Johannes Groschupf

Berlin
Prepper

Thriller

Herausgegeben von
Thomas Wörtche

Suhrkamp

Berlin Prepper

Das Leben ist hart, aber wenn man blöd ist, ist es noch härter.

George V. Higgins, Die Freunde von Eddie Coyle

TEIL 1

Vor dem Job im Newsroom ging ich nachts laufen. Lebe in der Lage. Kurz vor Mitternacht schnürte ich meine Turnschuhe und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus begegnete ich niemandem, die meisten Mieter gingen einer geregelten Arbeit nach und deshalb früh zu Bett. Auf der Straße fiel ich in einen leichten Trab, die Hauswände entlang, manchmal auf der Straße,und erreichte den Görlitzer Park.

»Hallo, Meister«, sagte eine der Gestalten am Eingang.

»Hallo«, sagte ich und lief weiter.

»Alles klar?«, fragte der nächste Mann.

»Alles klar«, sagte ich.

Die acht oder zehn Dealer, die immer hier standen, kannten mich längst und wussten, dass ich bei ihnen nicht kaufte, dennoch grüßten sie mit einem Nicken oder durch das Heben der Hand. Ich lief an ihnen vorbei Richtung Osten, die Brücke über den Landwehrkanal hinweg, horchte auf meinen ruhigen Herzschlag und beschleunigte allmählich, jetzt schon auf der Bahnüberführung nach Treptow. Auch hier standen junge kräftige Männer aus Gambia, Guinea-Bissau und Sierra Leone in Gruppen beisammen, ihre Gesichter waren in der natürlichen Tarnung der Dunkelheit kaum zu sehen. Sie waren unbesorgt, rauchten und lachten, der Park und seine Ausläufer waren seit Jahren ihr Revier, vor allem nachts.

Mich ließen sie passieren, weil ich seit Monaten fast jede Nacht vorbeikam. Sie hörten eine harte Reggae-Variante, die mir gefiel, weil sie mich einige Schritte lang an die Jahre erinnerte, als ich Karli kennenlernte und als wir Nick bekamen, dann lagen die Dealer schon hinter mir, auch die schleppenden Dancehall-Rhythmen und meine Erinnerungen verhallten. Ich lief durch Seitenstraßen zum Treptower Park, nahm die Kieswege zum Spreeufer. Mein Körper glitt bei gutem Tempo geschmeidig durch die Nacht, meine Füße erkannten den Boden, blieben im federnden Schritt, auch wenn sie Baumwurzeln oder Wellen im asphaltierten Weg berührten. Berlin lag jetzt, da ich die Insel der Jugend passierte, in meinem Rücken, ich tauchte in den Plänterwald ein. Entweder nahm ich den Uferweg am verfallenen Spreepark entlang oder die schnurgerade Schneise mitten durch den Wald. Auf diesem langen Weg brachte ich meinen Körper auf hohe Belastung, indem ich Sprints einlegte oder eine Weile rückwärtslief, um mein Balancegefühl zu schulen und die Angst vor dem Fallen zu verlieren.

Jetzt war ich wirklich wach, meine Sinne scharfgestellt. Jede Regung im Wald spürte ich, jedes Knacken von Zweigen, jedes Aufflattern einer Eule oder Ringeltaube. Im letzten Waldstück vor der Dienststelle der Wasserschutzpolizei Ost hatte ich meine Schwimmsachen in einer unauffälligen Mulde zwischen vier Birken gebunkert, ich zog mich rasch um und ließ mich lautlos in die Spree gleiten. Die Kälte des Wassers spürte ich nicht, mein Körper war durch den Neoprenanzug geschützt und durch den Lauf zuvor genügend erhitzt. Die ersten Minuten genoss ich, das Leben ist einfach, wenn man mit dem Strom schwimmt. In ruhigen Zügen schwamm ich stadteinwärts, am Fähranleger Wilhelmstrand und dem Funkhaus Nalepastraße vorbei, an der kleinen Insel Bullenbruch, gegenüber lagen Zementwerk und Heizkraftwerk, die nachts menschenleer schienen. Das Wasser trug mich, über mir hatte ich den Himmel, der in manchen Nächten wolkenlos war, in anderen bedeckt oder verhangen, gelegentlich schwamm ich auch im Mondlicht. Ich ruhte von der Anstrengung des Laufes aus und wappnete mich vor der bevorstehenden Strapaze. Vor dem Eiland Kratzbruch bog ich zur Insel der Jugend ein, folgte der Strömung der Spree, ließ mich auf dem Rücken treiben, als ich unter der Elsenbrücke hindurchschwamm. Um diese Uhrzeit kamen keine Ausflugsdampfer mehr, nur sehr selten Partyflöße, auf denen betrunkene Leute krakeelten, ich sah dann schon die beiden Türme der Oberbaumbrücke vor mir. Egal zu welcher Jahreszeit strömte das Partyvolk von der Warschauer Brücke nach Kreuzberg hinein oder hinüber zum ›Berghain‹ hinter dem Ostbahnhof, in vielen Nächten hörte ich auf der Brücke Straßenmusiker spielen, Flaschen zersplittern, elektronische Bässe knallten unablässig aus den Fenstern des ›Watergate‹. Eine U-Bahn zog über die Brücke hinweg. Niemand bemerkte mich, wenn ich für einen kurzen Moment die geballte Faust aus dem Wasser hob.

Dann drehte ich um, und der eigentliche Kampf begann. Die Strömung der Spree war ruhig, aber kraftvoll, ich musste beständig dagegenhalten. Es hatte mich Jahre gekostet, bis ich die gesamte Strecke bis zur Wasserschutzpolizei Ost in einem Zug bewältigen konnte, anfangs musste ich mich oft ans Ufer oder auf das rostige Wrack hinter der Arena retten, schluckte unterwegs viel Spreewasser, die Muskeln meiner Arme und Beine waren hoffnungslos übersäuert und ich verfluchte mich selbst, weil ich mir dieses Training auferlegt hatte. Wozu? Wenn ich am Badeschiff vorbeikraulte, Zug um Zug, Meter um Meter, sah ich die Hipster dort sitzen, die Jünglinge mit ihren Vollbärten und dem Bauchansatz der Nerds, neben ihnen langhaarige Mädchen, die sich in Selfie-Posen fotografierten, und ich gewann wieder Kraft und Mut. So wollte ich nicht enden, da war ich mir sicher. Wenn die Stunde kam, war ich gerüstet und fähig zu reagieren. Diese Leute aber gingen unter. Sie schwammen in ihrem künstlichen Becken mit gereinigtem, temperiertem Wasser und hatten keine Ahnung, dass wenige Meter neben ihnen ein Mann durch das kalte, dreckige Wasser der Spree kraulte.

Der Weg zurück wurde mir sauer. Ich konzentrierte mich stets auf die nächsten zehn Schläge, danach die nächsten zehn, nur nicht ausruhen, sonst trieb die Strömung mich wieder flussabwärts. Weiter, weiter. Ich arbeitete mich zur Elsenbrücke vor, schwamm an der Gastwirtschaft Zenner vorbei und an der Insel der Jugend, dann kam rechter Hand der verlassene Spreepark, über den Wipfeln sah ich in manchen Nächten die Gondeln des Riesenrads hängen. Ich zählte meine Schwimmzüge, in meinem Kopf peitschte mich die Stimme meines Vaters weiter, sodass ich aus reiner Erbitterung weitermachte, über jede Erschöpfung hinaus. Mittlerweile schaffte ich die Strecke in jeder Nacht.

Meine Turnschuhe warteten. Ich kleidete mich um, packte die Tüte mit dem Neoprenanzug wieder in die Mulde zwischen den Birken und lief den Weg an der Spree entlang zurück. Manchmal kam ich an älteren Männern vorbei, die mitten in der Nacht am Ufer saßen und angelten, oder an den Obdachlosen, die sich unter der Elsenbrücke ein Zeltlager eingerichtet hatten. Im Schlesischen Busch und im Görlitzer Park hatten die afrikanischen Dealer gut zu tun, vor allem in den Nächten am Wochenende, überall unter den Büschen und Sträuchern hatten sie ihre Ware gebunkert, so wie ich in Parks und brachliegenden Grundstücken in der ganzen Stadt meine kleinen Vorratslager für den Notfall eingerichtet hatte. Aber ich verkaufte nichts, und niemand wusste davon.

Wenn die Stunde kam, war ich vorbereitet. Ein Prepper. Man lachte über Leute wie mich, aber ich wusste: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung ist adäquat auf einen Katastrophenfall eingerichtet. In Berlin vermutlich noch weniger. Man vertraut darauf, dass schon nichts passiert. Verlässt sich auf Vater Staat. Auf die Berliner Verwaltung. Aber in der Stunde der Not ist dann niemand mehr da, und dann ist das Geheule groß. Ich vertraute niemandem mehr. Ich hielt mich in Form, um im Notfall gerüstet zu sein. Ich wartete nicht auf die Krise, aber ich wusste, dass sie unausweichlich kommen würde. Meinetwegen. Ich war in guter körperlicher Verfassung, hatte Vorräte für mehrere Monate in der Stadt und außerdem das nötige Werkzeug, um mich noch einige weitere Wochen lang in der Wildnis durchschlagen zu können.

Als das Angebot für den Job im Newsroom kam, war ich vierundvierzig Jahre alt und hielt mich seit dem Scheitern meiner Ehe mit verschiedenen Jobs über Wasser. Davor hatte ich Jugendliche in Karate trainiert, einige Jahre lang einen kleinen Second-Hand-Laden für Heftromane in der Sonnenallee gehabt, auch eine Weile in einem Anzeigenblatt gearbeitet. Ich ging nur deshalb zum Vorstellungsgespräch in den Newsroom des Zeitungskonzerns, weil ein Trainingspartner beim Tischtennis davon erzählt hatte. Guido mit der schnellen Rückhand. So ein Angebot käme nie wieder, sagte er in der Umkleide. »Die suchen einen Content Moderator. Das ist leicht verdientes Geld. Die brauchen verlässliche Leute, die Studenten kommen zu spät oder gar nicht, die jungen Leute lesen nicht gern. Die suchen einen Silver Surfer wie dich. Geh mal hin.«

Ich wusste nicht, was ein Content Moderator macht, aber ich brauchte regelmäßige Einkünfte, um einen alten Jeep zu kaufen, nach und nach umzubauen und für Fahrten in die Wildnis tauglich zu machen. Wenn es hart auf hart kam, wollte ich nicht in der Stadt bleiben müssen, sondern weitere Optionen haben. Vor kurzem hatte ich einen NVA-Kübelwagen Sachsenring P3 in Suhl geortet, der für zwölftausend Euro angeboten wurde: lange nicht bewegt, doch nicht allzu heruntergekommen, es wäre ein Anfang.

Also ging ich zum Vorstellungsgespräch. »Der Job ist kein Zuckerschlecken«, sagte der Ressortleiter, der sich als Harry vorstellte. Er duzte mich sofort. »Hier sagt niemand Danke. Keiner wird dich grüßen.«

»Darauf kann ich verzichten«, sagte ich. »Ich will den Job nicht, um Freunde zu gewinnen.«

»Im Newsroom gibt’s keine Freunde«, sagte Harry. »Als Content Moderator hast du nur eine Aufgabe: acht Stunden täglich Hasskommentare lesen und löschen. Volkes Stimme, Schaum vor dem Mund, rund um die Uhr. Beleidigungen, Lügen, Unterstellungen, Tiraden, Gewaltphantasien, Morddrohungen. All das muss weg.«

»Ich mach’s dir weg«, sagte ich. »Ich bin der Klomann, wenn ich das recht verstehe. Kein Problem für mich.«

Harry meinte es ernst. »Wenn dieser Hass ungefiltert auf die Seite kommt, kriegen wir Ärger. Machst du mehr als drei Fehler im Monat, bist du raus. Du stehst mit beiden Beinen in der Kloake, und entsprechend riechst du für die anderen. Überlege es dir. Du kannst sofort anfangen. Dreizehn Euro die Stunde.«

Sein Lächeln war einladend, das machte mich misstrauisch. Aber der Job interessierte mich.

»Seit wann schreiben die Leute diese Kommentare?«

»Seit wann, gute Frage. Wir machen das seit neun Jahren, damals gab es noch keine Flüchtlingskrise, damals haben sie den Euro gehasst. Aber glaub mir, die Welt ging für die Leser auch damals schon unter.«

Harry seufzte. Er sah erschöpft aus, seine Wangen wirkten ausgezehrt, unter den Augen hatte er tiefe Schatten. Vielleicht kiffte er auch einfach zu viel. »Die Zeiten haben sich geändert, der Tonfall ist ruppiger geworden«, sagte er.

»Ist mir klar«, sagte ich.

»Das hoffe ich«, sagte Harry. »In deinem Interesse. Auch in unserem. Wir brauchen robuste Mitarbeiter. Belastbare Leute. Glaub mir, ich habe die Studenten so satt, die nach zwei Wochen wieder aufgeben, weil sie den Hass nicht ertragen.«

»Ich gebe nicht auf«, sagte ich. »Ich schwimme jede Nacht von der Oberbaumbrücke zur Wasserschutzpolizei Ost.«

Er schaute mich schweigend an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

»Ich hasse die Strecke«, sagte ich. »Aber ich halte sie durch. Jede Nacht. Du musst mir nichts über Hass erzählen.«

Ich sagte nichts mehr vom Schwimmen. Auch nichts von meinem Kübelwagen, den ich umbauen und aufrüsten wollte. Nichts von meinen Vorsorgelagern, den Notfallplänen. Die meisten Leute konnten damit nichts anfangen, sie schauten einen nur schräg an.

Harry fragte nicht weiter, er lachte. »Du kannst den Job haben.«

Wir gaben uns die Hand.

»Willkommen im Reich des digitalen Volkszorns«, sagte Harry.