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Gundolf S. Freyermuth

“Das war’s.”

Letzte Worte mit Charles Bukowski

FUEGO

Am Tag vor Charles Bukowskis letztem Geburtstag führte Gundolf S. Freyermuth mit dem deutsch-amerikanischen Kultautor ein intensives, siebenstündiges Gespräch. Es sollte das letzte Interview werden, das Bukowski gab, bevor er im März 1994 in Los Angeles starb.

Die beiden Autoren sprachen über Bukowskis ungewöhnliche Karriere, die ihn aus dem Pennerleben unter die Hollywoodstars führte, über das Handwerk des Schreibens, über Schriftstellerkollegen wie William S. Burroughs und Norman Mailer, über Ruhm und Geld und natürlich auch über den Tod.

Michael Montfort, Bukowskis Freund und Lieblingsfotograf, nahm dabei die letzten Bilder auf, die von dem großen “dirty old man” existieren.

Freyermuths von Sympathie geprägte Erinnerungen an Bukowski führen uns eine abenteuerliche Existenz vor Augen, die sich selbst zum Testfall bestimmte, indem sie am eigenen Leib die Sehnsüchte und Laster unserer Epoche erprobte. Reportage und Reflexion verbindend, untersucht das Buch den “Mythos Bukowski”, die Gründe für den einmaligen Aufstieg des Dichters zu einer deutsch-amerikanischen Kultfigur.

“ ... eine leise, kluge, lustige, unglaublich fesselnde Liebeserklärung an einen alten Dichter, der gegen Lebensende immer durchsichtiger wurde, immer leichter und immer besser lernte, mit seinen Mythen und Masken zu spielen.”

Der Spiegel 48/1996

Vorwort zur E-Book-Edition (2011)

Dieses Buch schrieb ich zunächst auf Englisch in den Jahren 1994/95, unmittelbar nach meinem letzten Treffen mit Charles Bukowski.

Charles Bukowski und Gundolf S. Freyermuth in San Pedro, 1993

1996 publizierte ich eine deutsche Fassung des Textes zusammen mit Michael Montforts besten Bukowski-Fotos unter dem Titel “Das war’s.” Letzte Worte mit Charles Bukowski (Hamburg 1996).

Buchcover

Die englische Fassung erschien dann 2000.

Diese erweiterte E-Book-Edition präsentiert nun die deutsche Fassung von 1996 sowie zusätzlich einen Essay über Bukowskis Lieblingsfotografen und guten Freund Michael Montfort, geschrieben ursprünglich 2004 für das Jahrbuch der deutschen Bukowski-Gesellschaft und 2008 nach Michaels Tod durch ein Postskriptum ergänzt.

Gleichzeitig erscheint auch eine verbesserte und erweiterte englischsprachige E-Book-Edition unter dem Titel “That’s It.” A Final Visit With Charles Bukowski.

Gundolf S. Freyermuth

Canyon Creek Ranch, AZ

Sommer 2011

I

Am offenen Sarg.

- Prolog -

“Der Tod löscht alles außer der Wahrheit;

er raubt einem Mann alles außer Genie und Tugend.

Er ist eine Art natürlicher Kanonisierung.

Er macht die Gemeinsten von uns heilig -

er setzt den Dichter in seine Unsterblichkeit ein,

und erhebt ihn in die Himmel.”

William Hazlitt

(über Lord Byrons Tod)

“Was wirklich passiert ist, ist egal.

Was ich schreibe, ist wirklich passiert.

Und rate mal, was? Ich bin immer der Held.”

Charles Bukowski

“Charles Bukowski, der schreibfreudige Schriftsteller und Poeta laureatus des Schattenlebens von Los Angeles, dessen grobgehauene autobiographische Gedichte, Kurzgeschichten und Romane seine schwer beschädigte alkoholische Jugend nacherzählten, starb am Mittwoch. Er war dreiundsiebzig Jahre alt.” Das meldete die “Los Angeles Times” am 10. März 1994.

Drei Tage später, an einem Sonntagabend, sagte Linda Lee Bukowski: “Laßt uns Hank besuchen gehen.”

Kurz vor neun Uhr rollten zwei Wagen, ein beiger Jaguar und ein silbergrauer Toyota, die weite Auffahrt vor dem Green Hills Memorial Park in Palos Verdes hinauf. Drei Männer um die fünfzig, Freunde des Toten, begleiteten Linda Bukowski: Dick Ellis, ein Arzt und begeisterter Geschichtenerzähler, den Bukowski erst im Krankenhaus kennen- und schätzenlernte; Michael Montfort, sein Leib- und Lieblingsfotograf; Carl Weissner, Bukowskis deutscher Agent und Übersetzer.

Die Sonne war schon eine Weile untergegangen, und die Luft hatte schnell abgekühlt. Der Friedhof liegt inmitten einer ruhigen Wohngegend auf grünen Hügeln. Von ihnen fällt der Blick frei hinunter ins Tal, auf Downtown San Pedro und die Kräne und Tanks des Hafens. Die Leichenhalle, ein einstöckiges Gebäude im Landhausstil, leuchtete neonhell in die Nacht.

In der Empfangshalle dämpften dicke Teppiche jeden Schall. Die elegante Dame an der Rezeption rief nach einem Führer, der die kleine Gruppe zu den Räumen geleiten sollte, in denen die Toten ruhen.

Während Linda Bukowski wartete, fielen ihre Augen auf die Tür zu dem großen Verkaufsraum. Vor ein paar Tagen hatte sie ihn zum erstenmal betreten. Als erstes hatte sie ein massiver Messingsarg für fünfunddreißigtausend Dollar angestarrt. Ganze vier Stück waren davon in den vergangenen zehn Jahren verkauft worden, allesamt an Asiaten. Linda Bukowski hatte aus dem reichhaltigen Angebot ein Exemplar aus Pappelholz gewählt.

“Das Holz ist seidenglatt”, sagt sie. “Und die Maserung ist so ... wunderschön. Aber nicht protzig. Schlicht und genau richtig für Hank.”

Der Weg zu den “Besuchsräumen” führte Linda Bukowski und ihre Begleiter an zahlreichen Türen vorbei. Die erste zur linken Hand stand offen. In ihr war ein Sarg zu sehen. Um den Toten herum hatte sich eine mexikanische Großfamilie versammelt, ein Dutzend Menschen aller Altersgruppen. Aus verborgenen Lautsprechern rieselte klassische Musik und verschluckte die Worte der Trauernden. Ein paar Türen weiter hockten zwei ältere Damen auf einer Couch und starrten stumm auf den offenen Sarg vor ihnen.

“Alles war sehr ruhig”, sagt Linda Bukowski, “ruhig und voller Frieden.”

Ganz am Ende des Ganges wartete eine geschlossene Tür.

“Ich weiß nicht mehr, was in meinem Kopf vorging”, sagt Michael Montfort, “aber ich habe irgendwie nicht damit gerechnet, wie schnell wir Hank ...”

Der Raum hinter der Tür war groß, entschieden größer als die anderen Zimmer, und er war so gut wie leer. Zwei Couchen, ein paar Sessel und zwei kleine Tischchen mit Blumengestecken verloren sich unter der hohen, bis unters Dach reichenden Decke. Das gedämpfte Licht konzentrierte sich auf eine Ecke am linken Ende des Raumes.

“Und da lag Hank”, sagt Linda Bukowski. “Ich war schon einmal vorher dagewesen, ich wußte, was auf mich zukam.”

Ein paar Schritte hinter ihr ging Michael Montfort. Linda Bukowski konnte seine Anspannung und seinen Widerwillen spüren.

“Oh, mein Gott ...”, sagte Michael Montfort, als er über ihre Schulter die Leiche seines Freundes sah. Sichtlich erschüttert ließ er sich in eins der Sofas fallen.

Seine Realität war eine andere als die, in der Linda Bukowski wahrnahm und fühlte. Was Michael Montfort gesehen hatte und immer noch sah, war beschädigter und schäbiger, billiger und trauriger. Denn mehr als mit dem Leben und Sterben des Dichters hatte die Welt, in der Montfort an diesem Abend litt, mit dem Leben und Sterben in Charles Bukowskis Kurzgeschichten zu tun.

In dieser Wirklichkeit war die Leichenhalle ein halbindustrieller Bau. Die langen Korridore im Innern ähnelten denen von Krankenhäusern. Allein der antiseptische Geruch fehlte, Beiwerk des hier aufgegebenen Kampfes gegen Krankheit und Tod. Ein Watteteppich aus Muzak verschluckte die leisen Geräusche und ließ lediglich hie und da ein Lachen oder Schluchzen über die Gänge hallen. Die Türen zu den Zimmern links und rechts standen offen. In jeder von ihnen war ein offener Sarg zu sehen; weiße, braune, schwarze. Sie ruhten auf dünnbeinigen Gestellen, und ihre Oberteile waren aufgeklappt. Um die Toten herum hatten sich Angehörige versammelt. Mehr Spanisch als Englisch war zu hören. Pizzapackungen und Pepsibüchsen standen herum. Musik spielte aus tragbaren Hifi-Anlagen. Toasts auf die Toten wurden ausgesprochen. Die meisten in den Trauergemeinden schienen in einer Art gehobener Partystimmung. Und am Ende des Alptraums lag Hank im offenen Sarg.

“Den hatten sie präpariert”, sagt Michael Montfort. “Er hatte volle Backen und lächelte. Freundlicher, als er je in seinem Leben gelächelt hat.”

“Seine Backen waren nicht voll”, sagt Linda Bukowski. “Und er lächelte nicht. Sie hatten Hank sehr unauffällig zurecht gemacht. Ohne ihn mit einem Haufen verrückten Make-up vollzuschmieren.”

Das vernarbte und verwitterte Gesicht, von dem eine Bewunderin meinte, es nähme sich gut am Mount Rushmore aus, neben Lincoln, Jefferson, Washington und Roosevelt, war sauber rasiert. Der Tote trug seine Lieblingkleidung: ein helles Hemd und einen Windbreaker. In der Brusttasche des Hemdes war sein Federhalteretui; ein Schreibstift ragte heraus. In der Tasche seiner Hose steckten sein Kamm - und ein Liebesbrief, den ihm seine Frau geschrieben hatte. Charles Bukowski war angezogen, um auf die Rennbahn zu gehen und dort wie eh und je in der halben Stunde zwischen den Starts seine Wetten abzugeben.

“Ich frage mich oft”, sagte er vor ein paar Jahren, “ob ich mich auf meinem Sterbebett (falls ich Glück habe, sterbe ich in einem) nach der dreißigminütigen Pause sehnen werde, diesem Warten zwischen den Rennen.”

“Komm, Michael!” hörte Michael Montfort Lindas Stimme, fest und bestimmt. Die schmale, feingliedrige Frau stand neben dem Toten: “Sei ein Mann. Faß ihn an!”

“Ich glaube, Michael ist einfach ausgerastet. Er ist ein solcher Hank-Freak! Er pflegt die Bukowski-Mythologie. Und in ihr wird alles ein bißchen übertrieben ...”, sagt Linda Bukowski. “Ich sah, wie Michael Hank betrachtete, und sprach leise und beruhigend auf ihn ein; daß alles in Ordnung sei, daß er sich entspannen solle, daß er Hank anfassen könne ...”

“Ich habe also seine Finger genommen, und die waren hart, hart wie kalter Zement”, sagt Michael Montfort. “Die drei anderen umarmten sich und standen stumm vor Hank. Ich bin raus und habe erstmal eine geraucht.”

“Ich hatte Hank an dem Abend einen zweiten Schreiber mitgebracht”, sagt Linda Bukowski. “Denn Hank ging nie mit nur einem Stift auf die Rennbahn. Er mußte immer zwei haben. Falls einer versagen würde.”

Linda Bukowski steckte den zweiten Stift in die Brusttasche des Toten. Dann streichelte sie seine Stirn.

“Alles fühlte sich kalt an. Nur die Augenbrauen waren noch die von Hank. Diese großen buschigen Augenbrauen, vor allem die linke. Deren Haare waren widerspenstig. Ich schob sie also wieder in Ordnung, wie ich es immer getan habe ... Alles andere aber war kalt und hart, obwohl sich die Haut bewegen ließ. Ich wußte, da war nichts mehr in dieser Hülle. Es war entsetzlich. Da war nur noch die Hülle.”

II

Erste Begegnung im “Spago”.

- Eine Rückblende -

Als ich Charles Bukowski zum erstenmal traf, waren Glamour und Tod um uns. Jenseits der breiten Fensterfront glitzerte das nächtliche Los Angeles reich und kalt und bunt. Diesseits waren die Tische weiß gedeckt und die Menschen von großer Schönheit. Spektakulärer als in Wolfgang Pucks “Spago” über dem Sunset Boulevard ließ sich damals, im September 1985, kein Hollywood-Geburtstag feiern. Der Abend war eine mehr oder weniger deutsche Veranstaltung, arrangiert von Michael Montfort zu Ehren seiner damaligen Frau Frances Schoenberger. Arnold Schwarzenegger saß, ab und an den Arm um Maria Shrivers Schultern, still an seinem Ehrenplatz und rauchte eine riesige Zigarre. Hildegard Knef dominierte den Raum, krebskrank und dürr und betrunken, und neben ihr stand ihre Tochter, so blaß und bleich, daß einem Angst wurde. George Hamilton glitt als braunverbrannter Engel durch die Gästeschar, und um ihn herum schwirrten heute längst vergessene Stars aus “Dallas” und “Denver”.

Wer nicht schön oder berühmt war, saß ganz selbstverständlich im Abseits. Charles Bukowski war berühmt, aber nicht schlank, sondern bierbäuchig; nicht glattgesichtig, sondern lädiert, nicht schöngeistig, sondern voll der Intelligenz, die einem häßliche Gedanken macht. Linda Lee Beighle, seine langjährige Freundin, die er wenige Monate zuvor geheiratet hatte, war wunderschön. Doch als Ex-Betreiberin eines Reformkostladens war sie das dezent und nicht showbusiness-grell. Und obendrein war sie nicht weltberühmt. So gerieten Linda und Charles Bukowski an einen Tisch am Rande - und damit neben mich.

Bukowskis Stories und Gedichte hatte ich noch in meinen Schuljahren entdeckt; wenn auch nicht im Unterricht. In seiner Vorurteilssicherheit dürfte mein damaliges Bild von ihm dem des durchschnittlichen deutschen Lesers geglichen haben: Leben wie Werk eine einzige wunderbare Sauerei. Das Beschlafungs-Sofa in seiner Behausung etwa hätte ich ähnlich imaginiert, wie es ein Rezensent der “Stuttgarter Zeitung” ein paar Monate zuvor getan hatte: Die Couch sei, schrieb er, “wie ich behaupten möchte, ohne sie je gesehen zu haben, meistens ein wenig schmuddelig, befleckt von Sperma und Hämorrhoiden-Salbe. Der Mann, der darauf hockt, nun zu Beginn seines siebten Jahrzehnts, mit einem von Akne zernarbten Gesicht, seiner rotgeäderten Säufernase, seinem Lächeln, in dem sich der Ausdruck von Ziegenbock und Fuchs einzigartig durchdringt, wirkt vielleicht nicht sehr vertrauenerweckend, aber er ist wohl der nordamerikanische Lyriker der zweiten Jahrhunderthälfte.”

Als die Bukowskis sich zu mir setzten, meinte ich daher, sie und ihr Leben zu kennen. Kein Grund für große Reden. Gleich zu Beginn stieß Mister Bukowski seinen gewaltigen, urmenschlichen Schädel mit dem brutal-hervorragenden Kiefer angriffslustig in mein Gesicht und verbat sich, daß ich ihn “Mister Bukowski” nannte. “Hank” war okay, “Buk” ebenfalls. Danach gestaltete sich das Besäufnis wortkarg. Die langen Pausen, die nur hin und wieder von kurzen Sätzen unterbrochen wurden, schufen mehr Einvernehmen als die wenigen nichtssagenden Worte, die wir wechselten.

Charles Bukowski sah aus und verhielt sich genau so, wie ihn seine zahlreichen Besucher dem deutschen Publikum geschildert hatten. Er war knapp einen Meter achtzig groß, wirkte aber “kleiner und gedrungen, weil er den Kopf mit der Buffalo-Bill-Frisur zwischen die Schultern zieht und den ebenmäßig runden Bauch eines wohlgenährten Babies besitzt” (“stern”). Sein narbiges Gesicht war “freundlich, gutmütig, schwermütig wie ein Haufen altes Pavianfleisch” (“Spiegel”). Sein Mund hatte sich habituell zu einem zufriedenen Grinsen verzogen, und seine Bewegungen zeigten eine Müdigkeit, die nicht Schlafmangel, sondern existentielle Erschöpfung verriet. Sie hatte ich treffend allein beim besten seiner Porträtisten beschrieben gefunden - bei ihm selbst: “Sieht sehr müde aus. Redet nicht viel, und wenn er was sagt, ist es irgendwie flach und nichtssagend. Man würde nie drauf kommen, daß er all diese Gedichtbände geschrieben hat. Er hat viel zu lang im Postamt Briefe sortiert.” Der wirkliche Charles Bukowski “mit seinem sandgestrahlten Gesicht, Warzen auf den Lidern und einer hervorstechenden Nase, die aussieht, als sei sie auf dem Schrottplatz zusammengeschraubt worden und zwar aus Studebaker Motorhauben und Buick Kotflügeln”, ähnelte in der Tat “Panzerknacker Ede mit Disneyland-Hausverbot”. Hinter seinen Zeitlupen-Gesten war jedoch eine unablässige Anspannung zu spüren, eine Unruhe und Wut, die seine ostentative Gelassenheit von innen vibrieren ließ.

Später am Abend und sturzbetrunken würde Bukowski sich nach dem stärksten Gegner weit und breit umsehen, und das war Arnold, das Zigarren rauchende Muskelmonster. Er würde rübergehen zu ihm und sich vor ihm aufbauen und ihn mit einer Suada von Beschimpfungen überschütten: “Du Scheißkerl mit deiner Scheißzigarre, was meinst du eigentlich, wer du bist? Du und deine Scheißfilme, du kleiner megalomanischer Scheißer ...” Und Arnold Schwarzenegger würde es erschreckt und ratlos hinnehmen.

Doch noch trank Charles Bukowski systematisch und mit angespannter Gleichgültigkeit auf diesen Höhepunkt hin. Inmitten der Geburtstagsfröhlichkeit glich das Schweigen an unserem Tisch dem trügerischen Frieden im Auge des Hurrikans. Ich zumindest genoß ihn.

Bis die Eilmeldung hereinplatzte: Axel Caesar Springer tot!

An den konservativen Pressezaren hatten nicht wenige der Deutschen im Raum irgendwann einmal ihre Seele verkauft. Springer war der Achtundsechziger-Anti-Christ. Mit dem dreiundsiebzigjährigen Selfmade-Mann fuhr der Bösewicht einer ganzen Generation ins Grab. Entsprechend groß war die Aufregung.

Charles Bukowski, geboren 1920 in Andernach am Rhein als Sohn einer deutschen Mutter und eines polnisch-amerikanischen Gis und in Los Angeles aufgewachsen, verstand kaum ein Wort deutsch. Von dem toten Pressetycoon hatte er noch nie gehört. Recht vergeblich versuchte ich, ihm die kolossale politische Bedeutung zu erklären, zu der es der Verblichene als Haßobjekt der bundesrepublikanischen Studentenrevolte gebracht hatte.

Bukowski lauschte meinem hilflosen Gestammel über “einer wie Hearst” und “Citizen Springer”, bis sein Weinglas leer war und ein Kellner kam, um es wieder aufzufüllen.

“Laß mal!” lächelte er mir wölfisch zu. “Ist sowieso nicht mehr so wichtig!” Gutgelaunt hob er das Weinglas.

“Ein Toast?” fragte Linda.

“Auf das Arschloch!”

“Na ja”, zögerte ich.

“Los, Mann!” sagte Buk. “Jetzt, wo der Springer-Kerl tot ist, kann er kaum noch Schaden anrichten. Wenn wir das Atmen erstmal eingestellt haben, reicht’s gerade mal zu ein bißchen Umweltverschmutzung, und das war’s dann.”

III

Das Leben als Testfall.

- oder: Bukowskis langes Sterben -

Mancher Leute Leben steht der Natur, und das heißt dem Tod, näher; der Mediziner etwa dem fremden Sterben, der Abenteurer dem eigenen. Solange er sich erinnern konnte, lebte Charles Bukowski als Abenteurer - allerdings der spätmodernen Art. Die Gefahren, denen er seinen Körper aussetzte, waren nicht die längst anachronistischen Widrigkeiten von Wüste oder Dschungel. Er erforschte die Verderbnisse der zweiten, künstlichen Natur; jener, die von Menschen geschaffen wurde, um die Not ihrer Natürlichkeit zu verdrängen, zu vergessen. Bukowskis Terra incognita lag im nur menschenmöglichen Untergrund der großen Städte: verlorene Liebe und verzweifelter Sex, Alkohol, Pferderennen und, das gewagteste und perverseste aller künstlichen Abenteuer, Literatur.

Die Etiketten, die ihm jene anhängten, die Charles Bukowski auf diesem letzten Terrain als seine natürlichen Gegner erwuchsen, die Kritiker, konnten sich in Brutalität und Widersprüchlichkeit bisweilen mit seinem eigenen Werk messen. Den offiziellen “Outsider des Jahres” und gleichgültigen “Chronisten der Subkultur” schimpften sie einen “alkoholgeschwängerten Lobsänger der Gosse” und “schmuddeligen Narziß”, einen “Sex- und Suff-Maniak”, “Großmeister der Brunft” und “Gammler mit intellektuellem Pfiff”, ein “fossiles Gegenstück zur Null-Bock-Generation”, einen “Elder Statesman abgewirtschafteter und versoffener Ausschweifungen” sowie “Poeta laureatus des Schlüpfrigen”. Wohlwollendere Experten vermuteten in Bukowski einen “Majakowski des Pazifik” und “proletarischen amerikanischen Künstler mit bestens entwickeltem Überlebensinstinkt”. Sie nannten ihn den “Schutzheiligen des Punk” und ebenso den “Schutzheiligen aller trinkenden Schreiber oder schreibenden Trinker”. Sie verehrten ihn als “Barden der Bars und Bordelle, direkter Nachfahre der romantischen Visionäre, die am Altar ihrer persönlichen Exzesse, der Gewalt und des Wahnsinns opferten”. Sie bewunderten den “Überlebenden und merkwürdigen literarischen Platzhirsch”, den intimen “Fremdenführer zu den Alpträumen seiner eigenen Persönlichkeit”. Sie priesen ihn als “Philosophen der Straße”, “Historiker seiner privaten Fickgeschichten” oder stellten schlicht und erregt fest: “Bukowski ist eine alte Drecksau.”

Treffend ist dabei die umstandslose Verbindung zwischen Bukowskis physischer Existenz und seiner Teilhabe an den Verirrungen der Epoche. Das Bild vom Künstler als Helden hat in der Moderne ein anderer Dichter vornamens Charles ausgeformt - Baudelaire, der “Lumpensammler” und “Apache”, der Priester Pariser Ausschweifungen. Über ihn schrieb Walter Benjamin, was - mutatis mutandis - für den rastlosen Sunset-Boulevardier in der Hauptstadt des zwanzigsten Jahrhunderts gilt. Im Duell mit den Schrecken moderner Erfahrung, einer endlosen Kette sensorischer Schocks, die formend auf das Bewußtsein einhämmern, hat Charles Bukowski, ganz popmoderner Spiegelfechter, es sich “zu seiner Sache gemacht, die Chocks mit seiner geistigen und physischen Person zu parieren, woher sie kommen mochten”.

Eine solche Existenz, die sich selbst zum Testfall bestimmt, muß ums Überleben und damit um den Tod kreisen. Er steht denn auch allzeit bereit, in Bukowskis Texten über den “American Way of Life and Death” ebenso wie in nahezu allem, was über seine Person geschrieben wurde. In einer Titelgeschichte von “Rolling Stone” erzählte Glenn Esterly 1976 vom Beinahe-Tod des Dichters und gab so das Leitmotiv vor: Mit fünfunddreißig sei “Bukowski fast am Alkohol gestorben. Mit einer Magenblutung wurde er ins Los Angeles County Hospital eingeliefert, wo man elf Flaschen Blut in ihn abfüllte. Als er entlassen wurde, eröffneten ihm die Ärzte, die nächste Sauftour werde sein sicherer Tod sein. Das machte ihn so ner-vös, daß er sofort in die nächste Kneipe ging und einige Glas Bier kippte ...” Das eigene Treffen mit Bukowski beschrieb Esterly nicht minder dramatisch: “Das Bier geht rapide zur Neige, und seine blutunterlaufenen Augen sitzen jetzt sehr tief in diesen Löchern unter den buschigen Augenbrauen [...] Bukowski sieht aus, als sei er schon halb in Verwesung übergegangen.”

So oder ähnlich heulte es von nun an durch den dunklen Blätterwald; lauter als in den USA noch in Deutschland, wo Bukowski in den siebziger Jahren zum Superstar der literarischen Szene aufstieg. Esterlys Artikel wurde auf Deutsch als Vorwort zu “Schlechte Verlierer” nachgedruckt. Ein Schriftsteller, der dem Tod ins Auge starrte - Kritiker und Reporter rochen Blut. Am Anfang überwog Randgruppen-Sympathie für den armen Underdog: “Hetzt den alten Mann nicht zu sehr”, schrieb Wolf Wondratschek 1977 im “Spiegel”: “Und laßt ihn in Ruhe sein Bier trinken. Überweist ihm regelmäßig seine Tantiemen, bevor er endgültig seinen Freund Ernie [Hemingway] besucht, sein noch immer unerreichtes Vorbild.” Und Peggy Parnass sorgte sich ein Jahr später in “konkret”: “Wußte, er ist ein Säufer und schwerkrank. Ging hin, weil ich dachte, daß ich ihn sonst vielleicht für immer verpasse.” Später obsiegte dann ungeduldiger End-Achtziger-Haß auf einen, der nicht sterben wollte, obwohl seine Zeit längst abgelaufen schien und er als Untoter unangenehm die Ex-Fans daran erinnerte, daß sie mit seiner wie mit ihrer eigenen Vergangenheit leben mußten, bis der Tod sie schied: “Und deshalb fahr endlich zur Hölle, Papa Buk, schreib nie wieder was”, fluchte Maxim Biller 1990 in “Tempo”: “Dein letztes Buch reicht gerade noch für einen stilvollen Abgang.”