Theodor im Fjell

Theodor schlägt die Augen auf. Ein heller Strahl Frühlingssonne schaut zum Fenster der kleinen Hütte herein. Theodor streckt sich und gähnt. Sein Körper will noch nicht richtig wach werden.

Die Katze Bombibitt liegt neben dem Bett auf dem Boden und sieht zu ihm hoch. Ihr Blick scheint zu sagen: »Steh endlich auf, Theodor, ich will spielen!« Doch Theodor dreht sich nur auf die Seite und grunzt verschlafen.

Die Luft draußen ist frisch und kühl. »Sie ist so sauber, dass man in ihr baden könnte«, sagt Theodors Uropa immer. Die Morgensonne scheint auf das norwegische Fjell, das sich am Horizont erhebt. Die Berge sehen aus wie Schlösser, deren Turmspitzen so hoch in den Himmel ragen, dass sie Löcher in die Wolken piksen. Auf den Gipfeln liegt Schnee, obwohl schon Frühling ist.

Mit einem Ruck setzt Theodor sich im Bett auf. Er hat etwas gehört. Ein seltsam mampfendes Geräusch, direkt vor dem Fenster, so als ob etwas Großes und Hungriges ins Dach der Hütte gebissen hätte.

Theodor denkt an all die Tiere, die es in den norwegischen Wäldern gibt. Ob es ein Bär ist? Ein Luchs? Ein Adler? Er nimmt all seinen Mut zu

Theodor schlüpft blitzschnell in seinen selbst genähten Bärenanzug, an dem sogar Ohren und ein Schwanz befestigt sind, hängt sich seinen selbst gebauten Bogen und den Köcher über die Schulter und öffnet die Tür einen Spaltbreit. Sie knirscht leise. Das mampfende Geräusch verstummt augenblicklich. Für einen Moment ist es mucksmäuschenstill. Theodor traut sich kaum zu atmen. Dann lugt er vorsichtig durch den Türspalt.

Aber … das Tier ist weg!

* * *

Uropa sitzt gemütlich auf der Veranda und wartet darauf, dass der Tag beginnt. Theodor lässt sich mit betrübter Miene neben ihn plumpsen.

»Ich glaube, ich habe einen Elch gesehen. Aber ich glaube es nur, ganz sicher bin ich mir nicht.«

Uropa hat einen karierten Hausmantel an und einen schicken Hut auf dem Kopf. Den trägt er immer, denn so sahen die Männer früher aus, damals, als Uropa ein kleiner Junge war.

Uropa erinnert sich noch ganz genau an seine Kindheit. Er weiß sogar noch, wie er einst davon träumte, ein Leben weit draußen in der freien Natur zu führen und große, wilde Tiere zu sehen.

»Elche sind sehr scheu. Sie zeigen sich den Menschen nur selten«, sagt Uropa und schaut Theodor mit seinem einen Auge an. Vor dem anderen Auge trägt er eine Klappe – wie ein echter Pirat! Die hat er aus dem Krieg.

»Möchtest du eine Geschichte hören?«, fragt Uropa.

Und ob Theodor das will.

Uropa bläst den Rauch in Richtung Horizont. Wie der Rauch aus der Friedenspfeife eines Indianers tanzt er über die Berge.

»Wer zuhört, der wird Abenteuer erleben.«

Theodor spitzt die Ohren.

Und dann legt Uropa endlich los!

»Damals, als ich ein kleiner Junge war, hatte ich einen Spielkameraden, der hieß Pummel.« So fängt jede von Uropas Geschichten an.

»Pummel liebte Helden – solche, zu denen man aufsehen kann, weil sie mutig sind und gute Taten vollbringen. Eines Tages, als Pummel zum Spielen zu mir nach Hause kam, hatte er ein Buch von seinem Bruder dabei. Es handelte von einem echten Helden namens Sitting Bull. Er war ein weiser und starker Indianerhäuptling mit Federkopfschmuck und Bogen – und weißt du, woher er seinen Namen hatte?«

Theodor schüttelt den Kopf und lauscht gespannt.

»Sitting Bull hatte im Kampf weit draußen in der Prärie große Tapferkeit bewiesen und seinem Volk geholfen, als es in Not war. Deshalb schenkte man ihm den Namen des mächtigsten aller Tiere: des Büffels.

Pummel fand, es wäre an der Zeit, der Welt zu zeigen, aus welchem Stoff wir gemacht waren – damit endlich auch wir Indianernamen bekamen.

Nicht weit entfernt von meinem Zuhause lag der Wald, und hier gab es Rothirsche. Es war Herbst, und im Herbst sind die Rothirsche in der Brunst.«

»Was bedeutet Brunst, Uropa?«

»Da fragen die Männchen die Weibchen, ob sie ihre Freundin sein möchten.«

Theodor kichert. »Wie hört sich das an?«

»So!« Uropa legt den Kopf in den Nacken und macht ein blökendes Geräusch. Es hallt zwischen den Bergspitzen wider.

»Du bist ganz schön plemplem, Uropa.«

»Vielleicht. Aber nicht so plemplem wie Pummel. Der spannte nämlich seinen Bogen und sagte: ›Wenn wir jetzt so einen brüllenden Burschen in der Brunst erlegen könnten, würden wir den Indianernamen Großer Rothirsch bekommen.‹

Doch ich war mir nicht ganz sicher, ob es das Gleiche war, einen Rothirsch zu erschießen oder wie Sitting Bull seinem Volk zu helfen, wenn es in Not war.

›Dann brauchen wir eigentlich nur darauf zu warten, dass wir jemanden retten können‹, sagte Pummel.

Also warteten wir. Und warteten. Und warteten. Aber es tauchte bloß eine Dame mit einem Hund auf, und die fand Hirsche bestimmt sehr hübsch und friedlich und gar nicht gefährlich.

›So eine Hühnerkacke! Heute ist niemand in Not‹, klagte Pummel. ›Was sollen wir jetzt machen?‹

Wir würden eine Hirschfalle bauen. Dann könnten wir den Hirsch daraus befreien, und auf diese Weise hätten wir ihn ›erlegt‹ und ihm gleichzeitig geholfen.

Die Nasen schnuppernd in die Luft gereckt, krochen wir auf allen vieren vorwärts – wie richtige Indianer, die auf der Pirsch sind. Irgendwann konnte der Hirsch nicht mehr weit sein. Das war leicht zu erkennen, weil auf dem Waldboden lauter Hirschköttel lagen.

Pummel war clever, er meinte nämlich, dass er viel zu dick wäre, um ein Loch für die Falle zu graben. Also hielt er Wache, während ich grub … und grub … und grub! Ich grub so tief, bis nur noch mein Kopf aus dem Loch herausschaute.

›Das sollte tief genug für einen Rothirsch sein‹, sagte Pummel zufrieden, ›für einen kleinen Rothirsch oder zumindest für eine Katze – eine kleine Katze.‹