3ZHAO Tingyang

Alles unter dem Himmel

Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung

Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann

Suhrkamp

7Anmerkung des Übersetzers

Der Begriff »Tianxia« (天下, Aussprache: Tiänchia), wörtlich übersetzt »Unterm Himmel«, ist einer der zentralen Begriffe der klassischen chinesischen Philosophie, insbesondere der politischen Philosophie. Genauer ist er zu übersetzen mit »Alles unter dem Himmel«. Aus zwei Gründen habe ich mich entschieden, statt einer Übersetzung im deutschen Text das chinesische Original beizubehalten. Erstens wegen der mit einer Übersetzung verbundenen sprachlichen Unbeholfenheit, die vier Worte statt zwei Silben benötigt, und zweitens, um irreführende Assoziationen zu vermeiden. Der Begriff »Tian«, lexikalisch je nach Kontext mit »Himmel« oder »Tag« zu übersetzen, unterscheidet sich von unserem, von jüdisch-christlicher Tradition geprägten Begriff des Himmels signifikant. Nur in zwingenden Fällen wird die deutsche Übersetzung verwendet.

Analog wird mit einem anderen grundlegenden Begriff der chinesischen Philosophie verfahren, dem »Dao« (), für den es keinen adäquaten Begriff im Deutschen gibt. Jede lexikalische Übersetzung bedeutet eine irreführende Einschränkung bzw. einseitige Interpretation. Das »Dao« (lexikalische Übersetzung: »Weg«) ist die bewegende und regulierende Kraft alles Seins. Je nach philosophischer Orientierung wird diese Kraft unterschiedlich interpretiert, im Konfuzianismus eher als moralische, im Daoismus als natürliche Kraft. Im chinesischen Buddhismus steht es oft für das Dharma. Das mit dieser Kraft übereinstimmende richtige Verhalten wird im Konfuzianismus als »Da Yi« (大义) bezeichnet. Auch hier habe ich mich entschieden, den chinesischen Begriff zu verwenden.

Der mit chinesischer Geschichte und Philosophie weniger vertraute Leser sei zudem auf den letzten Abschnitt des 3. Kapitels »Ein Wörterbuch des neuen Tianxia« verwiesen, wo der Autor eine Begriffsklärung einiger zentraler Begriffe seiner Darstellung des Tianxia vornimmt.

Die schwierige und zeitraubende Recherche nach vorhandenen Übersetzungen bzw. die Neuübersetzung der Zitate aus antiken chinesischen philosophischen oder historiographischen Quellen 8hat der Sinologe Philipp Schiederer übernommen, dem ich an dieser Stelle von ganzem Herzen danken möchte. Für den größten Teil der vom Autor zitierten Texte liegen keine deutschsprachigen Übersetzungen vor. Vorhandene Übersetzungen, etwa ins Englische, aber auch solche ins moderne Chinesisch, weichen häufig sprachlich, aber auch inhaltlich stark voneinander ab. Die Übersetzung der Zitate wurde daher, wo erforderlich, in Absprache mit dem Autor entsprechend dessen Textverständnis überarbeitet.

Familiennamen werden im Chinesischen dem Vornamen vorangestellt, sie werden der Klarheit halber in Großbuchstaben geschrieben.

Die in Klammern gesetzten englischen Begriffe wurden aus dem Originaltext übernommen.

9Vorwort

Das Konzept des Tianxia umfasste im alten China zahlreiche spirituelle Aspekte, etwa die zwischenmenschlichen spirituellen Beziehungen und die spirituellen Beziehungen zwischen dem »Dao des Menschen« und dem »Dao des Himmels«. Der spirituelle Gehalt des Tianxia ist mit dem Himmel selbst nahezu identisch. Ich fühle mich nicht imstande, ihn zu beschreiben, und werde mich daher in dieser Hinsicht kurzhalten. Tianxia ist aber auch das politische Ideal einer Weltordnung. Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch, das idealistische Konzept des Tianxia realistisch darzustellen und die Differenz zwischen dem Dao des Tianxia und seiner Implementierung, zwischen Idealität und Realität, zwischen Geschichte und Zukunft, deutlich werden zu lassen. Tianxia ist zudem eine Methodologie, und ich versuche zu zeigen, wie das Konzept des Tianxia zu einem neuen Verständnis der Geschichte, von Institutionen und politischen Räumen, ja sogar zu einer Neudefinition des Politischen schlechthin führt.

Das Konzept des Tianxia ist unerschöpflich und wirft eine Unmenge von Fragen auf. Das nötigt mich, eine Methode zu finden, die dem Konzept möglichst gerecht wird. Die Methode, deren sich das Buch bedient, könnte man als »kombinierte Synthese« bezeichnen. Ein Gegenstand ist eine Gesamtheit, versuchen wir ihn im Detail zu verstehen, müssen wir seine unterschiedlichen Aspekte analysieren, etwa seine politischen, ökonomischen, ethischen, ästhetischen, sozialen, historischen usw. Wir müssen die Gesamtheit des Gegenstandes in Elemente zerlegen, die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zuzuordnen sind, jede dieser Disziplinen richtet jeweils ihre spezifischen Fragen an den Gegenstand. Doch ist die jeweilige Disziplin nicht immer in der Lage, die von ihr gestellten Fragen zu beantworten, da Antworten auf manche Fragen auf dem Gebiet anderer Disziplinen zu suchen sind. So finden sich z. B. die Antworten auf manche politische Fragen im Bereich der Ökonomie, umgekehrt Antworten auf ökonomische Fragen im Bereich des Politischen, die Lösung gewisser ethischer Probleme liegt in politischen Fragen, umgekehrt sind gewisse Grundlagen politischer Systeme ethischer Natur. Die Gründe mancher politischer 10Entscheidungen ergeben sich nicht aus der Politik, sondern aus der Geschichte, bei manchen historischen Narrativen handelt es sich in Wahrheit um Theologie. Das ließe sich beliebig fortsetzen. Die sogenannte »kombinierte Synthese« ist der Versuch, die Gesamtheit des Gegenstandes wiederherzustellen, die unterschiedlichen an den Gegenstand gerichteten Fragen sollen sich wechselseitig konfrontieren, das Wissen unterschiedlicher Disziplinen zu ihrer Klärung beitragen. Diese Methode ist eine philosophische, bei der Untersuchung des Tianxia dient die Philosophie dazu, die Gesamtheit des Gegenstandes wiederherzustellen. Die Antworten auf die gestellten Fragen werde ich deshalb ebenso aus der Geschichtswissenschaft wie aus der Politischen Wissenschaft, den Wirtschaftswissenschaften, der Spieltheorie oder der Theologie beziehen. Ich erhoffe mir, dass dieses synthetische Vorgehen der Fülle des Tianxia-Konzepts gerecht wird.

Der Begriff des Tianxia selbst ist mit Emotion aufgeladen, er ist besetzt mit Chinas Geschichte, seinen Traditionen, seinen Erfahrungen und seiner Spiritualität. Meine Absicht ist es, die Darstellung der Philosophie des Tianxia auf eine rationale Erläuterung zu reduzieren und jedes emotionale Narrativ und jede antizipierende Wertung so weit als möglich zu vermeiden. Nur die Geisteshaltung einer von Emotion ungetrübten, »unbarmherzigen« Darlegung kann beweisen, dass diese Philosophie tatsächlich universell gültig ist. So spielen zum Beispiel die Bemühungen des Konfuzianismus bei der Konstruktion des Tianxia eine herausragende Rolle, aber das bedeutet nicht, dass die konfuzianische Konstruktion hinreichend ist. Eine der Schwächen des Konfuzianismus besteht darin, dass er unfähig ist, das »Problem des Fremden«1 zu erklären. Die Konfuzianer haben versucht, diesen Umstand zu rechtfertigen, aber ich bin der Meinung, dass eine Verteidigung, die emotionale Begründungen enthält, nicht hinreicht, den Schwierigkeiten des Problems gerecht zu werden. Ich möchte hier noch einmal mein Verständnis einer »unparteiischen« Analyse erläutern: Unparteiische Analyse meint, auf jede sich auf einen Wertekanon berufende Erklärung, Kritik oder Narration zu verzichten und sich auf eine emotionsfreie, »unbarmherzige« ontologische Analyse zu beschränken: ob nämlich eine Existenz in der Lage ist, auf eine ihr gemäße Art erfolgreich fortzuexistieren. Das heißt, ohne Rücksicht auf emotionale oder weltanschauliche Wertungen allein zu prüfen, ob 11eine Handlungslogik Bestand hat, und das unter allen Bedingungen. Das ist eine Voraussetzung. Die Existenz ist den Werten vorangestellt, erst die Fähigkeit fortzuexistieren, ermöglicht ihre Vervollkommnung. Weder kann die Vernunft dazu dienen, Emotion zu widerlegen, noch dient Emotion der Widerlegung der Vernunft. Ich vermute, dass die Mehrzahl der Menschen der Meinung ist, Frieden sei dem Krieg vorzuziehen, dennoch gibt es innerhalb der Ethik den Skandal, dass sie, von ein paar politisch korrekten Gemeinplätzen abgesehen, bis heute die Gültigkeit des Satzes, dass der Schwächere vom Stärkeren gefressen wird, nicht widerlegen kann. Daher kann der Versuch zu beweisen, dass die Logik der Hegemonie fehlerhaft sei, sich nicht auf die Ethik stützen. Hingegen kann die Spieltheorie demonstrieren, dass die Logik der Hegemonie langfristig der Revanche ausgeliefert ist und am Ende das Schicksal der »Tragödie der Nachahmung« erleidet.

Bei der Auswahl der von mir verwendeten Quellen stütze ich mich, was die vorschriftliche Epoche betrifft, auf archäologische Zeugnisse. Für die Zeit nach dem Vorliegen schriftlicher Dokumente halte ich mich vor allem an Texte, die im Lauf der Geschichte die »Bildung des menschlichen Geistes« beeinflusst haben. So stehen zum Beispiel bei der Beschreibung des Tianxia der Zhou-Dynastie (1046-256 v. Chr.) Dokumente aus dieser Zeit zwar an erster Stelle, doch schließe ich Texte aus der Qin- (221-207 v. Chr.) und der Han-Zeit (202 v. Chr.-220 n. Chr.) nicht aus. Obwohl sich darunter einige erwiesenermaßen fälschlich der Zhou-Zeit zugeschriebene Texte befinden, sind die darin enthaltenen Geschichten in den dauerhaften Vorstellungsraum der Menschen eingegangen, d. h., es handelt sich um kollektive Imaginationen mit praktischen Auswirkungen.

Meine früheren Untersuchungen zum System des Tianxia habe ich gesammelt im 2005 erschienenen Buch Das System des Tianxia dargelegt,2 das erfreulicherweise in der Fachwelt Aufmerksamkeit gefunden und Kritik und Diskussionen ausgelöst hat. Aber es war nur der erste Schritt einer Untersuchung des Tianxia-Systems. Heute, zehn Jahre später, finden sich zwar in Alles unter dem Himmel sowohl in Hinsicht auf die behandelten Fragen als auch in Hinblick auf Beweisführung und Narrative erhebliche Unterschiede zu Das System des Tianxia, doch bleibt die Grundidee dieselbe. Hinzu kommt, dass es sich bei Das System des Tianxia um die Rück12übersetzung und Bearbeitung zweier im Jahr 2000 auf Englisch verfasster Aufsätze handelt, worin ich aufgrund unzureichender sprachlicher Kenntnisse zahlreiche schwer zu übersetzende klassische Quellen vernachlässigt habe. Dieser Mangel wird bis zu einem gewissen Grad in Alles unter dem Himmel behoben. Ich habe allerdings zahlreiche einander inhaltlich ähnliche antike Quellen nicht zitiert, da es sich letztendlich um kein geschichtswissenschaftliches Werk handelt. Ich bitte die Historiker um Nachsicht.

Die Untersuchungen zum System des Tianxia wurden fortlaufend durch Kritik und Anregungen von Freunden und Lesern befördert. An erster Stelle möchte ich Alain Le Pichon danken, der mich 2000 dazu gedrängt hat, meine Überlegungen zum Konzept des Tianxia auf Englisch zu Papier zu bringen. Mein Dank gilt des Weiteren QING Yaqing, TANG Yijie, YUE Daiyun, TONG Shijun, HUANG Ping, WANG Mingming, William Callahan, Fred Dallmayr, Luca M. Scarantino und Peter J. Katzenstein. Sie haben von Beginn an meine Untersuchungen unterstützt und wertvolle Anregungen gegeben. Ebenso danke ich Stephen C. Angle, Regis Debray, Prasenjit Duara, GAN Chunsong, ZHANG Feng, XU Xin, WANG Yiwei, GAO Shangtao, ZHOU Fangyin, Elena Barabantseva, Anthony Carty, Sundeep Waslekar, Nicole Lapierre, BAI Tongdong, ZHOU Chicheng, ZHOU Lian, SUN Shu, ZHANG Shuguang, XU Jianxin und JIANG Xiyuan, ihre Kommentare haben viel zur Klärung und Vertiefung unklarer und strittiger Fragen des Themas beigetragen. Zugleich möchte ich all den Freunden danken, die mich mit Fragen und Hilfestellungen unterstützt haben: Jean Paul Tchang, Hans Boller, Elizabeth Perry, Rainer Forst, Joshua Ramo, Francesco Sisci, ZHANG Yuyan, HAN Dongyu, CI Xiwei, LÜ Xiang, LI He, CHENG Guangyun, ZHANG Dun, GUAN Kai, ZHAO Tao, LU Ding, QIAO Liang, WANG Xiangsui, PAN Wei, YAN Xuetong, YUAN Zhengqing, SHENG Hong, ZHAO Quansheng, WANG Jianyu, Enno Rudolph, Philippe Brunozzi, Daniel Binswanger, Evgeny Grachikov, Joel Thoraval, Michael Pillsbury, Iain Johnston, Jean-Marc Coicaud, In-suk Cha, Moon Chung-in, Han Sang-jin, Mark Siemons, John G. Blair, CHEN Ping, die Stiftung Kunst & Kultur e. V., Zijuan Zaft und Public Space (China) Limited.

ZHAO Tingyang

 18. August 2015