3Günter Frankenberg

Autoritarismus

Verfassungstheoretische Perspektiven

Suhrkamp

Für Alani und Sophie

7Vorwort

Die Karriere des politischen Autoritarismus im letzten Jahrzehnt wirft Fragen auf. Mit einer vergleichenden Studie zum autoritären Konstitutionalismus[1]  sollten einige von ihnen beantwortet werden. Den dort versammelten Autor*innen, insbesondere Helena Alviar García, Roberto Gargarella, Duncan Kennedy und Norman Spaulding, danke ich für intensive, lehrreiche Diskussionen. Dass sich aus meinem Aufsatz dort dieses Buch entwickelte, wäre ohne Klaus Günthers nachdrückliche Empfehlung und ohne unseren Gedankenaustausch auf dem Offenbacher Marktplatz der Ideen nicht jetzt, jedenfalls nicht so geschehen. Maximilian Pichl und Eric von Dömming haben das Projekt mehr als hilfskräftig unterstützt. Zudem hat Maximilian Pichl eine kritische Durchsicht auf sich genommen und eine Vielzahl von Änderungen angeregt. Während der Produktionsphase haben mir zahlreiche Kolleg*innen Gelegenheit für Testläufe gegeben; dankbar bin ich daher Armin von Bogdandy und seinem Team, Andreas Engelmann, Ratna Kapur, Hans Lindahl, Russell Miller, Horatia Muir Watt, Fernanda Nicola, Ulrich K. Preuß, Enno Rudolph, Peer Zumbansen und vor allem Uwe Volkmann. Für ihre spontane Bereitschaft, das Buch in die Reihe stw aufzunehmen, danke ich Eva Gilmer. Desgleichen Philipp Hölzing für das gründliche Lektorat des Manuskripts.

Apropos Kolleg*innen: Im weiteren Verlauf werde ich die »Genderisierung« maßvoll, manche mögen sagen inkonsequent, vornehmen und möchte dies kurz erläutern. Wo es historisch und aktuell empirisch absurd wäre zu »gendern«, vor allem beim Personal des Autoritarismus (Autokraten, Despoten, Diktatoren, Führer, Sklavenhalter usw.), werde ich, wie ich denke, aus guten Gründen, darauf verzichten. Desgleichen bei Begriffen, die im jeweiligen Anwendungsfall keine Person bezeichnen oder aber generell ein personales Substrat nicht zwanglos oder nicht ohne Ambivalenz zu erkennen geben (wie etwa Träger), um irreführende Subjektivierungen zu ver8meiden. Diesen Gender-Modus halte ich deshalb für gerechtfertigt, weil er die These stützt, dass Autoritarismus maskulin konnotiert ist und nicht selten durch Formen zur Herrschaft gekommener Maskulinität konstituiert wird.

Dieses Buch widme ich meiner Familie, angeführt von meinen Enkelinnen Alani und Sophie. Ob sie einst sagen werden, der Autoritarismus sei in diesem Jahrhundert nur ein Spuk gewesen?

Offenbach am Main, Juni 2019, G.F.

9Einleitung

»Eine Regierungsherrschaft nähert sich der Vollkommenheit, je mehr sie durch die Kraft ihrer Verfassung die Untertanen, und selbst die am wenigsten tugendhaften, dazu bestimmt, freiwillig zu tun, was das Gemeinwohl erfordert …«[1] 

Alle weltgeschichtlichen Ereignisse von Bedeutung geschehen zweimal, heißt es. Ebenso treten alle historischen Personen ebenfalls zweimal auf. In diesem Punkt waren sich Hegel und Marx weitgehend einig. Marx fügte präzisierend, wie er meinte, hinzu: »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«.[2]  Vorsicht legt nahe, zwei Geistesgrößen nicht gleich am Anfang zu widersprechen. Also soll es zunächst bei einigen Fragen bleiben: Wäre demnach die rechtspopulistische Ehe von Cinque Stelle und Lega[3]  in Italien die Farce zur Tragödie des italienischen Faschismus, die Benito Mussolini und seine Schwarzhemden schrieben? Erlebt Ungarn derzeit mit Viktor Orbán, ebenfalls als Farce, den Wiedergänger der stalinistischen Tragödie unter Mátyás Rákosi?[4]  Geradeso wie 10Donald Trump Erinnerungen an Richard M. Nixons Tragödie der Demokratie wachruft? – Nicht wirklich. Oder genauer: nicht in jeder Hinsicht.

Der strenggläubige Sunnit Sultan Selim I. regierte das Osmanische Reich von 1512 bis 1520.[5]  In seiner Regierungszeit verdiente er sich allemal das Prädikat »der Gestrenge und Grausame«: Er entmachtete seinen Vater, ließ nach der Übernahme der Macht seine Brüder und Neffen hinrichten, bekämpfte die Schiiten und Alewiten, führte Krieg gegen Persien und ließ es, auch in Friedenszeiten, an weiteren Grausamkeiten nicht fehlen. Würde Marx dies als die Tragödie bezeichnen, zu der Recep Tayyip Erdoğans autoritäres Regime heute die Farce als Nachspiel gibt? Vermutlich sähe der türkische Präsident sich nicht ungern als zeitgemäße Version jenes strenggläubigen osmanischen Herrschers. Nachdem die türkische Gesellschaft sich selbst unter Kemal Atatürk einen neuen Inhalt erobert hatte, scheint nun »der Staat zu seiner ältesten Form zurückgekehrt, zur unverschämt einfachen Herrschaft von Säbel und von Kutte«.[6] 

Dennoch mag man der verführerischen Metapher von Farce und Tragödie, erst recht ihrer Abfolge nicht trauen. Und selbst wenn die Sequenz sich umkehren ließe – beim Wechsel von Hugo Chávez zu seinem Nachfolger Nicholás Maduro in Venezuela wäre das wohl angezeigt –: die Opfer einer Farce werden gegen die Marx’sche Umdeutung von Hegel Widerspruch einlegen. Das wohl zu Recht.

Autoritarismus: Apocalypse now?

Bliebe das 20. Jahrhundert als Epoche der Menschenrechte in Erinnerung, ließe sich dem nachfolgenden Jahrhundert ohne weiteres der Durchbruch der liberalen Demokratie gutschreiben. Freilich werden beide von tiefen Schatten verfinstert. Staatlich organisierte Vernichtung, Gewalt, Massaker, Folter und Vertreibungen haben sich in die Bilanz des vergangenen Jahrhunderts eingetragen.[7]  Und 11es fehlt nicht an Hinweisen, dass autoritäre Regime seit geraumer Zeit auf dem Vormarsch sind, wenn sie nicht bereits seit langem im Hintergrund oder im Mantel der Normalität auf ihre Stunde gelauert haben.

Die Renaissance des politischen Autoritarismus,[8]  ja des »Aufstiegs einer neuen autoritären Internationalen« oder der Globalisierung des Autoritarismus,[9]  von der allenthalben die Rede ist, lässt sich beziffern. Nach dem Transformationsindex BTI der Bertelsmann-Stiftung wuchs die Bevölkerung in Autokratien von 2003 bis 2017 von 2,3 auf 3,3 Milliarden, und derzeit 58 von 128 Staaten werden als Autokratien geführt.[10]  Demokratien verzeichnen dagegen nur einen bescheidenen Bevölkerungszuwachs von 4,0 auf 4,2 Milliarden. Andernorts zählt die quantitative Forschung dieser Tage sogar mehr autokratische als demokratische Regime und Verfassungen.[11]  Nach den meisten vorliegenden Untersuchungen wird die Mehrheit der Gesellschaften wohl (noch) demokratisch regiert. Ein eher schwacher Trost.

Kein Wunder also, dass neuerlich ein apokalyptischer Ton zu vernehmen ist. Seine Träger begnügen sich nicht damit, die ohnehin erschreckenden Zahlen zu nennen, sondern folgern aus dem autoritären Immer-Mehr – nach Art einer Nullsummenrech12nung – ein Immer-Weniger an Demokratie: die »Umkehrung von 1989«, Gefährdungen der Freiheit, der Zerfall, die »Entleerung«, das »Schwinden« oder gar der »Tod« der Demokratie.[12] 

In Europa, das sich als Union auf gutem Weg zu Wohlstand, Demokratie und einem langen, fast schon »ewigen Frieden« wähnte, an dem Kant[13]  seine Freude gehabt hätte, zeigen sich – in seinem Zentrum und an der Peripherie – neue Phänomene des autoritären Konstitutionalismus und der Missachtung von Demokratie und Menschenrechten. Präsidialkabinette, Übergänge zu autoritären Entscheidungsverfahren[14]  in Finanzkrisen, nationalradikale, sich dem »wahren Volk« andienende Regierungsparteien treten als Gespenster einer Vergangenheit auf, die längst gebannt schien, aber nicht vergehen will. Sie werden begleitet von außerparlamentarischen Bewegungen und von noch nicht organisierten Mentalitäten, 13die die Flucht ins Autoritäre angetreten haben oder der autoritären Versuchung bereits erlegen sind.[15] 

Im Bermuda-Dreieck von Rasse, Ethnie und Nation verbündet sich das organisierte Ressentiment gegen Fremde und Eliten mit Intoleranz gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, die als »Minderheiten« geführt werden.[16]  Autokraten greifen nach der Macht und der Verfassung. Selbst in Gesellschaften, die es besser wissen sollten und den Anschein erweckten, auf dem Weg zu einer nachhaltigen Demokratisierung zu sein, wie Polen und Ungarn, fahren antidemokratische Rhetorik und offen propagierte Illiberalität erhebliche Wahlerfolge ein. In Italien stellte eine bizarre, als rechtspopulistisch bezeichnete Koalition, vereint im Affekt gegen Eliten, Fremde und Brüssel, bis Mitte 2019 die Regierung. Frankreichs nationalistischer Rassemblement National, vor 2018 Front National, hofft in einer durch die Wahlniederlage gekränkten Opposition, die Proteste der »Gelben Westen« könnten zum Sturz der Regierung Macron führen und dann ihnen selbst die Macht in den autoritären Schoß legen.

Unter Hilfestellung eines antiquierten Wahlsystems erlagen die USA 2016 »mehrheitlich« der autoritären Versuchung. Präsident Donald Trump demonstriert seitdem, wie zügig es gelingt, in einer Demokratie, von der es hieß, sie sei gefestigt, das rhetorische Arsenal des Autoritarismus zu öffnen und sich dessen Waffen zu bedienen. Er demonstriert seit seinem Wahlsieg, wie leicht sich eine (vielleicht hierfür ohnehin anfällige) politische Kultur durch die Normalisierung rassistischer, sexistischer und xenophober Ausfälle regierungsamtlich vergiften und die Stimmung eines Belagerungszustandes herstellen lässt.

Wenn man von bizarren Trägern und Versionen des politischen Autoritarismus absieht, wie (bis vor wenigen Jahren) Robert Mugabes postkolonialer Diktatur der Grausamkeit in Zimbabwe, dem postsowjetischen Despotismus eines Gurbanguly Berdymuhamedow in Turkmenistan oder dem absolutistischen Zentrum des islamisch-wahhabitischen Fundamentalismus in Saudi-Arabien, fällt der Blick auf Regime, die den weniger auffälligen und deshalb nicht 14weniger gefährlichen Standard des Autoritarismus markieren. Zu denken ist etwa an Russland, Weißrussland, Thailand, Kambodscha, Iran, Bangladesch, Burundi, Ruanda, Pakistan, Libanon, Türkei, Uganda, Mosambik, Malaysia, Ägypten, Polen, Ungarn, Indien (Modi) und viele mehr. Einzurechnen in diese Gruppe wären geschickt taktierende Militärregime (in Myanmar) oder auch der eben gewählte brasilianische Präsident und Oberst der Reserve Jair Bolsonaro, der aus seiner Bewunderung für Militär, Folter und sonstige Gewalt keinen Hehl macht. Gewählt von der Mehrheit, darf er sich anschicken, nach dem »lawfare« gegen den früheren Präsidenten und aussichtsreichen Gegenkandidaten Lula, die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 nunmehr als äußerlich ziviles, im Kern autoritäres Militärregime neu aufzulegen.[17]  Nicht zu vergessen sind zur Autokratie mutierte, ehemals revolutionäre Kader, wie Daniel Ortega in Nicaragua, der nun um seine Macht ringende Nicholás Maduro in Venezuela oder vor kurzer Zeit noch die Präsidenten Thabo Mbeki und ihm folgend Jacob Zuma in Südafrika.

Die Frage der Verfassung

Was soll eine Verfassung in einem autoritären Regime, wo doch Repression, Massenmorde, Schauprozesse, Folter, Deportationen, Inhaftierungen, Praktiken der Diskriminierung und Einschüchterung (nicht alle Maßnahmen überall in gleichem Maße) ohne weiteres möglich sind und vielerorts stattfinden? Hat »Verfassung« etwas zu sagen, oder gilt sie nur als ob? Und wenn sie etwas zu sagen hat: an wen wendet sich eine Verfassung im autoritären Umfeld? Leitet sie die Regierungspraxis an und findet sie statt, oder beliefert sie nur die Propaganda mit Rhetorik und schönem Schein?

Angesichts der tiefen Abneigung von Autokraten gegen ihre gerichtliche, parlamentarische, mediale und gesellschaftliche Kontrolle, gegen politische Risiken und einklagbare rechtliche Verpflichtungen stellt sich die Frage, warum sie sich einer Verfassung unterwerfen, und sei es auch nur symbolisch. Warum beugen sie sich den Vorschriften eines Gründungsdokuments, wenn am Ende 15des Tages konstitutionelle Zwänge abgeschüttelt, missachtet oder manipuliert werden (können)? – Das führt zu dem Thema zurück, mit dem sich nicht nur die Wissenschaften seit Generationen, genauer: seit den Zeiten des Alten Testaments, gequält haben: Warum unterwirft sich ein allmächtiger Gott einem Abkommen? Warum leistet eine Gesellschaft einer Verfassung Gehorsam, die von der verfassunggebenden Gewalt einer vergangenen Generation ins Werk gesetzt wurde? Diesen Fragen – oder vielleicht: dem von ihnen verdeckten Paradox – werden die folgenden Überlegungen nachgehen.

Im Herzen der Finsternis des Autoritären könnte sich ein Paradox verbergen, das Abscheu und Faszination kombiniert. Unter der diskursiven Hegemonie des Liberalismus wird diese Zwiespältigkeit verdrängt, von der Strahlkraft des liberalen Konstitutionalismus wird sie nicht ausgeleuchtet, sondern eher verschattet. Angesichts der beängstigenden Ausbreitung des politischen Autoritarismus erscheint es angebracht, die eingeübte liberale Dominanzperspektive zu suspendieren, um autoritären Konstitutionalismus als Phänomen eigenen Rechts aus der Nähe zu betrachten und um ihn durch Kritik wieder auf Distanz zu halten, nicht aber wie so oft nur als Schwundstufe des Liberalismus oder als demokratisches Defizitmodell, als das ganz Andere des liberal-demokratischen Konstitutionalismus, sondern so, »wie das ganz Andere grundsätzlich erkannt werden kann, ohne etwas von seiner Andersartigkeit zu verlieren; das sehr weit Entfernte enorm nah sein kann, ohne weniger weit weg zu sein«.[18] 

Gang der nachfolgenden Überlegungen

Das Programm der Annäherung und Untersuchung, Kritik und Zurückweisung des politischen Autoritarismus wird im Folgenden aus einer vorwiegend verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Perspektive in Angriff genommen. Im Anschluss an diese Einleitung wird zunächst die Frage der Verfassung gestellt (I.). Dass und wie sich Autokraten eine Verfassung geben, sollen einige historische Szenen und Verfassungsprojekte illustrieren. Dabei bleibt das Warum freilich unbeantwortet. Denn zu klären ist 16vorab, erstens, dass und wie sich autoritäre Regime des konstitutionellen Narrativs bedienen als einer Art und Weise, die Wirklichkeit zu sehen und zu verstehen; zweitens ist zu untersuchen, welche Leistungen, die Verfassungen erbringen (können), auch autoritären Regimen entgegenkommen; schließlich ist, drittens, zu fragen, wie der autoritäre Konstitutionalismus die magischen Kräfte, die Verfassungen zugeschrieben werden, regressiv einsetzt, um Herrschaft wie einst im Ancien Régime zu personalisieren und den abstrakten Verfassungs- und Rechtsgehorsam in eine persönliche Gehorsams- und Treuepflicht der Beherrschten (»Führer befiehl, wir folgen dir«) zu transformieren.[19] 

Daran schließt (II.) der Versuch an, die schwierigen Begriffe und Verhältnisse von Macht und Autorität, von autoritären und totalitären Regimen so weit aufzuhellen, dass sie diese Studie zum autoritären Konstitutionalismus mit einigem Gewinn, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit leiten können. Autoritarismus fungiert danach als Kollektivsingular weniger für Einstellungen, psychische Dispositionen[20]  und Erziehungsstile als für Staatsformen, Machtkonzeptionen und Staatstechniken.

Das Verhältnis von Macht und Autorität bestimmt auch das Spektrum und die Pathologien des politischen Autoritarismus. Der Fokus auf den Konstitutionalismus, wenn dessen autoritäre Varianten untersucht und kritisiert werden sollen, setzt voraus, zu jener liberalen Orthodoxie auf Distanz zu gehen, die meint, autoritäre Verfassungen seien bloße Fassaden oder aber Konstitutionen ohne Konstitutionalismus und hätten folglich zum Verständnis des »eigentlichen« Konstitutionalismus nichts beizutragen (III.). Dieser Jargon der »Eigentlichkeit« wird mit einigen der von ihm verhüllten autoritären Momente konfrontiert, nicht um Liberalität oder demokratische Strukturen und Ideen zu desavouieren. Es geht vielmehr darum, den gedanklichen Raum zu öffnen für eine robuste Analyse möglicher anderer Funktionen von Verfassungen als die, Rechte zu gewähren oder Gewalten zu teilen, deren sich autoritäre Regime gerade bedienen könnten.

Die nachfolgenden Kapitel (IV.-VII.) tragen Bausteine des autoritären Konstitutionalismus zusammen. In ihrer Gesamtheit bilden 17diese wesentliche Elemente, die sich in diversen Kombinationen und mit unterschiedlicher Ausprägung – je nach historischem Kontext und politischer Konstellation, Kultur und Ökonomie – den Varianten des politischen Autoritarismus und den Verfassungen autoritärer Regime aufprägen. Am weitesten verbreitet ist die Staatstechnik des autoritären Konstitutionalismus (IV.). Unter »Staatstechnik« verstehe ich im Anschluss an frühere Arbeiten die Gesamtheit der Praktiken, Normen und Prinzipien, Formen des Wissens und Fähigkeiten, Kalkulationen, Strategien und Taktiken, die staatliche Akteure und Institutionen bei ihren Operationen in Anschlag bringen.[21]  Autoritäre Staatstechnik oder Methoden der Machtausübung zeichnen sich nicht allein durch die Verschiebung der Gewichte auf die Exekutive aus, sondern auch durch ihren konstitutionellen Opportunismus und ihre Vorliebe fürs Informelle. Opportunismus ist darauf angelegt, Machtansprüche zu legitimieren und autoritärer Herrschaftspraxis die Dignität des Rechts zu verleihen. Informalismus heißt, autoritäre Regime operieren im Schatten der Verfassung, an Formen und Verfahren nicht gebunden, zwischen Gesetzesherrschaft und Willkür, immer auf Tuchfühlung mit dem Ausnahmezustand.

Ein weiteres Merkmal des autoritären Konstitutionalismus ist die intime Beziehung zwischen Macht und Eigentum (V.). Das heißt konkret: Autokraten betrachten ihre durch Wahl oder Ernennung, Manipulation oder Usurpation erlangte Macht als privates Hausgut, mit dem sie nach Art von Eigentümern freihändig disponieren können. Zu dieser Dispositionsbefugnis gehören die Zentralisierung von Ämtern in einer Hand, die Entscheidung über das Ende der Amtszeit sowie die Bestimmung der Nachfolge, sprich: Erbfolge. Wenige autoritäre Führungspersonen können zudem der Versuchung widerstehen, sich im Amt nach dem pervertierten Zuschnitt eines »Herrscherrechts auf alles« über die Maßen zu bereichern.

Ob autoritäre Regime auf Partizipation angewiesen sind oder aber diese wie der Teufel das Weihwasser meiden und bereits in den Verfassungen die entsprechenden Konnexgarantien politischer Freiheit und Beteiligung zurücknehmen, wird überaus kontrovers diskutiert (VI.). In diese Kontroverse greife ich mit einer These 18ein, die keinen Mittelweg sucht, aber sowohl dem behaupteten Bedürfnis nach Partizipation der Bevölkerung als auch der Angst von Autokraten vor unkontrollierbaren Risiken (Wahlausgang!) und überschießenden zivilgesellschaftlichen Energien Rechnung trägt. Politischer Autoritarismus entwickelt, soweit nach der Rechtslage zulässig, ihm entgegenkommende Formen der Partizipation. Sie zielen auf Einstimmung statt Abstimmung ab und verstricken die Bürgerschaft als Komplizen in die Staatspraxis, ohne sie an der Entscheidung über Maßnahmen, Pläne und Programme – mangels Information und Stimme – wirklich zu beteiligen. Komplizenschaft gelingt allerdings nur, wenn Führer und Geführte im öffentlichen Raum präsent sind – bei Massenveranstaltungen (wie Paraden, »Reichsparteitagen« oder Nationalkongressen) oder in der »autoritären Sprechsituation« des Herrschermonologs, wenn sich die Führung in den (Staats-)Medien an die Gefolgschaft wendet oder diese zu Referenden (auch Wahlen als Referenden) und Konsultationen aufruft. Damit wird der Grundstein gelegt für den Kult der Unmittelbarkeit, den Autokraten pflegen, um die theatrale Dimension von Politik zu besetzen und ihr Charisma und ihre Propaganda ohne institutionelle oder mediale Kontrolle zur Geltung zu bringen (VII.). An die Stelle der rechtsstaatlich-demokratischen Herrschaftsform der Distanz setzen sie – nach Ausschaltung der intermediären Organisationen und Institutionen – die direkte Kommunikation mit dem »Volk« und die illusionäre Gemeinschaft von Führer und Gefolgschaft.

Die im folgenden Kapitel eingeführte und illustrierte These, dass Verfassungen Texte sind, die zu bestimmten Zwecken für ein (mehr oder weniger) deutlich bestimmtes oder plausibel bestimmbares Publikum geschrieben werden, wird am Ende wieder aufgegriffen (VIII.). Vor dem Hintergrund der Archetypen, die sich aus der Verfassungsgeschichte herauspräparieren lassen, wird dargelegt, in welcher Hinsicht autoritäre Verfassungen eher dem Typus des politischen Manifests entsprechen. Diese tragen ihre Zwecke nicht »auf der Stirn«, ebenso bleiben auch die Motive autoritärer Verfassungsgeber regelmäßig im Dunkeln. Folglich kann es nur um plausible Deutungen und Zuschreibungen gehen. Eben dazu wird abschließend ein heuristisches Schema eingeführt, das das interne Publikum mit dem externen kontrastiert und analytisch instrumentelle von symbolischen Zwecken trennt. Auf diese Weise ergeben 19sich vier grundlegende Spielarten und Grundmuster, denen sich autoritäre Verfassungen zuordnen lassen: das Governance-Skript, die Verfassung als Programm symbolischer Politik oder einer Mobilisierungsagenda, der Ausweis im Staatenverkehr und schließlich das Schaufenster.

Zum Umgang mit Verfassungen

Verfassungen sind keine hermetisch geschlossenen, sondern deutungsoffene Texte. Auch die Verfassungen autoritärer Regime wenden uns kein leicht lesbares Gesicht zu (wenn wir sie nicht als Fassaden abtun, sondern als Texte mit Zwecken, geschrieben für Adressat*innen, lesen). Ebenso wenig wie von liberalen Verfassungen ist von autoritären zu erwarten, dass sie eine verlässliche Landkarte ausbreiten, auf der die Allokation und Kontrolle politischer Macht säuberlich eingetragen ist, und Auskunft über den Gebrauchswert etwa der in ihnen niedergelegten Rechte oder Kompetenzregeln geben. Das macht sie keineswegs wertlos, wie es die These von der Verfassung als Fassade oder Täuschung haben will, sondern zunächst einmal schwierig und erst im kritischen Zugriff möglicherweise interessant. Zwischen naivem Verfassungsglauben (der liberalen Verfassungen gern geschenkt wird) und zynischer Verfassungsverachtung (die man Autokraten zu Recht unterstellt) liegt das weite Feld differenzierender Analysen. Diese halten auch in den Äußerungen strategisch operierender Regime Ausschau nach unbedachten Momenten, verdeckten Prämissen oder nicht hinreichend disziplinierten Randbemerkungen, die Auskunft geben darüber, welche Zwecke mit einer Verfassung verfolgt werden sollen und welches Publikum erreicht werden soll.