Andrew Cartmel

Murder Swing

Thriller

Aus dem britischen Englisch von
Susanna Mende

Herausgegeben von
Thomas Wörtche

Suhrkamp

Für meinen Bruder James Cartmel, den coolsten Typen von allen.

A-Seite

1

Der Tod des Drachen

Für die Heizungsversorgung auf unserem Grundstück hatte ursprünglich ein großer, zentraler Boiler gesorgt, der sich unter dem Parkplatz in einer riesigen, abgedichteten Betonkammer befand. Ich hatte ihn mir immer wie einen schlafenden Drachen vorgestellt, und als ich schließlich einen Blick darauf werfen konnte, stellte ich fest, dass ich damit gar nicht so falschlag. Es war wie im Maschinenraum eines U-Boots: lange, schimmernde Stahlzylinder, die mit einem dumpfen Brummen irgendwohin führten.

Irgendwann war ich einfach hineinspaziert, die Treppe hinunter und durch eine angelehnte Tür, auf der BOILERRAUM stand, war im dämmrigen Licht herumgelaufen, bis ich einen umgänglichen, dicken Geordie im blauen Overall fand, der ihn wartete. Sein offizieller Titel war Staatlich bestellter Grundstücksheizungswart, wofür ich ihn nicht verantwortlich machte.

Er gestattete mir, mich umzusehen, denn mein Kater war verschwunden und ich dachte, dass er sich vielleicht dorthin verirrt hatte. Keine Spur von dem Ausreißer. Der Heizungswart schien meine Enttäuschung ehrlich zu teilen. Wahrscheinlich sah er mir an, wie besorgt ich war. Als ich ging, wünschte er mir viel Glück beim Suchen.

Ich stieg die Treppe wieder hinauf und blinzelte ins Tageslicht. Wie sich herausstellte, hatte ich kein Glück. Ich fand den kleinen schwarzweißen Leichnam auf dem Grünstreifen am Anfang der Abbey Avenue.

Ich nahm die sterblichen Überreste mit nach Hause und begrub sie im Garten. Erstaunlich, wie tröstlich es ist, ein paar Knochen in der Nähe zu wissen. Kurz danach, wie zum Zeichen der Hochachtung, gab auch der Boiler seinen Geist auf. Ich schrieb das den Schwachköpfen zu, die fürs niedrigste Angebot vom Council bestellt worden waren und es nicht geschafft hatten, ihn über die Jahrzehnte vernünftig zu warten.

Die Schuld am Tod meiner Katze gab ich der Klientel des Klosters. Dizzy war offensichtlich von einer der Luxuslimousinen angefahren worden, in denen Premier-League-Deppen oder raubkatzenhafte Supermodels auf dem Weg zu Londons führendem Detox-Zentrum die Straße entlangschossen.

Das Kloster, das einst ein eigenes Backhaus, Ställe und eine Mühle unterhalten hatte, war ein elegantes, altertümliches weißes Gebäude, das ich hinter meinem Garten aufragen sah, wenn ich aus dem Wohnzimmer meines Zuhauses schaute, das ich als Bungalow bezeichnete – tatsächlich wohnte ich im Erdgeschoss eines zweistöckigen Gebäudes. Es wurde gerade in zwei getrennte Wohneinheiten umgebaut, ich hatte die Zimmer im Erdgeschoss und den Garten. Meine Gartenmauer grenzte direkt an das Klosteranwesen.

Was mir die Gelegenheit bot, einen seiner Bewohner kennenzulernen.

Es war der strahlende Morgen eines ungewöhnlich warmen Septembertags. Dem Mann war es irgendwie gelungen, in meinen Garten zu gelangen, er stand in einem königsblauen Morgenmantel mit einem goldenen ›A‹ auf der Brusttasche und blauen Flip-Flops da.

Er starrte mich an, als ich den Vorhang zurückzog. Ich hatte im Dunkeln Musik gehört und Kaffee getrunken, ein morgendliches Ritual, bis ich ausreichend bei Bewusstsein war, um mich dem Tag zu stellen. Der Mann rief irgendwas, und ich öffnete die Hintertür, um herauszufinden, was ihn so erregte.

»Max Roach«, sagte er. Ich brauchte einen Augenblick, um zu kapieren. Inzwischen hatte er hinzugefügt: »Red Mitchell am Bass. George Wallington am Piano.«

»Das Gil Mellé Sextett«, ergänzte ich. Ich trat zu ihm hinaus in den Garten. Es war noch ein bisschen frisch. »Eine Aufnahme von neunzehnhundertzweiundfünfzig.«

»Auf Blue Note, stimmt’s?« Der Mann blickte mich stirnrunzelnd an. Er war tief gebräunt und völlig kahl, dafür hatte er einen üppigen Bart. Was leicht den Eindruck erweckte, sein Kopf stünde verkehrt herum. Er begann in der Tasche seines blauen Morgenmantels zu wühlen.

»Stimmt«, sagte ich. Zumindest hatte der Eindringling brauchbare Kenntnisse von ziemlich ausgefallenem Jazz.

»Vinyl, natürlich«, sagte er, während er weiterwühlte.

»Natürlich.«

»Original Lexington Blue Note?«

»Nein, betrüblicherweise. Neupressung aus Japan.«

Der Mann zog kurz die Hand aus seiner Tasche und machte eine knappe, verächtliche Geste. Dann schüttelte er zufrieden den Kopf. »Hab ich’s mir gedacht.«

Ich fand das ziemlich krass, wenn man bedachte, dass er im Garten stand. »Ich habe die original Blue-Note-Pressung«, verkündete er. »Mit der Lexington Avenue auf dem Label.«

»Tiefe Rille?«, fragte ich.

»Oh ja.« Er griff in seine Tasche und zog triumphierend eine teuer aussehende Zigarre heraus. Die Zigarre sorgte dafür, dass er weniger wie ein entflohener Irrer in einem Morgenmantel aussah, sondern eher wie der Stammgast eines exklusiven Resort Hotels, der sich vom Pool entfernt hatte.

Was ja zutraf.

»Mein Exemplar ist eine Flachprofil-Pressung. Wissen Sie, was das ist?« Ich versuchte seinen Akzent einzuordnen, der leicht, jedoch erkennbar war. Etwas an dem belehrenden Tonfall ließ mich an eine nordische Sprache denken.

»Ja«, sagte ich.

»Sind das elektrostatische Lautsprecher?«, fragte er. Ich nickte. Er holte eine Schachtel Streichhölzer heraus, zündete eins an, ließ es einen Augenblick lang brennen, damit sich der Schwefel verflüchtigte, und hielt es dann an seine Zigarre.

»Das hört man einfach.« Er stieß den Rauch aus, schüttelte das Streichholz aus und warf es in mein Blumenbeet, womit er sich bei mir nicht unbedingt beliebt machte. Dann griff er erneut in die Tasche und zog den zerdrückten Stummel einer weiteren Zigarre heraus. Weshalb trug er den mit sich herum? Wahrscheinlich war Rauchen im Kloster verboten, und der weggeworfene Stummel hätte ihn verraten.

Doch er zögerte nicht, ihn hier zu entsorgen, in meinem Garten. Er schleuderte ihn in den Teich.

Das war echt der Gipfel.

»Sie haben eine Flachprofil-Pressung von dieser Schallplatte?«

»Richtig.« Er grinste. »Alle meinen Lexington-Avenue-Erstpressungen sind Flachprofilpressungen.«

Jetzt hatte ich ihn da, wo ich ihn haben wollte. Ich betrachtete den Zigarrenstummel, der in meinem Teich schwamm, und sagte: »Sie haben natürlich den vertikalen Spurwinkel des Tonabnehmers justiert?«

»Was?«

»Wenn Sie eine der Platten mit Flachprofilpressung abspielen. Haben Sie dann den vertikalen Spurwinkel des Tonabnehmers justiert?«

Er starrte mich an. »Was meinen Sie damit?«

Ich versuchte, es mit meiner Unschuldsmiene nicht zu übertreiben. »Nun, Ihr Tonarm und Tonabnehmer sind auf Standardplatten eingestellt. Aber die Geometrie, die erforderlich ist, um eine Flachprofilpressung abzuspielen, ist völlig anders. Aber das wissen Sie ja.«

Er blickte mich schweigend an, und ich sagte mit gespielter Überraschung: »Sie passen das System also nicht jedes Mal an? Das heißt, Sie bekommen Nebengeräusche und die Rillen nutzen sich ab. Ihr vertikaler Spurwinkel ist dann dahin. Dabei haben wir noch nicht einmal den Richtungswinkel erwähnt.«

Das brachte das Arschloch zum Schweigen.

Er empfahl sich sogleich und schritt in seinem Morgenmantel zurück zum Kloster.

Ich erwartete nicht, ihn je wiederzusehen.

Falsch. Eines Tages war sein Gesicht auf dem Titelblatt der Lokalzeitung.

Sie war gemeinsam mit Pizzaflyern und Taxikarten durch meinen Briefschlitz geschoben worden. Ich schlug die Zeitung auf und las die Überschrift: ARCHITEKT STÜRZT ZU TODE. Unter dem Foto des Mannes stand Tomas Helmer.

Er trug darauf keinen Morgenmantel, sondern einen ziemlich eleganten Anzug. Anscheinend lebte er in Richmond – oder hatte dort gelebt, in einem großen Haus, wo es Probleme mit den Regenrinnen gegeben hatte.

Irgendwann war er selbst aufs Dach geklettert, um etwas dagegen zu unternehmen, und war unglücklicherweise heruntergestürzt.

Der arme Kerl. Ich schaltete den Verstärker ein und legte zu seinem Andenken das Gil Mellé Sextett auf.

Es klang fantastisch. Ich wandte mich erneut der Zeitung zu. Der kurze Bericht zielte vor allem darauf ab, wie ironisch es doch sei, dass sich Helmer als Multimillionär und so fort als zu geizig erwiesen habe, seine Regenrinnen von Fachleuten reparieren zu lassen, und er dafür mit dem Leben bezahlt habe.

Trotzdem tat mir der arme Kerl leid. Schade, dass er tot war.

Ich muss aber zugeben, dass ich mich als Allererstes fragte, was wohl aus seiner Plattensammlung geworden war.

Allerdings sollte ich mir bald um andere Dinge Gedanken machen müssen.

Als der Boiler seinen Geist aufgab, wurde den Bewohnern des Grundstücks angeboten, sich zu entscheiden zwischen einer neuen Heizungsanlage, die ihnen vom Council gestellt würde, oder eine eigene zu installieren. Beide Optionen kosteten Geld, und angesichts meiner finanziellen Lage konnte ich mir beide nicht leisten.

Also beschloss ich, mich zu wappnen und den Winter so durchzustehen.

Es war schlimmer, als ich es mir je hätte vorstellen können. Erst einmal war mir nicht klar gewesen, dass eine lange Heißwasserleitung unter meiner Wohnung entlanggeführt und als Nebeneffekt die Betonplatte erwärmt hatte, auf der das Haus stand. Als der Boiler stillgelegt wurde, war es mit der regelmäßig durchströmenden, angenehmen Wärme vorbei, die Betonplatte war rasch so kalt wie die einer Gruft. Und mein Bungalow stand darauf.

Sie fungierte jetzt eher als riesiges Kühlaggregat und ließ das gesamte Haus auskühlen. Die Fußböden waren bald unangenehm kalt, meine kleine Wohnung war eisig und feucht wie eine Höhle. Im Gästezimmer breitete sich über den Fenstern bedrohlich Schimmel aus.

Meine Katzen straften mich mit beleidigten Blicken, die zu fragen schienen, was ich denn bloß gemacht hatte.

Nachdem Dizzy überfahren worden war, hatte ich zwei Kätzchen aufgenommen. Sie waren Schwestern und hießen Fanny und Turk. Sie waren inzwischen ein Jahr alt und ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Doch sie blickten mich beide mit diesem Ausdruck an, als wäre Verrat an ihnen verübt worden, als sich der Fußboden nach und nach in eine eisige Steinplatte verwandelte.

Turk ging dazu über, die Nächte draußen zu verbringen, womöglich in der Annahme, dass es draußen nicht kälter war als drinnen. Währenddessen Fanny nachts Zuflucht vor der Kälte in meiner Daunendecke suchte, in die sie hineinkroch. Und ich meine wirklich hineinkroch. Sie schlüpfte durch den Schlitz des Bezugs und rollte sich zusammen, ein warmes Knäuel zu meinen Füßen.

Jeden Morgen verließ ich gleich nach dem Frühstück das Haus – es gab keinen Grund, dortzubleiben. Die Katzen folgten mir bis vor die Tür und suchten sich ein Plätzchen zwischen den erfrorenen Pflanzen im Vorgarten.

Mein einziger Luxus war eine Netzkarte des Londoner Verkehrssystems, die mir – für einen Wucherpreis – die unbegrenzte Nutzung von Bussen und Zügen erlaubte. Ein paar Jahre lang hatte ich ein Auto, doch die Erfahrung, im Verkehr festzustecken, hatte rasch an Reiz verloren. Wenn es also zu kalt war, um zu Hause zu bleiben, nahm ich meine Netzkarte und machte mich auf den Weg.

Um Schallplatten aufzuspüren. Das mache ich nämlich.

Ich fuhr zuerst nach Westen und dann südlich Richtung Twickenham. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mich wieder nach Hause vorzuarbeiten, indem ich jeden Second-Hand-Laden, Trödelladen oder Antiquitätenladen aufspürte, der vielleicht irgendwo eine Kiste mit altem Vinyl hatte.

Ich trug meine Wühlschuhe, die flach geschnitten und deshalb bequem waren, wenn ich in die Hocke ging, wie ich es häufig tat, um eine muffige Plattenkiste zu sichten. Es war überwiegend eine stumpfsinnige Beschäftigung – in den Kisten fand ich hauptsächlich eine Mischung aus mittelmäßigem Rock und Pop, gelegentlich durchsetzt von Blasmusik oder einem Kirchenchor. Hin und wieder entdeckte man ein Dutzend identischer Alben von einem Sänger oder einer Gruppe, von denen man noch nie gehört hatte, und stellte fest, dass sie vom Künstler selbst verschenkt worden waren; ein trauriger Hinweis auf eine gescheiterte Karriere.

Gerade als die tiefstehende Wintersonne am Himmel verschwand, stieß ich in einem kleinen Laden in der Nähe der Brücke in Richmond auf Gold. Ein originales RCA Red Label von Elvis. Die Platte war in exzellentem Zustand. Mein erster Eindruck war, dass jemand wirklich darauf aufgepasst hatte. Oder, besser noch, sie nie abgespielt hatte. Ich fragte mich, welche häusliche Unbill – Tod, Umzug, existenzielle Krise – dazu geführt hatte, dass sie hier gelandet war. Es war schwindelerregend, sich vorzustellen, wie vieler Zufälle es bedurft hatte, bis dieser Gegenstand ausgerechnet hier gelandet war, in meinen warmen, kleinen Händen.

Das Cover war makellos. Und die Schallplatte? Meine Hände zitterten, als ich einen Blick darauf warf. Die LP knisterte, als sie aus der Hülle glitt, und aufgrund der statischen Ladung richteten sich die Härchen auf meinen Armen auf. Das schwarze Vinyl glänzte. Makellos, jungfräulich, perfekt. Ich konnte mein Spiegelbild mit dem dämlichen Grinsen darauf sehen.

Ich bezahlte eine lächerliche Summe und trat hinaus in den Winterabend, die sorgsam eingewickelte Platte fest unterm Arm.

Das Beste war, dass ich sie ohne jede Skrupel verkaufen konnte.

Klar hat Elvis Qualitäten. Wie Sinatra hatte er eine extrem weiche Stimme, was für den Zuhörer entspannend und angenehm ist. Als würde man im bequemsten Lehnsessel der Welt sitzen, wenn man den Jungs zuhörte. Doch Elvis hatte auch eine klebrige und zuckersüße Art, Balladen zu singen, die gleiche Achillesferse wie Stevie Wonder. Keine kitschigen, langsamen Nummern mehr, Leute.

Sowieso hatte ich bereits die kompletten Leiber/Stoller-Einspielungen, und das war genug Elvis für mich.

Ich machte mich auf den Heimweg und wechselte auf den winterlichen Straßen mehrmals den Bus. Auf dem Weg zurück in mein eisiges Zuhause fühlte ich mich wie ein Trapper, der mit einem erstklassigen Fell in seine frostige Hütte zurückkehrt.

Nur dass in diesem Fall keine Tiere verletzt worden waren.

Wenn ich zu Hause wäre, würde ich der gewohnten winterlichen Routine folgen, die darin bestand, Abendessen zu machen, bevor ich in mein eiskaltes Bett schlüpfte, das lediglich von einer Wärmflasche und, mit ein wenig Glück, einer eigennützigen Katze gewärmt wurde. Mit dem Unterschied, dass ich heute Abend zuerst online gehen und die Elvis-LP einstellen würde, um mir für die nächsten Wochen genügend Geld zu verschaffen.

Als ich nach Hause kam, spürte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Fanny saß zitternd vor dem Hauseingang und huschte mit mir hinein. Aus dem Wohnzimmer erklang Musik. Ich ging eilig durch den Flur und blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

Auf meinem Sofa saß Stuart »Stinky« Stanmer und hörte Musik auf meiner Hi-Fi-Anlage. Turk kam vorsichtig hinter ihrem Lautsprecherversteck hervor, als ich mit ihrer Schwester hereinkam.

»Ich hab mich selbst reingelassen, entschuldige«, sagte Stinky. »Ich musste. Die Nachbarn hätten mich sonst bemerkt. Du weißt schon, meine Fans.« Ich kannte Stinky von der Universität. Wie ich war er ein aufstrebender DJ gewesen und hatte sich vom College-Radio aus hochgearbeitet. Doch im Gegensatz zu mir war er erfolgreich, so sehr, dass er vor kurzem seine eigene Radiosendung bekommen hatte und die Nation sogar mit gelegentlichen Fernsehauftritten beglückte.

»Meinen Nachbarn ist die Anwesenheit von Promis ziemlich gleichgültig. Wegen des Klosters und so.«

Er sah aus dem Fenster zum Kloster hinüber, das sich hell vom dunklen Winterhimmel abhob. Es wurde dezent angestrahlt und wirkte wie vom Mond beschienen, selbst in einer mondlosen Nacht. »Kann schon sein«, sagte er wehmütig; ärgerlich, dass es noch berühmtere Leute gab als ihn.

»Wie komme ich zu dem Vergnügen?«

»Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schau mal rein, wenn du zu Hause bist.«

»Sogar, wenn ich es nicht bin«, sagte ich. Die Platte, die er unverschämterweise gespielt hatte, war zu Ende. Der Tonabnehmer hing geräuschvoll in der Auslaufrille. Ich ging hin, hob ihn herunter und nahm die LP vom Plattenteller. Es war ein japanischer Soundtrack von Godzilla. Ich steckte die Platte in ihre Hülle. Währenddessen lehnte sich Stinky auf dem Sofa zurück, und Fanny machte einen großen Bogen um ihn, als sie den Raum durchquerte.

»Was treibst du so?«

»Oh, dies und das«, sagte ich und stellte das Album ins Regal. Ich war mir sicher, dass er genau wusste, was ich so trieb. Ich vermutete, dass Stinky unter diversen Pseudonymen einer der eifrigsten Follower meines Blogs, meiner Facebook-Seite und meiner Tweets war. Er stöberte in den CD-Stapeln auf meinem Sofatisch.

»Du hörst eine Menge CDs.«

»Ich muss was hören, während ich die Platte wechsle.«

»Oder während du sie umdrehst, was?« Stinky gluckste.

Ich bemerkte, dass er die Schallplatten durchgesehen hatte, die sich auf dem Sessel türmten. Sie hatten eine andere Reihenfolge. Ich legte immer die Schallplatten, die ich aktuell hörte, dorthin. Meine Lieblingsauswahl.

Zweifellos hatte er sich Notizen gemacht.

Seit Stinky eine Radiosendung hatte, hatte er auch ständig ein unersättliches Verlangen nach neuem Stoff. Und weil er im Grunde überhaupt kein Ohr für etwas hatte, brauchte er Ideen von Leuten wie mir.

Nach einer belanglosen Unterhaltung und viel Prahlerei – sowohl in beruflichen wie sexuellen Dingen – seitens Stinkys gelang es mir schließlich, ihn loszuwerden. Ich schloss die Tür hinter ihm mit einem erleichterten Ächzen. Er hatte sich Zugang verschafft, indem er den Schlüssel benutzt hatte, der unter dem Blumenkübel lag. Ich kam zu dem Schluss, dass ich den Schlüssel woanders hinlegen musste. Doch wenn ich das tat, würde ich mich dann daran erinnern? Ich stand da mit dem Schlüssel in der Hand, seufzte und legte ihn an seinen gewohnten Platz zurück.

Ich setzte mich an den Computer und stellte die Elvis-LP auf meine Website. Ich verkaufte sie innerhalb einer Stunde für ein klein wenig mehr, als ich mir erhofft hatte. Ich beschloss auszugehen und zu feiern. Zufällig war bei Albert’s, dem hiesigen Gastropub, Burger-Abend zum halben Preis. Also ging ich hin und gönnte mir eine Mahlzeit und ein Glas Wein. Es war ein sehr guter Burger – sie füllten die Beef-Pattys mit Butter und Kräutern. Allerdings verdarb mir Albert ein wenig den Appetit, weil er unbedingt das Radio hinterm Tresen anmachen wollte. Keinen anderen im Pub schien es zu stören, doch ich fand, dass jemand gegen diese Lärmverschmutzung einschreiten sollte.

»Wie wär’s mit ein bisschen Stille?«, sagte ich.

»Ich wollte nur dieses eine Programm hören«, sagte Albert.

»Ich dachte, hier wird keine Musik gespielt.«

»Das ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.« Er schaltete das Radio ein, und drei hübsche osteuropäische Au-pair-Mädchen, alle mit den gleichen blonden Haaren, Hüftjeans und dezenten Tattoos, kamen zur Bar, um zu lauschen. Eine honigsüße Stimme war zu hören, und mit einem Gefühl der Unvermeidlichkeit stellte ich fest, dass es Stinky war.

Natürlich. Die Stinky Stanmer Show.

»Das war eine CD«, sagte Stinky. »Schließlich muss ich irgendwas hören, während ich die Platten wechsle. Oder sie umdrehe, nicht wahr? Und hier kommt etwas auf Vinyl, das ich entdeckt habe.« Die Musik begann, und zum Glück hörte er auf zu reden. Ich erkannte das Stück. Godzilla versus Anguirus von Masaru Satō. Es klang toll. Natürlich war es die LP, die auf meinem Plattenteller gelegen hatte. Sobald er bei mir verschwunden war, musste er losgerannt sein und sich ein Exemplar besorgt haben. Oder er hatte, was wahrscheinlicher war, einen seiner Lakaien geschickt.

Gelassen stellte ich fest, dass er zumindest genug Gespür bewiesen hatte, das beste Stück auf der Platte auszuwählen. Dann fiel mir ein, dass es ja das erste Stück war.

Weiter war er wohl nicht gekommen.

Alle drei Au-pairs schwangen die Hüften zur Musik. Es klang wie Sonny Blount, der mit dem Soundtrack für einen Spionagefilm aus den Sechzigern beauftragt worden war. Als die Au-pairs anfingen herumzutanzen, blickte Albert wie Nipper in einer alten HMV-Werbung ehrfürchtig zum Radio und schüttelte bewundernd den Kopf.

»Wo treibt er so ein Zeug nur auf?«

Ich betrank mich heftig.

Am nächsten Morgen wurde ich von einem scheußlichen Kater und dem Klingeln an der Tür geweckt. Ich sprang aus dem Bett, schubste eine empörte Fanny hinunter, zog meinen schäbigen alten Morgenmantel über, schlurfte zur Tür, öffnete und blinzelte ins Tageslicht.

Eine junge Frau stand draußen. Sie trug Jeans, einen Kamelhaarmantel und einen schwarzen Sweater mit Polokragen. Ihr rabenschwarzes Haar war in der Art des Stummfilmstars Louise Brooks geschnitten. Sie blickte mich an. Ihre unwirkliche, fast übertriebene Makellosigkeit legte die Vermutung nahe, dass sie ein Model oder eine Schauspielerin war. Ich wusste sofort, weshalb sie hier war.

»Ich bin nicht der Pförtner«, sagte ich.

Sie strich sich das Haar aus den Augen. »Das klingt beunruhigend.«

»Das ist nicht das Pförtnerhaus«.«

»Schon klar, weil Sie ja nicht der Pförtner sind.«

»Sie wollen zum Kloster. Das ist das große weiße Gebäude hinter meinem Haus. Und das hier ist nicht das Pförtnerhaus, und ich bin nicht der Pförtner.«

»Wär doch was für Sie. Sicher ein angenehmer Job. Wahrscheinlich gibt es eine Uniform.« Sie betrachtete mich in meinem Morgenmantel. »Vielleicht sogar mit Epauletten. Ich mag Epauletten. Vor allem mag ich das Wort.« Sie blickte mich an. »Epauletten.« Ihre Augen waren von einem irritierenden Kornblumenblau. Ich suchte darin nach Anzeichen für Drogenmissbrauch, konnte jedoch keinen entdecken.

»Um zum Kloster zu kommen«, erklärte ich ihr, »müssen Sie zurück auf die Hauptstraße und nach ungefähr fünfzig Metern rechts abbiegen.«

»Wer hat gesagt, dass ich mit dem Auto hier bin?«

»Wie sind Sie sonst hergekommen?«

»Vielleicht hat mich ein Freund abgesetzt.«

»Sie können von hier aus auch zu Fuß gehen. Es sind nur zwei Minuten. Anderthalb. Zum Kloster.«

»Ich will nicht zum Kloster«, sagte sie. »Ich will zu Ihnen.«

Trotz ihrer klaren blauen Augen kam ich zu dem Schluss, dass sie nicht ganz richtig tickte. Ich sagte: »Zu mir? Wirklich? Warum?« Sie zückte eine Visitenkarte und reichte sie mir. Es war eine billige und ziemlich farbenfrohe Visitenkarte, und sie war mir bestens vertraut.

Sie gehörte nämlich mir.

Unter meinem Namen und meiner Adresse stand: VINYLDETEKTIV.