Das Amulett in der Wüste eBook

Das Amulett in der Wüste

Fay Winterberg

 

Information zur New-Steampunk-Age-Reihe

 

Teil 1

Wien – Stadt der Vampire

 

Teil 2

Das Amulett in der Wüste

 

Teil 3

Kain – Der erste Vampir

 

Teil 4

Erscheint bald im Art Skript Phantastik Verlag

Impressum

 

Copyright © 2016 Art Skript Phantastik Verlag

Copyright © 2016 Fay Winterberg

 

Lektorat/Korrektorat » Marion Lembke

www.mysteryofbooks.de

 

Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Cover-Illustration » Barbara Brosowski Utzinger

www.akeyla.com

Innsenseiten-Illustrationen » Origins Digital Curio

über www.creativemarket.com

Autorenfoto » David Knospe | www.davidknospe.de

 

Der Verlag im Internet

www.artskriptphantastik.de

 

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Über die Autorin

 

Fay ist ein Kind der späten 80er Jahre und diesem Jahrzehnt in allem außer dem Kleidungsstil treu geblieben. Schon früh entdeckte sie die Liebe zum Unheimlichen, so war ihr Lieblingsmärchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Später faszinierten Sie Filme wie »The Addams Family«, »Nightmare before Christmas« und »Beetlejuce«. Der erste Vampir, in den sie sich verknallte und der auch gleichsam Ursprung ihrer Vernarrtheit zu Vampiren wurde, war Lestat und diese Liebe dauert bis heute an. Durch Pop-Musicals wie »Tanz der Vampire«, Animes wie »Vampire Hunter D« und Mangas wie »Trinity Blood« vertiefte und erweiterte sie ihr Wissen um die dünster-schönen Wesen der Nacht. Kein Wunder, dass bald der Wunsch in ihr erwachte, selbst Vampir-Geschichten zu schreiben.

 

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Vorwort von Stefanie Mühlsteph

 

Was ist Steampunk? - Für die Einen ist es viktorianisch angehauchte Mode oder Kunst, für die Anderen Zahnräder und Dampfschwaden, Dystopie einer vergangenen Zeit oder Neo-Futurismus. Steampunk ist Jules Verne und H. G. Wells, Science Fiction und alternative Zukunftsvisionen.

Für mich ist Steampunk Abenteuer, Wissenschaft und ein Quäntchen Wahnsinn. Aus diesem Grund begann ich die New Steampunk Age-Reihe zu lesen. Es war neu, aufregend und macht das, was den Steampunk so besonders macht. Er erschafft neue Dinge. Mischt Altes und Modernes. Literarisch gesehen zwei Genre.

Lilith ist dabei nicht wie Phileas Fogg oder Nemo. Nein, sie ist Lilith und lebt in einer Welt, in der es Vampire gibt, Menschen und andere Wesen, die man aus anderen Urban Fantasy Romanen kennt. Was »Wien – Stadt der Vampire« besonders macht ist die Verquickung dieser zwei Elemente: Steampunk und städtische Fantasy, wie wir sie kennen. Die Vampire sind aristokratische Clockworker, aber auch toughe Frauen, die für ein gemeinsames, friedliches Zusammenleben von Mensch und Vampir kämpfen.

So lernte ich nicht nur das Buch kennen, sondern auch Fay.

 

Als mich Fay Anfang 2014 fragte, ob ich Betaleserin für den zweiten Band sein möchte, konnte ich nicht Nein sagen. Sie warf mich bildgewaltig in eine Welt, die noch phantastischer und vollständiger war als Band 1. Es war eine Steigerung zum ersten Teil, nicht nur von der Geschichte her, sondern auch ihrer Technik. Fay hatte sich jede einzelne Kritik, jede Rezension und jeden Verbesserungsvorschlag der Leser zu Herzen genommen. Auf jeder Seite spürte man ihre Leidenschaft für den Steampunk und Liliths Geschichte brennen. Sie will diese Geschichte nicht einfach erzählen, sondern möchte den Leser einfangen und ihn auch zum Lodern bringen.

Ich war dabei, als die Reihe neu und majestätischer wiedergeboren wurde. Und Dir, werter Leser, wünsche ich viel Spaß bei diesem grandiosen Abenteuer!

 

 

Zeitstrahl

 

Dieses Buch spielt im 23. Jahrhundert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Sie – werter Leser – mit der einen oder anderen historischen Tatsache nicht vertraut sind. Um Ihnen einen kleinen Einblick in die Ereignisse der bald bevorstehenden Zukunft zu geben, wurde für Sie dieser Zeitstrahl angelegt. Ich hoffe, Sie empfinden ihn als nützlich.

 

Technikum | 1989 bis 2033

Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde das Technikum Zeitalter begründet. Diese Jahrzehnte sind geprägt von technischen Fortschritt und dem Streben nach immer leistungsstärkeren Gerätschaften.

 

Interstellar-Ära | 2033 bis 2090

Auch bekannt als Das neue Raumfahrtzeitalter. Eine kurze Zeitspanne geprägt von mehreren bemannten Flügen ins Weltall. Nach dem Scheitern der letzten großen Mission und dem Absturz des Raumschiffes Asgard 7 nahm die Interstellar-Ära ein rasches Ende und wich sogleich den Jahren der Jagd.

 

Die Jahre der Jagd | 2090 bis 2100

Mit der Offenbarung von Arcadiel DeBohéme, das Vampire und andere mystische Wessen wahrhaftig existieren, begann auch die weltweite Jagd auf sie.

 

Das New Steampunk Age | 2100 bis heute

Der Erlass der Neuen Europäischen Gesetzte sicherte den Frieden zwischen menschlichen und übernatürlichen Wesen. Der Krieg hat die Ressourcen der Erde aufgebraucht und so besinnen sie sich auf die alte Technik der Viktorianischen Ära zurück und verbinden diese mit den Errungenschaften des Technikum-Zeitalters.

 

 

Prolog | Die Schlafende

 

Das letzte Licht des sterbenden Tages drang durch einen Spalt zwischen den schweren Samtvorhängen hinein in das alte Zimmer, in dem sie lag. Die Schleier des mittelalterlichen Himmelbettes waren geöffnet und die matten Sonnenstrahlen fielen auf ihren Körper. Fast hätte man sie für tot halten können, doch alle paar Minuten tat ihr unsterbliches Herz eine sanfte Bewegung, die von dem leise tickenden Gerät neben dem Bett aufgezeichnet wurde. Eingehüllt in ein Schlafgewand, das im letzten Jahrhundert schon aus der Mode gekommen war, sah sie friedlich und mit sich und der Welt im Reinen aus. Ihr langes, blondes Lockenhaar war fein säuberlich auf das weiche Kissen drapiert worden.

Ruhe beherrschte diesen Ort. Das dicke Fensterglas hielt jeden erdenklichen Lärm draußen. Feine Staubkörnchen tanzten im Licht, bevor sie lautlos zu Boden fielen. Doch von dieser friedlichen Stille bekam die Schlafende nichts mit, denn innerlich schrie sie aus Leibeskräften und fragte sich, warum niemand sie hörte.

Die Zimmertür öffnete sich und ein junger Mann erschien. Seine plötzliche Anwesenheit tat der Friedlichkeit des Zimmers nichts an. Er schloss lautlos die Tür und trat auf das Bett zu.

Sein Gesicht, das sonst eine aristokratische Gleichgültigkeit aufwies, war voller Trauer, als er auf die Schlafende hinabblickte.

»Guten Abend, Margarete«, begrüßte er sie wie jeden Abend. »Gibt es etwas, dass ich für dich tun kann?«

Sie antwortete ihm mit Schweigen und er versuchte wie sonst auch, nicht allzu enttäuscht zu sein. Sie war sein Anker, seine Rettung, ohne sie würde er schon lange nicht mehr auf Erden wandeln. Vorsichtig ließ er sich auf dem schmalen Bettrand nieder.

»Ich bin da«, sagte er, wie er es immer tat, wenn die Verzweiflung ihn übermannte. »Ich bewache deinen Schlaf, ich schütze deinen Körper. Aber du musst zurückkommen. Balthasar braucht dich, und ich brauche dich auch.«

Die Sonne verschwand hinter den Häuserschluchten Berlins und ließ das Licht im Zimmer ersterben. Der junge Vampir seufzte tief. Sie so zu sehen, schmerzte ihn mehr als alles, was er sich in seinen schlimmsten Albträumen je hätte erdenken können.

Langsam erhob er sich, doch plötzlich riss es ihn wieder hinunter. Verstört sah er auf seinen Arm, der von einer bleichen Hand gepackt worden war. Er wandte seinen Blick Margaretes Gesicht zu. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

Schnell beugte er sich zu ihr. »Ich bin hier!«, rief er in der Hoffnung, sie so besser erreichen zu können.

Ihre blauen Augen suchten seine.

»Alles wird gut, ich bin da«, wiederholte der Vampir immer wieder.

Ihre trockenen Lippen teilten sich und er neigte sich noch tiefer, um jedes Wort aufzunehmen.

»Das Ende der Welt ist nahe!«

 

 

1 | Post aus London

 

Lilith ergriff das Geländer der rollenden Straßenbahn, schwang sich hinauf und blieb neben dem Eingang am Ende des Waggons stehen. Ratternd gewann die Bahn an Fahrt. Mit acht Zentimeter hohen Absätzen und fünf Einkaufstüten, die ihr in der Armbeuge schmerzten, wollte sie nicht lange stehen. Lilith öffnete die grüne Tür mit der großen Glasscheibe und trat in den warmen Innenraum.

Der Schaffner kam mit missbilligendem Blick auf sie zu. »Auch wenn dieser antike Waggon mit dem stabilen Geländer dazu einlädt, das Aufspringen während der Fahrt ist strengstens untersagt, junge Dame«, tadelte er und stempelte ihr Tagesticket ab. Lilith versuchte, schuldbewusst zu schauen, obwohl es ihr so viel Spaß gemacht hatte, und setzte sich auf den freien Polstersitz am Ende der Reihe. Dass er sie als junge Dame bezeichnete, freute die Fast-Siebenundzwanzigjährige umso mehr.

Diese junge, milde Märznacht war wie fürs Shoppen gemacht, doch Lilith hatte schon viel zu viel Zeit auf der Prager Straße verbracht. Sie war erschöpft und lehnte sich gegen die hölzern vertäfelte Wand; zum Glück verhinderten die lauten, ratternden Geräusche der Bahn ein schnelles Einschlafen.

Sie neigte ihren Kopf zur Seite und erblickte die Werbebroschüren neben sich. Theater- und Cinématographen-Aufführungen fanden hier ebenso ihren Platz wie Ausstellungen und Künstlergesuche.

Lilith überflog die Auslage, die in rechteckigen Prospekthaltern aus Glas an der Wand angebracht waren. Jahrmarkt der Maschinen – Dieses Jahr wieder mit großer Erfindermesse hieß es auf einem der größeren Flyer. Das Cinématographen-Theater am Waldschlösschen warb mit Filme der Vergangenheit – Die großen Sternstunden der Kinojahre 2000 bis 2050. Lilith schnappte sich einen Prospekt. Dahinter kam ein anderer zum Vorschein. Dresden, wie eine Stadt überlebt –Von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus und die DDR, dem Technikum-Zeitalter, der Interstellar-Ära bis hin zu den Jahren der Jagd und den Anfängen des New Steampunk Age. Auch diesen Handzettel nahm sie an sich und schlug ihn sogleich auf.

Die Ausstellung zeigte Überbleibsel der vergangenen Jahrhunderte in Form von Alltagsgegenständen wie Kleidung, Uhren, Mobiltelefonen und dem letzten funktionstüchtigen Tablet aus dem Jahre 2087 – wie der große Werbestempel verkündete. Auch die Entwicklung der Technologie wurde vorgestellt. Wie sie sich bis zu den Jahren der Jagd gesteigert hatte und dann einen rapiden Rückgang erfuhr.

Technologie aus dieser Zeit gab es noch genügend, es mangelte lediglich an den Leuten, die sie bedienen konnten. Pläne zum Bau von Flugzeugen oder Atomkraftwerken gab es massenweise, doch die finanziellen Mittel waren zu gering, der Aufwand zu groß und selbst wenn irgendjemand ein solches Projekt in die Wege leiten sollte, fehlte es noch immer an geschultem Fachpersonal.

Mittlerweile waren die Leute mit Luftschiffen und Dampflokomotiven zufrieden und keiner wollte mehr zum Mond oder zum Mars reisen. Die am besten erhaltenen Überbleibsel der vergangenen Technologie waren das Telekommunikationsnetzwerk, die Waffenherstellung und das Internet – auch wenn während des Krieges einige Server zerstört worden waren.

Die Hersteller des Flyers hatten das nicht einmal annährend so gut zusammengefasst wie Lilith gerade in ihrem Kopf. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte sie sich darum gerissen, an diesem Projekt beteiligt zu sein. Doch man hatte sich für einen anderen Bewerber entschieden. Sie war stattdessen nach Japan gegangen, um einem Archäologen zu assistieren. Dieser wiederum war auf die Taishô-Ära spezialisiert, die in Japan die Zeit um den Ersten Weltkrieg herum markiert.

Im Nachhinein hatte sich diese Fügung doch als die bessere Wahl herausgestellt. Zumindest bildete sich das Lilith ein. Las sich auch gut im Lebenslauf: von Tokio nach Berlin, dann Dresden, dann Wien …

Vor ein paar Tagen war sie von dort zurückgekehrt. Fast eine Woche, nachdem sie Phineas Bell-Carolinga begegnet war. Die beiden waren durch Foedus Facer, eine wenig bekannte Form der Vampir-Magie, die nur zwischen einem vollwertigen Vampir und einem Halbvampir auftreten konnte, miteinander verbunden. Der Zauber bewirkte, dass sie die Kräfte des anderen anzapfen oder, was seltener vorkam, dessen Gedanken und Gefühle spüren konnten. Lilith sah vermehrt fremde Erinnerungen, die in Form von Träumen kamen. Meist konnte sie sich jedoch an kaum etwas erinnern. Schemenhafte Gestalten und Orte aus einer Zeit weit vor ihrer Geburt waren alles, was am Ende des Traumes blieb.

Mit Liebe hatte diese Verbindung nichts zu tun. Sie mochte Phineas, dennoch kannte sie ihn schlichtweg zu wenig, um beurteilen zu können, ob da mehr draus werden könnte. Und selbst wenn … die Geliebte eines Vampir-Prinzen wurde in der Gesellschaft ebenso abfällig beäugt wie die 20-jährige Frau eines 60-jährigen Multimillionärs. Jeder, der sich auf eine solche Beziehung einließ, musste mit diesem Vorurteil klarkommen. Nur wenn man sich bereits einen Namen in der Politik gemacht oder auf andere Weise eine hohe Position in der Vampirwelt einnahm, konnte man sich eine solche Beziehung leisten.

Warum machte sie sich schon wieder darüber Gedanken? Sie stöhnte leise und sah aus dem Fenster. Nur noch zwei Stationen. Sie ließ die Schultern kreisen und streckte ihre Beine aus.

Nie wieder hohe Schuhe beim Shoppen!

Dieses Mantra sprach sie in Gedanken vor sich hin, obwohl es ja doch nichts brachte. Zumindest musste sie nicht mehr an Phineas denken.

Die Bahn hielt an und Lilith erhob sich, wobei ihre Knöchel beim ersten Auftreten bösartig knackende Geräusche von sich gaben. Der Weg zur Residenz war gerade noch zu schaffen, doch die Kieselstein-Auffahrt hinauf musste sie aufpassen, nicht zu verunglücken. Zum Glück war sie allein, jeden Begleiter hätte sie vollgejammert und dann doch nur ein »Selber schuld« zu hören bekommen.

Nie wieder hohe Schuhe beim Shoppen!

Kaum hatte sie die Haustür hinter sich geschlossen, kam ihr auch schon Mercedes entgegen. Die Sekretärin ihres Vaters war wie immer perfekt gekleidet in ein schlichtes Ensemble aus weißer Bluse und langem, schwarzem Rock, lediglich das farblich passende Taillenkorsett war aufwendig gearbeitet. Wie Mercedes den lieben langen Tag auf hohen Stiefeletten mit dünnem Absatz herumlaufen konnte, während sie selbst es keine drei Stunden durchhielt, war Lilith ein Rätsel.

»Dein Vater möchte mit dir sprechen«, verkündete die Französin.

»Uff«, gab Lilith nur von sich und reichte ihr eine Tüte. »Deine Bestellung.«

»Merci vielmals.«

»Kann ich die Einkäufe noch abstellen?«

»Natürlich«, meinte Mercedes. »Soll ich dir etwas zu trinken bringen lassen? Einen Kaffee?«

»‘ne heiße Schokolade wäre super«, gab sie dankend zurück und wollte gerade die Treppe in den ersten Stock nehmen, da knallte dort eine Tür zu. Balthasar erschien am oberen Absatz und rannte die Stufen in einer Geschwindigkeit herunter, die selbst für einen Vampir ungewöhnlich schnell war.

»Mercedes, meine Schlüssel!«, rief er der Sekretärin zu, die rasch einen Schlüsselbund aus ihrer engen Rocktasche zog.

Balthasar schnappte danach und war gleich darauf hinter der Tür zur Garage verschwunden.

»Was war das denn?«, fragte Lilith an Mercedes gewandt, diese zuckte nur mit den Schultern.

Lilith schüttelte den Kopf und machte sich dann erneut an den Aufstieg in den ersten Stock.

 

* * *

 

Langsamer als sonst schloss Lilith die Tür zu ihrem Zimmer auf und betätigte mit dem Ellenbogen den Lichtschalter. Eine nackte Glühbirne erhellte den noch nicht vollständig neu eingerichteten Raum. Sie stellte die Taschen vor dem Schrank neben der Tür ab und sank auf ihrem Bett nieder. Endlich konnte sie die wunderschönen und gleichsam schmerzenden Schuhe ausziehen. Unter einer Mischung aus Jammern und Lachen – über ihre eigene Blödheit – streckte sie die Füße aus und kreiste sie langsam. Auch wenn der Schmerz nicht aufhörte, wurde er zumindest erträglicher. Sie ließ die Füße noch ein paar Minuten länger einfach nur Füße sein und erhob sich dann gemächlich.

Barfuß ging sie über den Parkettboden zwei Gänge weiter zum Büro ihres Vaters und klopfte an. Kommentarlos öffnete Elias die Tür und sprach dann weiter mit der Person am Telefon. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, in den Wintergarten zu gehen. Lilith folgte seinem Wink und begab sich in den angrenzenden Raum. Mittlerweile standen dort Grünpflanzen und Kakteen vor der hohen Glasfassade.

»Aua!« Prompt hatte sie sich an einem neu platzierten Kaktus gestochen, der etwas zu nahe neben der Tür stand. Sie bückte sich und schob ihn vorsichtig ein Stück zur Seite. Der kleine Riss auf ihrem Handrücken schloss sich sofort und hinterließ nur einen feinen, roten Strich. Noch ein Nebeneffekt! Seit dem Aufeinandertreffen mit Phineas hatten sich ihre Selbstheilungskräfte gesteigert. Kleinere Verletzungen heilten im Nu. Was Lilith als durchaus praktisch empfand.

Sie sah sich um. In diesem kleinen Dschungel-Zimmer wirkten der dunkle Parkettboden und die Mahagoni-Möbel merkwürdig surreal, fast als wäre ein Urwald um sie herum gewachsen. Die antike Enigma-Maschine war von ihrem Platz neben der Tür auf einen robusten Schreibtisch versetzt worden, dort schmiegte sie sich perfekt ein neben einigen alten Bildern, der Schreibtischlampe, Kugelschreibern und Postkarten aus aller Herren Länder.

Lilith setzte sich davor und tippte gedankenverloren auf der Maschine herum. Vor dem Fenster war es noch immer dunkel, doch ihren tiefsten Punkt hatte die Nacht bereits überschritten.

Die Tür öffnete sich und Mercedes trat ein. Hinter ihr fluchte Elias und wählte eine Nummer auf seinem Mobiltelefon.

»Ich bringe dir deine heiße Schokolade«, meinte die Sekretärin und stellte den hohen Becher neben Lilith auf den Schreibtisch. Nun, da sich die beiden etwas besser kannten, empfand Lilith Mercedes als weitaus angenehmer als bei ihrem ersten Treffen.

»Kannst du damit umgehen?«, fragte die Französin und nickte zu der Chiffriermaschine hinüber.

»Ja, mein Vater hat es mir beigebracht, als ich noch klein war«, antwortete Lilith. »Wir haben uns verschlüsselte Nachrichten hin und her geschickt. Kannst du sie auch bedienen?«

»Oui, ich habe es während des Zweiten Weltkrieges gelernt«, erwiderte Mercedes. »Damals habe ich in einem Auffanglager gearbeitet. Wir boten Vampiren Unterschlupf und Verpflegung, aber vor allem Schutz vor den Jägern. Ich schrieb Nachrichten an andere solcher Einrichtungen und an die Residenzen.« Sie lächelte. »Ich glaube, damals habe ich auch einige Korrespondenzen mit deinem Vater geführt. Das war natürlich lange, bevor er Prinz von Dresden wurde.«

»Du glaubst?«

»Ja, ich bin mir nicht sicher, welchen Decknamen er verwendet hat.«

»Decknamen?«

»Natürlich, wir durften unsere wahren Namen nicht preisgeben.« Ihr Blick wurde leicht glasig, dann wedelte sie mit der Hand. »Ach, lassen wir das. Auf diese Erinnerungen kann ich gerne verzichten.«

»Hm, na gut«, willigte Lilith ein, notierte sich jedoch in Gedanken, dieses Thema bei Gelegenheit wieder aufkommen zu lassen. Wie alt die Sekretärin ihres Vaters wohl sein mochte? Nach dem Aussehen konnte man bei einem Vampir nie gehen. Nahm sie jedoch das erste Jahr der Französischen Revolution, 1789, und das aktuelle Jahr, 2207, dann kam sie auf das erstaunliche Alter von 418 Jahren. Lilith fragte sich, wie Mercedes wohl in den 1960er Jahren ausgesehen hatte, hochtoupierte Haare trug sie zumindest heute noch. Bei dem Gedanken entglitt ihr ein Kichern.

»Ist etwas?«, fragte die Französin sogleich.

Lilith räusperte sich, »Nein, … ähm … Apropos mein Vater: Hast du eine Ahnung, was er will?«, und wechselte das Thema.

»Es kam ein offizieller Brief aus London. Vermutlich wegen der Zusammenkunft, die Elizabeth dieses Jahr ausrichtet.«

»Elizabeth?«, fragte Lilith, nahm das fein gearbeitete Porzellan vom Tisch und nippte an ihrer Schokolade.

»Elizabeth Londonarry«, ergänzte Mercedes. »Prinz von London und das schon seit einigen Jahrhunderten.«

Lilith hatte sich längst daran gewöhnt, dass die vampirischen Oberhäupter der Städte als Prinzen bezeichnet wurden. Keiner nahm eine Frau ernst, die man als Prinzessin ansprach. »Oh, dann meinst du mit Zusammenkunft …?«

»Die traditionelle Vampir-Zusammenkunft, bei der sich die Führungsspitzen zu einer Konferenz in London, Berlin oder Paris treffen«, erinnerte Mercedes sie. »Dieses Jahr ist London dran. Da Elias einen Großteil der Aufgaben als Prinz von Margarethe übernommen hat, muss er sie auch bei solchen Empfängen vertreten. Oder er überlässt es Ludwig, aber … das würde nicht gut gehen.« Die Französin griff nach einer kleinen Messinggießkanne, die auf dem Boden stand, und tränkte eine der Grünpflanzen neben dem Sekretär großzügig mit Wasser.

In diesem Moment betrat der Prinz von Dresden den Wintergarten und reichte Mercedes sein Mobiltelefon. »Nimm dieses Handy und bring es bitte irgendwo hin, damit ich es weder sehen noch hören muss, und blockiere alle Anrufe vom Festnetz, es sei denn, Balthasar oder Ludwig melden sich.«

»Sehr wohl, mein Prinz«, sagte Mercedes, stellte die Gießkanne wieder ab und nahm das Telefon entgegen. »Aber Handy nennt man diese Geräte schon seit den Jahren der Jagd nicht mehr.«

»Smartphone?«, fragte der alte Vampir mit leichter Verunsicherung nach.

»Würde ich noch gelten lassen«, meinte die Vampirin, hielt das Gerät vor sich und tippte auf den Markennamen BELL.

»Ach ja, Bell«, kam es Elias wieder in den Sinn. »Nach Alexander Graham Bell.«

»Genau.«

»Wie damals bei Apple«, erinnerte er sich.

Mercedes blickte auf das schwere, mit Kupfer ummantelte Kommunikationsgerät in ihrer Hand. »So klein bekommen wir die Mikrochips nie wieder hin. Diese Zeiten sind vorbei, mein Prinz.«

»Das hab ich schon ziemlich oft gehört.«

Die Französin lächelte. »Es ist nie zu spät, einem alten Vampir neue Namen beizubringen«, sagte sie und hatte den Raum schon fast verlassen, als sie sich noch einmal umwandte. »Apropos Namen. Lilith und ich sprachen über die Decknamen, die während der Kriege verwendet wurden.«

»Habt ihr das?«, gab der Ältere sich unbeeindruckt.

»Ja. Und dann fragte ich mich, welchen Namen du verwendet hast.«

Elias nahm einen kleinen Stapel Papiere vom Tisch vor ihnen. »Ich nehme die Geheimhaltung ernst, Nebelkrähe

»Papa!«, entrüstete sich Lilith.

Elias lächelte und Mercedes blickte ihn überrascht an. »Woher kennst du meinen Decknamen?«

Er reichte ihr die Papiere entgegen. »Weil du Dresden noch immer mit T in der Mitte schreibst.«

Die Sekretärin nahm die Unterlagen entgegen. »Ist nicht dein Ernst.«

»Doch«, sagte Elias. »Du würdest dich wundern, wer sich alles durch schlechte Rechtschreibung enttarnt.«

»Karo Bube

»Nein«, lächelte der Ältere. »Schreib doch kurz noch die Unterlagen um, dann kannst du Feierabend machen.«

»Der Rote Baron?«, fragte Mercedes auf dem Weg zur Tür.

»Nein«, gab Elias zurück und sein Lächeln wurde breiter.

»Der Koboldkönig?«, war ihr letzter Versuch.

»Nein.« Seine Stimme wurde eine Spur kälter. »Auf gar keinen Fall.«

»Ich bekomme es schon noch raus«, sagte Mercedes lächelnd und verließ den Raum.

»Sie ist frech«, meinte Lilith anerkennend.

»Sie ist Französin«, war Elias‘ Kommentar, als ob das alles erklären würde.

»Und sie ist echt gut«, fügte Lilith hinzu und setzte sich in einen der Sessel, die um den gläsernen Tisch in der Mitte des Zimmers aufgestellt waren.

»Ja, manchmal wüsste ich nicht, was ich ohne sie tun sollte«, gab Elias zu und schenkte sich ein Glas Wein an der Hausbar ein, bevor er sich zu seiner Tochter setzte. »Ich möchte mit dir über die Zusammenkunft reden.«

»Also doch.« Lilith nahm noch einen Schluck von der heißen Schokolade. »Mercedes meinte, es sei Post aus London gekommen.«

Er nickte. »Ich fürchte, ich werde diesmal nicht drum herum kommen teilzunehmen.«

»Kannst du nicht Balthasar schicken?«

»Elizabeth bat mich, persönlich zu kommen. Sie meinte, es gäbe etwas Wichtiges, das sie mit mir zu besprechen hätte. Balthasar vertritt mich für die paar Tage, wenn er aus Berlin zurückkommt.«

»Warum ist er in Berlin?«

»Ludwig rief gerade an und meinte, Margaretes Vitalwerte hätten sich verändert.«

Margaret, Balthasars Gefährtin und Prinz von Berlin. Ihr unfreiwilliger Schlaf war der Grund, weshalb Elias ihren Platz eingenommen hatte. Bisher konnte niemand aufklären, warum der Prinz von Berlin plötzlich das Bewusstsein verloren hatte.

»Ich dachte, Mag wäre wieder erwacht, und ich könnte mich um die Zusammenkunft drücken, doch anscheinend war es nur falscher Alarm«, meinte Elias betrübt.

Er, Margarete und Balthasar hatten viel miteinander durchgemacht, sie kannten einander schon seit Jahrzehnten. Ihr plötzlicher Schlaf nahm ihn ebenso sehr mit wie Balthasar und es erinnerte ihn nur allzu oft an das Verscheiden seiner Frau.

»Nun, es sieht so aus, als müsste ich doch nach London reisen und ich möchte dich gerne als Begleitung dabei haben.«

Auch wenn Lilith sich über dieses Angebot freute, war sie verblüfft. »Ähm … und was soll ich da?«

»Ich meine, mich zu erinnern, dass du dich kontinuierlich darüber beklagst, nicht genug über die Vampirwelt zu wissen«, entgegnete ihr Vater.

»Das stimmt«, gab sie zu, »aber diese Zusammenkünfte sind doch eher trocken und langweilig, wie eine politische Veranstaltung … wie ein G8-Gipfeltreffen.«

»Oh Kind, nimm die Nase aus den Geschichtsbüchern. G8-Treffen gibt es schon seit Jahren nicht mehr.«

»Du weißt, was ich meine!«

»Natürlich«, sagte er und musste dabei lachen, »im Endeffekt ist und bleibt es Politik. Jedoch kannst du wertvolle Kontakte knüpfen.«

»Ich hab aber so viel zu tun«, wehrte sie halbherzig ab.

»Ach, wirklich?«

»Ja.«

»Und was?«

»Ich muss …« Sie suchte so offenkundig nach einer Ausrede, ihr Vater verkniff sich mit Mühe das Lachen. »… meine Schuhe neu sortieren.«

Elias‘ Augenbrauen hoben sich zu einem skeptischen Blick.

»Na gut, ich lass mich breitschlagen«, resignierte sie schließlich.

»Phineas wird sicher auch anwesend sein«, merkte Elias gespielt beiläufig an.

Lilith schüttelte lächelnd den Kopf und nahm dann einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse.

Der Blick des Vaters hatte sich der Glasfassade des Wintergartens zugewandt, dieser bot eine wundervolle Aussicht auf die Frauenkirche und den Schlossturm, über die Augustusbrücke bis hinüber auf die andere Seite der Elbe, an deren Ufer in der Abenddämmerung Filme auf einer riesigen Leinwand gezeigt wurden. Kleine, blinkende Lichter am Nachthimmel wiesen auf ferne Luftschiffe hin, die den Lufthafen Dresden entweder gerade anflogen oder ihn vor einer Weile verlassen hatten.

»Wir werden in einem Luftschiff reisen«, meinte Elias und riss seine Tochter aus ihren Gedanken.

»Was?! Warum sagst du das nicht gleich? Ich geh packen!«

 

* * *

 

Kurz nach dem Gespräch stand Lilith in ihrem Zimmer. Ihrem Zimmer. Seit sie an die Hochschule nach England gegangen war, hatte sie kein eigenes mehr gehabt. In London hatte sie eine WG bewohnt und sich den größten Raum mit einer unglaublich schönen Jura-Studentin geteilt. Nach ihrem Abschluss hatte Lilith angefangen, all ihre Gegenstände in einem der riesigen Schließfächer am Dresdner Lufthafen zu lagern. Alles, was sie gekauft hatte, waren es Bücher oder Kleider, wurde dort untergebracht. Nur ab und an hatte sie diese Schatzkammer geöffnet, um ein paar alte Kleidungsstücke aus- und neue einzulagern. Doch diese Zeit war nun vorbei. Das hier war ihr Zimmer … sie musste es nur noch ihrem Geschmack anpassen.

An der Decke schwankte die nackte Leuchte, während Lilith umherlief und ihre Sachen zusammenpackte. Viel würde sie nicht brauchen. Ihr Schrank beherbergte eine Fülle an Kleidersäcken, auf denen Fotos von der sich darin befindlichen Garderobe befestigt waren. Große, runde Hutschachteln nahmen den Bereich unter den kürzeren Ensembles ein. Sie wählte eines ihrer neueren Kleider aus, schloss den Schrank und hängte den Sack an die Tür. In ihren Koffer packte sie ein paar Alltagsklamotten zum Wechseln und passende Schuhe.

Dann löschte sie das Deckenlicht und entflammte dafür den Docht der reich verzierten Öllampe neben ihrem Bett. Zumindest dieses Schmuckstück, das schon in diesem Zimmer gestanden hatte, würde sie behalten. Sie würde den Teufel tun, ihren Vater um noch mehr zu bitten. Schließlich war sie fast siebenundzwanzig Jahre alt, da pumpte man Papa nicht mehr um Geld an, selbst wenn dieser sicherlich schon ein kleines Vermögen besaß, so alt wie er war.

Sie ließ sich auf dem Bett nieder. Ihr Blick fiel auf das neuste Stück ihrer kleinen Interieur-Sammlung: ein Sargförmiges Bücherregal. Sie war sich durchaus bewusst, wie bekloppt das war, aber das war ihr Ding. Das oberste Bord befand sich auf Augenhöhe und wurde von der gesamten Chronik der Vampire von Anne Rice eingenommen. Ein paar uralte Stücke, die ihre Mutter auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Mindestens schon zwanzig Mal gelesen, bevor sie in die perfekt manikürten Hände von Porzia Avant-Garde gefallen waren. Natürlich hatte auch Lilith die Werke diverse Male verschlungen.

Im Fach darunter befand sich eine neuere Auflage der gleichen Bücher im amerikanischen Original und darunter wiederum eine Sonderausgabe. Frisch, neu, jungfräulich, ungelesen, noch nie aufgeschlagen. Jedes einzelne Werk war noch originalverschweißt. Ja, Lilith war diesen Büchern verfallen. Welche Frau würde sich nicht in Lestat verlieben?

In dem großen Bücherschrank daneben befand sich Liliths Arbeitssammlung, bestehend aus einer riesigen Auswahl an Fachbüchern über Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte. Doch auch hier wurden zwei Böden von ihrer Hobby-Sammlung eingenommen. Faust, Die unendliche Geschichte, Camilla, Dracula und noch einige weitere Schätze weniger bekannter Autoren drängten sich aneinander und ließen noch nicht einmal Platz für das kleinste Staubkorn. Blutschwur, prangte der Titel auf einem Buchrücken. Erasmus Emmerich und die Maskerade der Madame Mallarmé, hieß es daneben. Unruh – Das Ticken des Uhrwerks, Feuerjäger und irgendwas mit Archibald Leach reihten sich ebenfalls ein. Manche dieser Bücher hatte sie noch nicht gelesen. Sie hatte dieses Hobby wirklich auf sträfliche Weise vernachlässigt. Ihre Arbeit, ein gewisser Prinz von Wien und Abende im Cinématographen-Theater hatten sich dazwischen gedrängt.

Sie zog eines der alten Bücher heraus. Auf der ersten Seite stand, in feinen Buchstaben, Porzia Silvershade geschrieben. Liliths Mutter hatte all ihre Bücher mit Namen versehen, da sie ständig damit beschäftigt war, selbige zu verleihen, aber nur in diesem stand ihr Mädchenname. Lilith blätterte die Seiten durch und das altbekannte Gefühl, keine Luft zu bekommen, breitete sich in ihr aus. Nach dem Tod ihrer Mutter vor 16 Jahren hatte sie dieses Buch oft in den Händen gehalten. Weinend und nach Trost suchend. Noch heute bildete sie sich ein, das Parfüm ihrer Mutter zwischen den flatternden Seiten wahrnehmen zu können.

Sie schlug das Buch zu, warf den Kopf in den Nacken und holte tief Luft. Doch ihr Hals war noch immer zugeschnürt. Tränen stiegen ihr in die Augen, heiß und schmerzend. Der Tod ihrer Mutter war ein Mysterium geblieben. Sie hatte nie körperliche Anzeichen irgendeiner Krankheit gezeigt und trotzdem war sie plötzlich von Tag zu Tag schwächer geworden, bis sie schließlich gestorben war.

Lilith stand auf und endlich verließ ein Geräusch zwischen Krächzen und Stöhnen ihre Kehle. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie biss sich auf die Lippen. Ein Schluchzen. Noch mehr Tränen, die auf den alten Buchumschlag fielen. Lilith strich sie mit dem Ärmel fort und stellte das Buch vorsichtig wieder zurück.

Langsam wischte sie auch die Tränen von ihrem Gesicht und atmete einige Male tief durch. Mittlerweile konnte sie mit diesem Schmerz umgehen, aber ein Teil von ihr stellte sich noch immer die Frage nach dem Warum. Lilith starrte das Buch an, doch ihre Augen blickten hindurch. In ihrem Kopf hatte plötzlich ein Denkprozess eingesetzt: Welche Macht hatte ihre Mutter geholt? Warum ausgerechnet sie? Warum hatte es keine Spuren irgendeiner Krankheit gegeben? Ohnmächtige Wut kochte in Lilith hoch, die Fingernägel krallten sich in den Regalboden und unter ihren Nägeln splitterte das Holz.

In dem Moment gab ihr Mobiltelefon ein lautes Klingeln von sich und verstummte dann. Sie blickte auf, registrierte das gesplitterte Holz mit einem missmutigen Seufzen und ließ die Hände sinken. Selbst nach all den Jahren konnte sie die Unwissenheit über den Tod ihrer Mutter nicht ertragen. Trauer und Wut machten sich schneller Luft, als die junge Halbvampirin sie zügeln konnte.

Sie nahm das Telefon, das durch seine Kupferummantelung schwer in der Hand lag. Es hatte zwei Displays, ein großes quadratisches, das ihr den Erhalt einer Eildepesche anzeigte und über dem in großen Lettern der Firmenname BELL zu lesen war, sowie ein kleines, schmales, in dem der Name des Absenders erschien. Über ein kleines Rädchen am Rand konnte sie ihr Adressbuch alphabetisch durchsuchen. Neben Telefonieren und dem Hin- und Herschicken von Eildepeschen konnte das Mobiltelefon auch Fotos machen, nur waren diese von keiner besonders guten Qualität.

Die Nachricht ließ Lilith lächeln, kraftlos aber glücklich. Es war eine Mitteilung von Phineas, der in Liliths Adressbuch unter dem Namen Vienna eingespeichert war. Keiner ihrer Kontakte war unter seinem richtigen Namen vertreten.

Bei ihrem letzten Aufeinandertreffen hatte Phineas sie mit einem Strauß roter Rosen erfreuen wollen. Zu seinem Bedauern hasste Lilith Rosen, besonders rote, und seitdem schrieb er ihr regelmäßig Nachrichten mit Bildern der verschiedensten Blumen. Heute waren es Bartnelken. Wunderschön, Lilith mochte sie, doch sie schrieb zurück: Ich liebe sie sehr, aber es sind nicht meine Lieblingsblumen. Während die Nachricht gesendet wurde, ließ sich Lilith auf das Bett fallen.

Vienna erwiderte: Ich finde es schon noch heraus.

Sie lachte und antwortete: Wirst du in London sein?

Nein, kam gleich darauf von ihm zurück, muss Wien noch ein bisschen aufräumen. Die Werwolf-Fights bin ich los, aber wenn ich auch nur fünf Minuten nicht auf meinem Thron … na ja, sagen wir, es ist kompliziert.

Lilith konnte ein enttäuschtes Seufzen nicht verhindern. Super … heißt das, du lässt mich allein mit den Teebeuteltunkern? Irgendwie hatte sie sich darauf gefreut, ihn wiederzusehen.

Ja, ich fürchte, dem ist so, aber ich lade dich als Entschädigung gerne zu einem Abend im Musiktheater ein.

Angenommen!, schrieb sie zurück, legte das Bell beiseite und lächelte. Diese kleine Plauderei hatte zumindest ihre trübsinnigen Gedanken vertrieben. Wärme breitete sich in ihr aus, doch sie wusste nicht, wie weit ihr eigenes Gefühl ging und wo der Zauber begann, der sie mit dem Prinzen von Wien verband. Deswegen vertraute sie den Empfindungen diesbezüglich nicht ein Stück.

 

Lilith ging ins Badezimmer, hier hatte sie zumindest nicht so viel einrichten müssen. Die Fliesen und Möbel waren beigefarben mit dezenten, mattgoldenen Verzierungen, und die ovale Badewanne stand auf vier breiten Löwenfüßen. Sie machte den Warmwasserboiler an, ließ heißes Wasser ein und gab etwas Pflegebad mit dem Duft von Nachtjasmin hinzu.

Während das Wasser die Wanne füllte, zog Lilith sich aus und warf einen Blick in den Badspiegel. Ganz leicht, fast schon nicht mehr sichtbar, zeichneten sich die Bisswunden an ihrem Hals ab. Phineas hatte sie ihr zugefügt, damit er Kraft sammeln konnte, um sie beide vor einer einstürzenden Lagerhalle zu schützen. Nun zierten zwei blasse, sich spiegelnde Halbmonde ihren Hals.

Wer heute noch glaubte, alles, was von einem Vampir-Biss übrig blieb, wären zwei kleine Löcher, der irrte sich gewaltig. Lilith war das erste Mal mit acht Jahren gebissen worden, als sie sich auf dem Schulhof mit einem Jungen geprügelt hatte. Tagelang hatte man noch alle Zähne sehen können.