese Weise sah ich übrigens Afrika doch noch einmal wieder: Weil ich Suaheli sprach, schickte mich die indische Armee nach sechs Monaten Ausbildung auf eine Friedensmission ins südliche Tansania.

2

Wie kommt ein auf hoher See geborener Inder mit tansanischer und südafrikanischer Sozialisation nun nach Dresden – das damals noch im sozialistischen Ausland lag? Glauben Sie mir, ich habe selbst nicht damit gerechnet.

Mit 19 begann ich ein Studium am Indian Institute of Technology in Kharagpur, eine der angesehensten und ältesten technischen Hochschulen in Indien. Viele Absolventen wechselten nach ihrem Bachelor in die USA, wo sie an einer der amerikanischen Elitehochschulen ihren Master machten. Sundar Pichai, der heutige CEO von Google, hatte in den 1990er Jahren auch in Kharagpur studiert.

Das erste Jahr war ein Studium Generale, eine Art Orientierungsphase. Danach mussten wir uns für eine Fachrichtung entscheiden. Ich war nicht gut im Zeichnen, deswegen schied zum Beispiel das Bauwesen für mich aus. Aber ich liebte Mathematik. So kam ich zur Elektrotechnik. Im Jahr 1982 erwarb ich meinen Bachelorabschluss.

Danach arbeitete ich zunächst in einem Stahlwerk, wo ich mich um die Wartung von elektrischen Geräten kümmerte. Aber ich war immer noch voller Wissensdurst und wollte meinen Master machen. Also bewarb ich mich auf der ganzen Welt. Ich bekam Zusagen aus Harvard, Stanford und vom Massachusetts Institute of Technology. Besonders das MIT faszinierte mich. Leider kostete ein Semester damals schon 8.000 Dollar Studiengebühren. Unterkunft und Lebenshaltungskosten kamen noch dazu. Und ich erhielt kein Stipendium. Auch aus Australien kam eine Zusage. Aber schon in dem Formular, das ich von der Uni bekam, stand, dass es Rassismus im Land gäbe und dass ich mich vor fremdenfeindlichen Übergriffen in Acht nehmen müsste.

Dann fuhr ich nach Delhi, zum Ministerium für Hochschulwesen. Ich fragte gezielt nach Stipendien für das westliche Ausland. Aber der Mann auf dem Amt war Hindu. Er sagte: „Als Moslem werden wir Sie sicher nicht nach Großbritannien schicken.“ Zwei Wochen später kam ich wieder ins Ministerium. Der für die Verteilung der Stipendien zuständige Beamte war krank. Ein Kollege kam auf mich zu und sagte: „Sie haben mich nicht gesehen, aber ich habe alles beobachtet, was bei Ihrem ersten Besuch hier geschehen ist. Ich bin auch Hindu, aber alle meine Nachbarn sind Moslems, ich habe keine Probleme mit dem Islam. Für Westeuropa einen Studienplatz mit Stipendium zu bekommen, ist sehr schwierig, aber ich habe selbst in Polen studiert. Für Osteuropa ließe sich vielleicht etwas machen.“ Die DDR bot damals ein Austauschprogramm an. Jedes Jahr konnte eine Handvoll indischer Studenten ein „Zusatzstudium“ absolvieren, das nachher zu einer Promotion befähigte. Inbegriffen war ein Vollstipendium, das selbst den Flug nach Ost-Berlin mit abdeckte. Das Ganze diente natürlich einem Zweck: Die DDR-Führung unter Erich Honecker hoffte, dass die Gaststudenten später die Ideale des Sozialismus in ihre Heimatländer zurücktragen würden.

Deutschland war nie mein Ziel. Die Sprache war mir fremd. Aber die Aussicht auf ein stipendienfinanziertes Studium im Europa erschien mir reizvoll. Und so kam es, dass ich Anfang 1985 meine Koffer packte und nach Ost-Berlin flog.

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