Sibylle Lewitscharoff

Geisterstunde

Essays zu Literatur und Kunst

Suhrkamp

Inhalt

Geisterstunde

Stefan Georges Haare

Robert Walser
Im Schnee

Hermann Hesse
Kurgast

Marieluise Fleißer
Andorranische Abenteuer

Friedrich Dürrenmatt
Durcheinandertal

Walker Percy
Der Kinogeher

Virginia Woolf
Mrs Dalloway

Franz Kafka
Der Bau

Rudolf Steiner
Wohin mit dem Hut?

Roberto Bolaño
2666

Thomas Mann
Doktor Faustus

Dante Alighieri
Die Göttliche Komödie

Clemens Brentano
Wenn der lahme Weber träumt, er webe

Andrej Platonow
Die Baugrube

Fjodor Dostojewski
Die Brüder Karamasow

Heimito von Doderer
Die Dämonen

Das Nibelungenlied

Christian Friedrich Daniel Schubart
Ein schwäbischer Erziehungsroman

Heinrich von Kleist

Friedrich Schiller
Don Karlos

Jean Paul
Freiheitsbüchlein

Jean Paul
Der Komet

Paul Gerhardt
Lieder

Martin Luther

James Ensor
Christi Einzug in Jerusalem

Rembrandt
Simeon im Tempel

Roelant Savery
Waldesdickicht nach einem Sturm

Adolf Wölfli
Notenblatt in Grau

Achilles G. Rizzoli
Zeichnungen

Gerhard Altenbourg
Versunken im Ich-Gestein

Tafelteil

Veröffentlichungsnachweise

Abbildungsnachweise

Quellennachweise

Geisterstunde

Während sie schlummern, bereiten sich ihre Werke vor. Als Schlafende wird man Dichter, Denker und Romanciers aber nicht vor die Kamera bekommen, es sei denn als Schauschläfer. Die Momente, in denen ihre Werke keimen, werden wir im Lichtbild wohl nie anschauen dürfen. Und was wäre damit gewonnen, wenn wir ein Dichterhaupt vor uns hätten, in seinem verwurstelten Kissen, nackthalsig oder mit verkrumpeltem Pyjamakragen, den Speichelfaden, der im Mundwinkel rinnt, seit Monaten, Dekaden, vielleicht Jahrhunderten stillgestellt? Neugierig griffen wir nach dem Band, in dem die versunkenen Köpfe versammelt wären: Die da!, oder schau mal: der da, so schlaff, so harmlos! Erregung, Gelächter, und die Gewohnheit hätte uns wieder. Dem Wesen der Inspiration, die sich in einem besonderen Kopf während der Nacht vorbereitet, um tags darauf zu zünden, wären wir kaum näher gerückt. Das einzige Foto der Ausstellung, das die Sekunde nach der Zündung einzufangen scheint, zeigt Hermann Hesse mit Zigarre. In Oxidationspunkten, zartem hellem Materialfraß, der von der rechten Gesichtshälfte aus ins Freie flirrt, hat sich ein Ideengestöber verewigt. Aber nur, weil Hermann Hesse unwahrscheinliches Fotoglück besaß. Er war einer der besten Schriftstellerposeure mit seinen spiegelnden Brillengläsern, dem fein geschnittenen Gesicht, das den Verschlußsekunden der Kameras lässig standhielt. Hermann Hesse sieht immer aus, als würde er denken. Und der Zufall, Licht und Schatten, Fensterglieder, Lampenschirme, Korbstühle halfen gerne mit, diese Illusion zu erzeugen.

Wenn aber Ricarda Huch, einen Arm auf ein rundes Tischchen gestützt, mit geschlossenen Augen das Sinnieren mimt, während die Unterkante eines Buchs auf ihren Schenkel drückt, so wirkt die Pose nur darum weniger albern, weil der Abzug entkräftet ist und alles auf ihm ins Reich verantwortungsloser Gespenster entblichen. Auch das Gestrüpp, das in der Vase steckt, ist längst ins Totenreich der Pflanzen eingegangen. Wer wollte da noch übelnehmen? Und wächst dem harmlosen Tick, ausgerechnet vor einem Fotografen sinnieren zu wollen, wo man doch höchstens an einen zwickenden Knopf denken kann, nicht so etwas wie Charme zu? Zeit, die sich ausbreitet, weiß wie Knochen, schönt und vergibt jede Albernheit.

Daß Karl Kerényi denkt, womöglich an das leichte Fortlaufen des Lebens der Götter, will ich allerdings gern glauben, da ich von ihm die schwarze Rückenansicht vor mir habe, im Begriff, eine Treppe hinaufzusteigen. Was diesen Glauben bestärkt, ist die enge Gasse, sein Hut, vor allem aber der schwarze Lampenteller schräg über ihm, hoch genug angebracht, um seinen Geist emporzuziehen. Ein Heiligenschein, unter den man treten und den man wieder verlassen kann. Ich stelle mir vor: im Bann dieser Lampe denkt Kerényi an die dionysischen Ledersackriten, und Pause dann, bis ihn weiter oben eine neue Lampe empfängt, die den kindlichen Dionysos in ihm wachruft, wie ihn Mänaden in einem Korb hin- und herschwingen.

Stefan George wiederum denkt nicht, sondern versucht, einen Geist zu zwingen. Die Pose wirkt rabiat, seine Hände sind kurz davor, sich in die Hosenbeine zu krallen. Das Bild könnte Schrenck-Notzing entnommen sein: Materialisationsphänomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie, einem Buch, das damals großes Aufsehen erregte. Und warum nicht George darin? Als Mediumisator, der aus einer Hypnotisierten diese häutigen, hellen, gefältelten Gebilde zieht, die herumschleiern und sich blähen, bis das Gesicht eines Toten erscheint, und wieder zusammensacken. Aus Körperöffnungen und Vorhangschlitzen emanieren gaukelnde Substanzen, sogenannte Pseudomorphosen. Man ahnt, wie sehr das Fotografieren selbst ein zutiefst pseudomorphotisches Unterfangen ist.

Ob eine Pseudomorphose oder nur ein Vögelchen Hans-Georg Gadamers Aufmerksamkeit fesselt, bleibt unbekannt, daß aber zweiundneunzig seiner Greisenhaare irokesisch in die Höhe streben, bezeugt, der Botschaftsverkehr ist intensiv und hat den ganzen Mann. Einer der raren Fälle, da mir die Nahaufnahme von einem Kopf von Vorteil zu sein scheint.

Für gewöhnlich wecken Fotos, in denen ein winziger Mensch in großer Umgebung sich verliert, eher mein Interesse, so etwa der anderthalb Zentimeter große Gerhart Hauptmann im Winterwald, Zauberwald. Das Foto muß von einer Anhöhe aufgenommen worden sein und faßt das Männlein aus einer halbgottfernen Perspektive, noch scharf genug, daß wichtige Utensilien wie Hut und Stock zu erkennen sind. In einem Rätsel von vollendeter Schönheit tappt der Einsame umher, vor ihm eine Schneespur und hinter ihm eine Schneespur, man weiß nicht, ob aus dem Zauberwald herausführend oder für immer in ihn hinein.

Näher ran! heißt inzwischen die Parole, näher ans Gesicht, denn aus jeder Pore scheint ein winziges echtes Lebensetwas zu dunsten. Die abgebildeten Poren sollen helfen, eine veröffentlichte Schrift zu beglaubigen, die man insgeheim für schwach hält. Ihr allein traut man jedenfalls nicht zu, ohne Lebenszertifikat und Konterfei des Autors auszukommen.

Die Kernfrage aber bleibt: wie ein Werk schaffen und es behüten, damit es, kaum entstanden, vom gleichmachenden Strom der Zeit nicht schon mit fortgerissen wird?

Dichter und Romanciers sind gehalten, Veredelung zu betreiben. Das meint nicht, sie sollten ihren Stil oder ihre Fingernägel unentwegt polieren. Langweilen sollen sie sich, langweilen bis auf den Grund der Übel, da selbst die Übel in Nichtigkeit übergehen und der Egoismus ermüdet; dann aber mit entschlossenen Zügen aus dem Meer der Langeweile wieder emportauchen – eine heikle Übung, aus der man veredelt, will heißen: moralisch verfeinert hervorgehen kann. Wird Veredelung ernsthaft betrieben, schließt sie den Menschen mehr und mehr von den bestimmenden Tendenzen seiner Umgebung aus.

Bestimmend für unsere Zeit ist gewiß, daß wir uns von Kindesbeinen an vor Kameras tummeln, die bewegte oder stabile Bilder liefern. Der auf ihn zurückende Fotograf ist daher einer der natürlichen Feinde des modernen Schriftstellers. Seine Botschaft lautet: Dich reihe ich ein in die Schar der Idioten, die sich mittels Bildchen an die ausgestanzte und ins Totenreich geschickte Zeit klammern. Und schon sind wir einen Millimeter weiter in der Ausweidung des Privaten zugunsten des Öffentlichen, entfernen uns vom vielbeschworenen Leben und geistern herum im Totenreich der öffentlichen Mimen, wedeln und werben mit allerlei Posen, viel Lächeln, verhangenen Blicken und stechenden Blicken, auf- und abgezogenen Brillen, bißchen Haut und bißchen Hemd, mit Tattoos, Kahlköpfen, Cäsarfransen, Fönfrisuren und Verlautbarungen zu allem und jedem.

Seit sie Romane schreiben, ist es Jerome D. Salinger und Thomas Pynchon gelungen, Fotografen wie Reportern aus dem Weg zu gehen. Sie sind Helden, tapfere listige Helden, wegen ihrer inoffensiven Renitenz, harmlos und wirkungsvoll, wegen Ich möchte lieber nicht, diesem köstlichen Floh, den uns Bartleby ins Ohr gesetzt hat, der doch der einzig rechtmäßige Schutzheilige unserer Zunft ist.

Ein Künstlerfoto, das mir imponiert, aber nicht in der Ausstellung vertreten ist, zeigt Adolf Wölfli. Mit Zipfelmütze, halb Narrenkappe und halb Nachtmütze, sitzt der Mann am Tisch. Das winzige Foto wird von einem seiner ornamentalen Schlangengebilde umrahmt. Der Text darunter lautet: DIE SCHLANGE, KANN NICHT HABEN; DEN HERBEN UN=GLÜCKS=FALL.

Für alle weiteren Unglücksfälle bietet sich eine vorläufige Ordnung an. Fünf Gruppen, in die sich Dichter und Denker reihen lassen, die sich entweder zur Fotografie geäußert haben oder deren eigene fotografische Präsenz einen Hinweis gibt, wie sie es mit ihr hielten. Widersprüche inbegriffen. Leute, die schreiben, handeln selten nach den Maximen, für die sie glühen.

Zunächst wäre da die erlesene Schar der generellen Fotoverächter: Baudelaire an oberster Stelle, obwohl er seinen zusammengekniffenen Trotzmund von Nadar und Étienne Carjat nur allzu bereit hat ablichten lassen.

Zu nennen sind ferner die Fotoskeptiker, die sich zwar häufig fotografieren ließen, aber von den Zeiten schwärmten, da es noch keine Fotos von Dichtern gab: Vladimir Nabokov, der den Vorzug der Fotolosigkeit im Falle Puschkins hervorhob, führt sie an.

Dann die umfänglichste Gruppe, Leute, die damit hadern, fotografiert zu werden, und dabei jedesmal von einem kleinen Krampf befallen werden, es dennoch geschehen lassen, weil eingefleischter Gehorsam und wispelnder Narzißmus sie immer wieder frisch verführen, Köpfe, Rümpfe, Hände, Stifte, Füller, Bücher vor den Apparat zu halten. Roland Barthes, dieser einsichtsvolle Mann, hat den kleinen Krampf, Kampf um die eigene Erscheinung, wundervoll beschrieben. Hoffentlich tue ich ihm nicht unrecht, wenn ich ihn selbst zu dieser Gruppe zähle.

Es folgen die geborenen Repräsentierer, die sich vor der Kamera aalen oder ihre Fotos extrem stilisieren und sie gezielt einsetzen. Thomas Mann und Hermann Hesse taten es weniger gezielt, Bertolt Brecht hingegen sehr. Auch weniger Berühmte gehören der Gruppe an, wandelnde Granaten etwa wie Arnolt Bronnen, der davon träumte, ein dramatisch umzucktes Kameraleben zu führen.

Zu guter Letzt die Exzessiven: Fotonarren wie August Strindberg und Yukio Mishima, vor deren Abbildeifer einem schwindelt. Auch sie sind in der Ausstellung nicht vertreten; Strindberg nicht mit seinem dekorativ zerwühlten Verzweiflungshaar, Mishima nicht in seiner Nacktheit.

Mit den Kinderfotos fängt es meistens an. Was sind das für berufene Kinder, die uns in den Fotos der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert begegnen! Stumme, berufene Kinder, aus Berufung stumm, in ein hochbedeutsames Dekor gestellt, grübeln sie gehorsam den großen Aufgaben entgegen, die auf sie warten. All die werdenden Ingenieure, Philosophen, literarischen Schwergewichte, todernst und stumm. Man wird einwenden, auf Fotos gebannte Gestalten seien ohnehin stumm. Das stimmt nicht. Man nehme das Bildnis des kleinen Kracauer im Hemdchen und vergleiche es mit einem x-beliebigen Kinderfoto von heute. Heutige Kinder werden als vergnügte Quassler abgelichtet, zukunftsfrei, da nichts und niemand auf sie wartet. Fleischlich und bunt schmollen sie allenfalls ein bißchen. Kracauer und seine kleinen Kumpane wurden in eine große Welt als todernste Bürgen gesetzt, gestellt; steif und stumm, eine Generation von Söhnen, auf die im Erbe der Familie das Erbe der Klasse, des Volks, der Nation, ja, der Menschheit wartete und, wie wir längst wissen, die Buben auf den Bildern aber nicht, auch die Katastrophe von Klasse, Volk, Nation.

Der kleine Manfred Kyber, aus dem ein 1933 gestorbener und heute vergessener Erzähler von Tierfabeln wurde, sinniert mit aufgestütztem Ärmchen über einem aufgeschlagenen Buch, und die Pose gelingt mit solcher Intensität, als wäre das Kind über das Buch, stellvertretend für alle Bücher, längst hinaus. Ein eingefleischter Melancholiker, dem die Bücher nichts anderes sind als Trauervorlagen, da aus ihnen nichts und wieder nichts zu entnehmen ist, schon gar nicht das gute Leben.

Jaja, neinnein, wann immer man sich mit einer Sache befaßt, will sie sich anfangs zertrennen. Neinnein, es ist nicht gut, wenn sich Schriftsteller ablichten lassen. Jaja, es ist doch manchmal schön, wenn es Fotos von ihnen gibt.

Die große Masse an Fotos kümmert mich gar nicht – kaum bemerkt, fortgeblättert, weitergegangen und vergessen. Bei einigen wenigen ergeht es mir so, als wäre die im Bild gefangene Seele geradewegs in meinen Körper gefahren: belebter Blickkontakt, das Geistwesen erwidert meine Sympathie. Und schon strömen subtile Energien zu den Haar- und Fingerspitzen hinaus, bestrebt, den Abgebildeten ins luftige Gehäus meiner Wunschfamilie zu überführen. Deren Mitglieder wirken als meine Blickberater. Ihre skeptischen, traurigen, verwunschenen Blicke geben mir zu verstehen, daß ich dabei bin, wieder eine Dummheit zu begehen.

Solch schwebend zarter, sittigender Kontakt stellt sich aber nur mit Abgebildeten ein, die eine ganze Weile tot sind. Und nur, wenn die Bücher eine verläßlich sympathisierende Erinnerungsspur gelegt haben. Christine Lavants verzehrender Blick aus dem Kopftuch erinnert mich an unsere vornehmste Aufgabe, gegen Gott zu rasen. Oh, wie gut hat sie es vorgemacht, dies Rasen im katholischen Käfig. Auf dem Foto hier zeigt sich meine Allerliebste um einen Grad weniger leuchtend, eine Spur weniger savonarolahaft als auf anderen Fotos. Und schon ist auch Carson McCullers wieder da, nicht in der Ausstellung, aber da, und ihr sanfter Blick löst sich aus der geblümten Tapete, dem geblümtem Sofa, dem geblümten Kleid und will verhindern, daß das Folgende allzu krass ausfällt.

Es wurden nämlich noch keine Fotos erwähnt, in denen die sadistische Falle zuschnappt.

Je größer der zeitliche Abstand, desto geringer der Sadismus. Es juckt mich nicht, gegen Bildzeugnisse des neunzehnten Jahrhunderts zu polemisieren, so wenig mich gegen die Konterfeiten oder deren Werke Abscheu überkommt. Bei den Toten des zwanzigsten Jahrhunderts, die nicht mehr in meine erlebte Zeit ragen, wird die Sache schon kitzliger, wenn auch durch Vernunft beruhigbar. Tote aber, die noch kräftig in der Lebenswelt meiner Eltern und meiner Kindheit herumrührten, können einen geradezu tollhäuslerischen Affekt auf sich ziehen. Uwe Johnson in verschwitzter Lederjacke? Ruft Kampfgähnen auf den Plan. Ingeborg Bachmanns ersticktes Krematoriumsstimmchen, das ich aus jedem noch so harmlosen Foto heraushöre? Sottisen antworten: Wer sich in solchen Rauch hineinlügt, kommt durch die Zigarette um.

Seufzen wir ein bißchen und hoffen, daß es gleich vorüber ist …

Ein Gutes hatte der kleine Anfall. Er macht klar, daß mit dem Betrachten von Fotos nicht nur harmlose Spiele einhergehen. Roland Barthes hatte gewünscht, ein Foto von ihm solle »eine feine moralische Textur und keine Mimik« erfassen, war aber skeptisch, ob so etwas je gelingen könnte. Vor allem wußte er nicht, »wie … von innen her auf [s]ein Äußeres einwirken«,1 damit diese Textur sich zeige. Das rührt an ein prinzipielles Unvermögen: Gott allein kommt es zu, einen Menschen ganz zu erkennen, während die Möglichkeit solcher Erkenntnis zwischen Mensch und Mensch begrenzt ist, gar wenn jemand das Foto eines andern betrachtet, mit dem er persönlich nie in Verbindung stand. In der wirklichen Begegnung können wir uns als begabte Physiognomiker wechselweise begutachten. Die Botschaften der Körper in ihrer Bewegung, Blicke, Stimmen, Worte, Gerüche, flitzen wie die Weberschiffchen hin und her. Seelendurchquerungen finden statt, deren Erträge ständig interpretiert und korrigiert werden. Betrachtet aber ein Lebendiger ein totes Bild, ist das Wechselspiel außer Kraft gesetzt. Das Bild ist der Imagination anheimgegeben; anhaltende Irritation, Widerspruch ausgeschlossen. Und es gelten die Einwände gegen eine physiognomische Deutung, die Kant in seiner Vorlesung über Anthropologie aufgezählt hat: »3. Es ist lieblos. Denn keiner kann sich doch anders bilden, als er wircklich ist.«2 Sehen wir einmal davon ab, daß man den Körper heute sehr wohl anders bilden kann, als er wirklich ist, so trifft der Einwand im großen und ganzen immer noch zu. Betrachten wir das Foto eines Menschen, sind wir jeder Verantwortung enthoben, die wir sehr wohl hätten, befänden wir uns ihm gegenüber oder an seiner Seite. Verantwortung, ihn nicht vom Platz zu drängen, ihm nicht zu schaden, ihn nicht zu töten.

Nun wird man sich dem Portraitfoto eines Schriftstellers für gewöhnlich erst dann widmen, wenn man mit dem Namen etwas verbindet oder seine Bücher gelesen hat. Die physiognomische Deutung trägt also von Beginn an romanhafte Züge. Ein Leser wird, was er aus dem Werk herauslas, ins Gesicht des Autors hineinlesen wollen. Das Gesicht wird für ein Zeugnis genommen, daß jener Mensch wirklich gelebt hat oder lebt und sein Roman, Gedicht oder Drama wahr ist. Was in den Werken erlitten und als Gefühls- und Gedankenbeute in den Kopf des Lesers verschleppt wurde, soll vom Antlitz des Autors beglaubigt werden.

Das Zeugnis des fotografierten Gesichts ist aber dubios. Es kann technisch geschönt sein und faßt nur einen einzigen Moment unter Millionen von Momenten. Eigentlich treten Zeugen vor Gericht auf, sei es vor menschlichen oder göttlichen Gerichten. Eine Aufladung hat der Zeuge als Geschichtszeuge erfahren, vornehmlich, seit es Zeugen des Völkermordes an den Juden gibt. Ihre Autorität nährte sich vom Außerordentlichen des Verbrechens und wirkte so faszinierend, daß es bald jeden drängte, etwas zu bezeugen. Inzwischen ist praktisch jeder Geschichtszeuge, der irgendwann irgendwas aus seinem Leben erzählt, und sei's, daß er bezeugen kann, daß Twiggys Kleidchen kurz waren, ihre Augen groß und ihre Knochen knochig.

Stärker denn je wird die Lebens- und Geschichtszeugenschaft auch im literarischen Werk gesucht, ja, geradewegs von ihm verlangt. Und alle Werbe- und Verkaufsstrategien sind darauf ausgerichtet. Für den Romancier ist es schwierig, nicht auch noch selbst daran zu glauben, es ginge um sein Leben, um nichts als sein Leben. Daß er lebt und wie er lebt, ist zweifellos die Voraussetzung dafür, daß sein Werk existiert und bestimmte unverwechselbare Züge angenommen hat. Der tobende Schwätzer in ihm, dies unsichtbare Wesen, ist aber schwer zu fassen. Weg will der vom Leben, nichts als weg, läßt Fluchttüren aufgehen, hinter denen sich Triebspiele, Wunschdenken, Haßphantasien, Zufälle und ein Hang zu dramatischer Spintisiererei zusammenrotten, um jenes besondere Gemisch zu erzeugen, welches man Literatur nennt. Was solchen Namen verdient, wird sich niemals in die Lebensfolie eines Autors einwickeln lassen. Aber das können die Beglaubigungseiferer nicht hinnehmen.

Selbst das sogenannte wild bewegte Leben, das die Schriftsteller in aller Regel gar nicht führen, hat seine öden Strecken. Ein Roman darf zwar von der Ödnis handeln, sollte aber tunlichst vermeiden, es selbst zu sein. Seine Taten, Ideen, Pläne vollziehen sich in einem eigenen chronologischen Kosmos, der mit dem Leben nicht das geringste zu tun hat.

Als kleine Popanze kleben die Schriftsteller auf den Umschlägen ihrer Bücher oder schwirren in allerlei Medien um sie herum. Ist sein Werk bedeutend, der Schriftsteller länger tot und die Zahl der zirkulierenden Fotos gering, wie zum Beispiel im Falle Franz Kafkas, ist ja vielleicht noch alles gut. Gibt es aber Fotos die Menge, womöglich noch Tonaufnahmen und Filme, so kann diese synthetische Lebenssymphonie zu einer Stärke anschwellen, die das Werk zum Schweigen bringt.

Thomas Mann selbdritt ist hier in einem Foto zu bewundern: sein Portrait im Schaufenster einer Buchhandlung, er selbst, diese verlassend, sowie Frau Thomas Mann, ihn begleitend. Ich bin froh, daß ich seine Romane zu einem Zeitpunkt genossen habe, da ich wenig über ihn wußte. Um erneut zu ihnen vorzudringen, müßte ich Thomas Mann, Katia Mann, Klaus, Erika, Golo, Monika, Michael, Elisabeth und natürlich auch Heinrich Mann hinter mich bringen, erst recht die omama- und opapahaften Harmlosigkeiten Breloers – eine Anstrengung, vor der ich kapituliere, sobald ich einen seiner Bände aus dem Regal ziehen will. Wie immer entscheidet das Maß, ab wann Schaden eintritt. Bei Thomas Mann ist die Grenze gewiß überschritten, nicht mit dem lustigen Foto vor der Buchhandlung, im ganzen aber schon.

Noch einmal anders liegt die Sache, wenn wir Fotos von Schriftstellern betrachten, die leben. Nein, unsere Zeitgenossen bergen kein wirkliches Geheimnis, so verschieden ihre Verhältnisse auch sein mögen. Sie blicken mit blinden Augen in dieselbe Welt und hören mit tauben Ohren dieselbe Kakophonie. Ihre Liebesverwicklungen? Bekannt! Ihre Urteile? Schon x-mal gehört! Da sie den Hauptstreich – Ernst Jünger sagte zu Recht vom Sterben, allein darin werde jeder zum Genie – noch nicht geführt haben, konnte sich ihr Leben nicht zu einem Geheimnis verkapseln. Wer lebt, ist da und kann belangt werden. Die Toten sind uns entwischt. Erst die tote Person und ihr am Leben gehaltenes Werk werden allmählich frei, auf daß sich unsere Sympathie- und Abneigungsspiele neu sortieren.

Das veröffentlichte Foto eines Zeitgenossen hat noch keinen Isolierschutz, seine Albernheit, die Strategien, denen es sein Entstehen verdankt, treten offen zutage. Es weiß noch nicht, wohin mit sich, schwankt zwischen dem Personenkultischen eines Staatsportraits und der Sekundenberühmtheit, wie sie Andy Warhol für jedermann proklamiert hat. Die feine moralische Textur aber, die sich Roland Barthes wünschte, sucht man darauf vergebens.

Zweifellos erwecken Fotos von Toten als Tote die größte Neugier. Ich wünsche mir jetzt, Kant wäre an meiner Statt hier und zählte auf seine trockene Art die Gründe her, weshalb man Tote nicht fotografieren darf. Den toten Benn etwa, im Leben so bemüht, sich hart zu geben. Als Leiche liegt da bloß ein harmloser Pummel. Und hat er nicht den Mund offen, nur ein bißchen zwar, aber gerade offen genug, daß ein Schnuller darin Platz fände?

Zum Schluß ein Wunsch, kindisch und unerfüllbar, also ein kindlicher Erwachsenenwunsch: Es ist ja unser gröbster Fehler, daß wir nicht mit Tieren sprechen können. Wie sehr bewundere ich die Dinkas, deren Hirten, als sie noch nicht vertrieben und zusammengeschossen wurden, für ihre Kühe Lieder dichteten und sie ihnen vorsangen. Natürlich sind die Tiere Mittler zwischen uns und unseren Ursprüngen. Es tut gut, wenn wir von ihnen beobachtet werden und uns mit einem sanftmütigen Gesang bedanken, den wir für ihre Ohren komponierten. Einige Dichter verstehen es, in einem melodischen Weißnichtwie und Weißnichtwoher an diese Ursprünge zu rühren.

Nehmen wir einmal an, beim Aufkommen der Fotografie hätten die Dichter sich selbst und auch die Romanciers davon überzeugt, sich nur mit Tiermasken ablichten zu lassen, und sie hätten diesen Entschluß bis heute eisern durchgehalten – wie großartig stünde es um unsere Zunft! Lesungen, wenn überhaupt, mit Tierkopf. Interviews, wenn überhaupt, mit Tierkopf. Stellen Sie sich bitte vor: Peter Handke, der Spatzen liebt und ihnen die muntersten, zwitschrigsten Passagen seiner Prosa gewidmet hat, weilte in der Öffentlichkeit als Spatzenschönheit unter uns. Wäre das nicht wunderbar?

Die französischen Pataphysiker, die so gute Ideen haben, kommen mit ihrer Entscheidung leider etwas spät, als sie im April 2000 Seine Magnifizenz Lutembi zum Vorsitzenden ihres Collèges wählten – ein Krokodil von den Ufern des Victoria-Sees. Leider wirkt die Rede, die sie Lutembi zwischen die Zähne legten, etwas steif. Aber, wie gesagt, die Pataphysiker haben erstklassige Ideen. Um dem Fotodilemma zu entkommen, ließen sie von ihren Mitgliedern spiralförmige Portraits anfertigen. Die Spirale reißt das Gesicht in einen Strudel. Und dieser Strudel wiederum hat den Darmstrudel zum Vorbild, die Spirale, die Père Ubu auf seinem Bauch trug. Voilà, die Franzosen! Schauen wir zur Abwechslung doch wieder mal auf die Franzosen!

Stefan Georges Haare

Was? Die zwei Büschelchen – Büschel ist schon irreführend, denn dafür sind sie zu wenig üppig – sollen aus Stefan Georges Haar geschnitten sein? Diese gelblich hellbräunlichen, paar Zentimeter kurzen Schnipsel? Wir kennen das Äußere des Meisters ja nur von Schwarzweißphotographien her. Auf ihnen sieht sein Haar schlohweiß aus, geradezu lodernd weiß. Und nun diese schmutzfarbenen Schnipsel im Tütchen. Wüßte man nicht, daß die Marbacher ihre Asservaten gewissenhaft verwalten und Irrtümer bei ihnen wenig wahrscheinlich sind, glaubte man sofort an Falschhaar, untergeschoben von einem Witzbold, der das Haar seiner Großmutter für eine Reliquie des Dichters ausgab.

Stefan George ist ohne sein Haar nicht Stefan George. Rascher als an seinem priesterähnlichen Rock, der hageren Gestalt, von der immer bewundernd vermerkt wurde, wie aufrecht sie sich hielt, wird man ihn an seinem Haar erkannt haben. Vor dem Gesicht noch, welches einprägsam genug war, kam das Haar, als eine lodernde und zugleich fest gebaute Größe.

Wir kennen Autorenportraits sonder Zahl: die schüchternen, die überlegenen, die raffinierten; all die witzigen, hochmögenden, schwindlerhaften Poseure, die im Geistermedium der Photographie überlebt haben. Fernando Pessoa, der uns im Photo entgegenkommt, als habe er die Kurve zu schnell genommen. Franz Kafka mit seinen überseelenvollen Augen und dem sphinxhaften Lächeln, immer im Rückzug begriffen. Unvergeßlich die extrem gespannten Trotzposituren, in die sich Rudolf Borchardt zu werfen pflegte und damit wie eine wütige Granate aus fast jedem seiner Bildnisse herausplatzt.

Stefan George ist vielleicht der einzige Autor, der auf Photos so wirkt, als habe er sich niemals bewegt. Nicht einen Millimeter. Reptilienhafte Reglosigkeit, und nur ein kleines Pochen am Hals, das man sich als Andeutung hinzudenken mag zum Beweis, daß dieses sonderbare Geschöpf tatsächlich lebte. Ihm ist das Anhalten des Bildes gelungen wie sonst keinem; er hat sich in eine freiwillige Gefangenschaft begeben und Schreckbilder von sich geliefert, die bis heute seinen Ruhm untermauern.

Stellen wir uns den schmächtigen Mann mit den zarten Händen für einen Augenblick mit wenigen dünnen oder wirblig umherstehenden Haaren vor, die sich zu keiner wohlgeordneten Frisur bändigen lassen. Wir ahnen, daß einem solchermaßen veränderten George die Scheidung zwischen rein und unrein weniger durchgreifend gelungen wäre. Gewiß, seine Seelenmacht hätte auch im Okkulten geblüht, und die überaus elegante Erzwingungstechnik, über die sein poetisches Genie gebot, rauh Gebrocktes und elegisch Flüssiges in fahler Trance zu vereinen, hätte seine Gedichte zu ebenjenen Wundergebilden gemacht, die sie unverändert sind.

Aber – wir kommen in dieser von zwei Haarhäufchen angezogenen Einlassung leider nicht ohne ein dezidiertes Aber aus – da ich dies niederschreibe, überzeuge ich mich immer fester davon, daß es Georges starrer Schopf war, Schopf, aus dem kein Härchen auf eigene Rechnung wegstreben durfte, der ihn dazu verleitet hat, nicht einfach nur Gedichte zu schreiben, sondern diese nach Aufmachung, Schriftart, Anordnung in einen ganz besonderen Rahmen zu stellen, sie gleichsam darin einzuschreinen. Prompt, wenn man alles, aber auch wirklich alles bestimmen will und auch all dies Bestimmte in Erfüllung geht, geht etwas schief. Jeder Dichter von Rang wird von der Furie der Besonderheit umgetrieben, aber über keinen sonst ward verhängt, in derart kunstgewerblicher Aufmachung zu erscheinen, mit hochgeschürzten Punkten und weichgebogenen Lettern, von der affigen Kleinschreibung gar nicht erst zu reden.

Hier ist nicht der geeignete Ort, die schöne Theorie, daß der Mensch Botschaften Höhererseits nicht nur mittels der Ohren, sondern auch mittels seiner Haarspitzen empfängt, zu entfalten und zu begründen, noch weniger, wie bestimmte Frisuren den Botschaftsverkehr einschränken, andere ihn befördern. (Theorie, der ich mit Leib und Seele und natürlich auch Haaren anhänge.) Sie mag abenteuerlich sein, aber gewiß weniger abenteuerlich als zum Beispiel die Lehre von der Trinität, deren Subtilitäten gewagter sind als das Spalten und Verzwirbeln von Engelshaar.

In keinem Fall ist es gleichgültig, wie ein Mensch sein Haar trägt oder ob er überhaupt welches hat.

Von der »üppigen Chevelure, der starren Haarwelle«, der Art, »wie er die Mähne baute«, wissen die Feinde Stefan Georges wortreich zu erzählen. Der minderbehaarte Rudolf Borchardt, furiosester Polemiker deutscher Zunge, bekannte, »George habe sich ihm an die Wand und in die Luft, in seinen Goethe und seinen Sonnenaufgang geschrieben«,1 was ihn nicht davon abhielt, den Mann und Meister glutvoll zu hassen. Persönlich ist er Stefan George nie begegnet, blieb aber durch immer frisch geschürten Nahhaß lebenslang an ihn gebunden. Ein Meister in Deutschland sein, ist bekanntlich eine heikle, um nicht zu sagen gefährliche Angelegenheit. Für den Meister selbst, seine Jünger und Opfer. Borchardts Behauptung, er habe den »Verschwörer der Verschworenen« eines Nachts in Berlin beobachtet, wie er allein ging, in ein pfauchendes, kollerndes Selbstgespräch verwickelt, »von Zeit zu Zeit zornige Stockhiebe gegen das Pflaster führte, ein jäher, nichts um sich her wahrnehmender, mit etwas Eingebildetem ruckweis kämpfender Mann«,2 darf man getrost ins Reich der Erfindung weisen. Viel zu sehr ähnelt das Bild Borchardt selbst, als daß man ihm trauen dürfte. Da sah der erzgescheite, erzverrückte Gewittermann sein Alter ego auf der Straße laufen, oder, was noch wahrscheinlicher ist, er schwindelte sich die Szene in späteren Jahren einfach ins Hirn, gab sie als Anekdote zum besten und glaubte fortan daran.

Trauen sollte man in Sachen Stefan George keinem, den Jüngern nicht und seinen Gegnern erst recht nicht. Traulich sollte man die Gedichte hervorziehen und sich an ihnen erfreuen.

Robert Walser

Im Schnee

Robert Walser endigte im Schnee. In den Fußtapfen, die er selbst hinterlassen hatte und die den Weg zu seinem Körper wiesen, hatte sich Tauwasser gesammelt und den Grasboden freigelegt. Sie sind deshalb auf der Photographie, die Untersuchungsrichter Kurt Giezendanner angefertigt hat, schwärzlich. Es ist aber so ziemlich die einzige Unreinlichkeit, die man dem Dichter nachsagen kann.

Sein Tod hätte es verdient, in ein Lehrbuch über mustergültiges Sterben aufgenommen zu werden. Da wird oft fahrlässig von der Würde des Sterbenden geschwatzt, womit es meistens nicht weit her ist. Im Gegenteil, nur allzuoft wird in quälend umständlichen Etappen auf den Tod zugeschlichen, werden Angehörige und Personal verhaftet, um bis zum letzten Atemzug gierig von deren Kraft zu zehren. Anders herum gefällt es dem Tod, einen groben Griff zu tun und den Menschen bis auf die Knochen zu blamieren. Nichts davon bei Robert Walser. Er gehörte zu den taktvollen Leuten, die darauf verzichten, ein Todestheater aufzuführen. Seine lang trainierte Nachgiebigkeit bot dem Tod keine Kampffläche, so daß dieser nicht mehr tun konnte, als ihn gelinde zu schubsen. Ein Pedant könnte einwenden, es sei aber ein leichtes Verkrallen der linken Hand bemerkt worden, von Kampflosigkeit könne also nicht die Rede sein. Ich mag keine Pedanten, deshalb gibt es auf solchen Unsinn auch keine Antwort. Als der Körper verbraucht war, fiel er in weiche, kühle, unbefleckte Materie. Lieblingsmaterie aller kindlichen und sanften Naturen. Schnee liegt in Walsers Texten reichlich herum. So manches Prosastückchen lang schneit's und schneit's, und immer ist es willkommen als ein »liebes dichtes Schneien«,1 Von niederschwebenden Flocken wird die Lehre empfangen, daß es schön sein könnte, mit ihnen zu fallen und sich nicht mehr aufzuraffen.

Im Schnee endigen bedeutet einen Tod haben von größter Reinheit und Diskretion. Niemandem wird ein Leidwesen aufgedrängt, keiner durch Geruch, Todesschmutz oder bizarre Grimasse behelligt. Den toten Robert Walser im Schnee finden heißt einmal keinen Albtraum bekommen von einem Toten, sondern den Traum von Frieden und Ruhe und blendend weißem Gefieder an seiner Seite träumen.

Vergessen wir nicht, daß dem toten Dichter der Hut vom Kopf gerollt ist. Im Hutabnehmen liegt eine Respektbezeugung. Im Huthochwerfen ein Juhu. Der Hut lag gerade noch weit genug vom Kopf entfernt, daß der Fall als Werfen hätte durchgehen können. Was aber nicht wahrscheinlich ist. Natürlich hat ein Psychopomp dafür gesorgt, daß der Hut vom Kopf kam und in angemessener Entfernung liegenblieb, um die Transgression in bestmöglicher Form, will heißen: höflich, ehrerbietig, eben rundum der Form genügend, zu gewährleisten.

Robert Walser ist vorbildlich gekleidet ins Totenreich gelangt, hat seinen Hut wieder zur Hand genommen, ihn abgeklopft und brav gewartet, wie's weiterging. Und weiter ging's auf spazierlustigen Beinen, denn warum sollte Robert Walser dort von seiner Lieblingsgewohnheit abgekommen sein? Nichts Schöneres, als im Gefild wandern zu dürfen, im Besitz umfassender Agilität. Ohne das Triebgepolter im Hirn, ohne von den Lippen platzende Flüche, die ihn zu Lebzeiten förmlich hinausgejagt und zu Gewaltmärschen gezwungen hatten.

Solange wir seinen Tod nicht kennen, wissen wir wenig von einem Menschen. Deshalb bleibt es eine ausgemachte Dummheit, über Dichter schreiben zu wollen, die noch lebendig sind. Der Schneetod des hier in Rede stehenden Mannes gehört zu den vielen Schönheiten, die dieser unablässig aus dem Ärmel schüttelte. Er ist vielleicht seine größte. Gewalt und Schmutz mit Hilfe ornamentaler Beschwörungsformeln in Schach zu halten und jeden verwilderten Seitentrieb noch rechtzeitig erwischen, um ihm ein Camouflagehäubchen aufzusetzen, ist eine Sache. Aber dem Tod, diesem großen Schmutzian, Paroli zu bieten, etwas anderes. Beides ist dem Mann gelungen. Verneigen wir uns in Respekt und behalten ihn lieb!