Fußnoten

Nun wundert ihr euch vielleicht, warum Kai Würbs als Illustrator in dem Buch steht, Erich Kästner aber einen Brief an Herrn Lemke geschrieben hat. Nun ja, ihr haltet hier eine ganz neue Ausgabe mit Illustrationen von Kai Würbs in den Händen, die es damals noch gar nicht gab. Kai Würbs hat als Kind leider wirklich einmal den zweiten Band eines Buches geschenkt bekommen, ohne den ersten Band zu kennen. Deshalb hat er sich ganz besonders gefreut, zehn Zeichnungen über Den kleinen Mann zu machen (die Ideen dafür kamen ihm übrigens bei Dämmerung auf seiner Treppe).

Liebe Kinder,

gestern hatte ich überraschenden Besuch. Es klingelte. Ich öffnete. Und wer stand draußen? Der Schüler Jakob Hurtig aus der Kickelhahnstraße 17, Erdgeschoss links. »Unverhofft kommt oft«, erklärte er vergnügt.

»Treten Sie näher, Herr Unverhofft«, sagte ich, und dann marschierten wir erst einmal in die Küche. Denn dort steht der Eisschrank. »Du bist ja schon wieder gewachsen«, stellte ich fest.

»Was bleibt einem jungen Menschen weiter übrig?«, fragte er. »Das bisschen Schule, die paar Hausaufgaben, die kleinen Besorgungen für die liebe Mutter, die englische Privatstunde, der Turnverein, das Zähneputzen, das Schuheputzen, das Naseputzen, das Füßewaschen, das Nägelschneiden, das Haarekämmen, was ist das schon? Was, um alles in der Welt, soll man in der übrigen Zeit tun? Da ist Wachsen noch das Gescheiteste.«

»Freilich.« Ich nickte. »Außerdem hat man’s dann hinter sich. Aber Wachsen macht hungrig. Wie wär’s mit einem Sülzkotelett? Oder bist du satt?«

Jakob schielte kurz zum Eisschrank hinüber. Anschließend blickte er mir fest in die Augen und sagte: »Man soll nicht lügen.«

 

Nachdem er das Sülzkotelett vertilgt hatte, meinte er seufzend: »Ungewöhnlich schmackhaft«, wischte sich den Mund, wickelte den Kotelettknochen in die Papierserviette und fügte erläuternd hinzu: »Falls ich auf dem Nachhauseweg einen Hund treffe.«

»Noch ein Sülzkotelett?«, lockte ich. »Es ist noch eines im Eisschrank.«

»Danke, nein«, sagte er. »Mein Magen ist vorübergehend wegen Überfüllung geschlossen. Außerdem bin ich ja nicht zu meinem Vergnügen hier. Ich habe den dienstlichen Auftrag, Ihnen tausend Grüße zu überbringen und einen Kuss auf die Nasenspitze zu geben.« Er stopfte den Kotelettknochen in die Hosentasche, rutschte verlegen auf dem Küchenstuhl hin und her und fragte nach einer Weile: »Ist es Ihnen recht, wenn wir die Sache mit der Nasenspitze weglassen? So was liegt mir nicht besonders.«

»Mir auch nicht«, gab ich zu. »Aber wer lässt mich denn, ob nun mit oder ohne Nasenspitze, tausendmal grüßen?«

»Natürlich Mäxchen«, sagte Jakob. »Er hat mir einen langen Brief geschickt. Zehn Seiten in Briefmarkengröße! Mir tun jetzt noch die Pupillen weh.«

»Er konnte den Brief doch der Rosa Marzipan in die Maschine diktieren!«

»Nein. Das konnte er nicht!«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Weil sie im Bett liegt und ein Baby gekriegt hat. Einen Jungen.«

»Das ist eine gute Idee!«, rief ich. »Und wie heißt der Knabe?«

»Er heißt überhaupt noch nicht. Rosa will ihn Daniel nennen, aber der Jokus ist für Ferdinand.« Jakob kicherte. »Dabei hat ihnen Mäxchen einen bildschönen Vorschlag gemacht! Doch sie waren beide dagegen.«

»Das klingt verdächtig.«

»Weil der Vater Jokus von Pokus heißt, sollten sie den Sohn Joküsschen von Poküsschen nennen!«

»Ich habe es schon immer vermutet«, sagte ich, »und nun weiß ich’s endgültig: Mäxchen ist ein Ferkel.«

Jakob kicherte unverdrossen weiter. Er hörte erst auf, als ich ihn schräg ansah und kaltblütig erklärte: »Wer jetzt weiterlacht, kriegt keine Limonade.«

 

Die Limonade trank er drüben im Arbeitszimmer, während er an den Regalen entlangschob und die Buchtitel studierte. Plötzlich blieb er stehen, schlug sich mit der Hand vor die Stirn, dass es nur so klatschte, und sagte verbittert: »Da haben wir’s – ich werde alt.«

»Man soll nichts übereilen«, gab ich zu bedenken. »Warte damit wenigstens bis zur Konfirmation.«

»Ich werde alt und vergesslich«, fuhr er fort. »Und was vergesse ich jedes Mal? Ausgerechnet die Hauptsache!«

»Es muss auch alte Knaben geben«, sagte ich, um ihn zu trösten. »Trotzdem wüsste ich ganz gern, welche Hauptsache du diesmal fast vergessen hättest.«

Jakob trank sein Glas leer, stellte es aufs Fensterbrett, holte tief Luft, als wolle er Schillers ›Lied von der Glocke‹ aufsagen, und begann: »Mäxchen schreibt, Sie hätten ihm im vorigen Jahr versprochen, die Geschichte vom kleinen Mann fortzusetzen und …«

»Stimmt«, meinte ich. »In Lugano. Auf der Terrasse. Rosa Marzipan und der Jokus saßen dabei. Und Mrs und Miss Simpson auch. Es gab Pfirsichbowle. Der Vollmond schien. Unten auf dem See wurde das große Feuerwerk abgebrannt, dass es nur so zischte und krachte. Der Himmel und das Wasser schillerten in allen Farben. Es war wunderbar. Und als der Jokus, nach dem Feuerwerk, die Lampen auf der Terrasse wieder anknipste, stellten wir fest, dass Mäxchen fehlte. Er war im Dunkeln an meinem Glas hochgeklettert und versehentlich hineingefallen. Wir fischten ihn heraus. Er war klitschnass, hatte einen Schwips und roch drei Tage lang nach Pfirsichbowle.«

Jakob Hurtig starrte mich an, sagte ehrfürchtig: »Mann, haben Sie ein Gedächtnis!«, und setzte hinzu: »Das soll sonst nur noch bei Elefanten vorkommen!«

»Du bist der geborene Schmeichler«, antwortete ich. »Doch davon abgesehen: An jenem Abend habe ich ihm tatsächlich versprochen, den zweiten Band zu schreiben. Glaubt er, ich hätte mir’s anders überlegt? Hm?«

»Ich … ich weiß nicht recht.« Jakob druckste herum und bekam vor Verlegenheit rote Ohren. »Er scheint sich einzubilden, Sie säßen lieber am Fenster oder in Cafés oder … oder Sie gingen lieber bummeln und blieben lieber vor Schaufenstern stehen oder an Gartenzäunen und …«

»Ich ahne Fürchterliches«, sagte ich. »Der Bursche hält mich für ein ausgemachtes Faultier.«

»Also, das Wort ›Faultier‹ kommt in seinem Brief kein einziges Mal vor. Nicht einmal ›Faulpelz‹. Das schwöre ich bei meinem Schulranzen!«

»Aber vielleicht das Eigenschaftswörtchen ›faul‹, ja?«

»Das wäre möglich«, gab Jakob zögernd zu. »Er hat sich allerdings sehr hübsch ausgedrückt. ›Ich glaube‹, hat er geschrieben, ›unser edler Dichterfürst ist ziemlich faul geworden.‹«

Als ich das hörte, musste ich lachen. Jakob stimmte erleichtert ein. Dann fragte er: »Wann werden Sie denn nun mit dem Schreiben loslegen?«

»Ich habe bereits losgelegt«, erklärte ich triumphierend und warf mich so stolz in die Brust, dass die Rippen knackten. »Dort auf dem Schreibtisch liegt das erste Kapitel. Die Schreibmaschine qualmt noch.«

Jakobs Augen glitzerten vor Neugierde. »Darf ich’s rasch mal lesen?«

»Nein. Unfertige Sachen zeig ich nicht her.«

Er blickte gebannt zum Schreibtisch hinüber. »Schade. Kolossal schade. Denn nun wird Mäxchen denken, Sie hätten es mir bloß nicht gezeigt, weil es gar nicht das erste Kapitel ist, sondern ganz was anderes!«

»Jakob Hurtig«, sagte ich hoheitsvoll, »du bist kein vornehmer Charakter. Ich habe eine Schlange an meinem Busen genährt. Noch dazu mit einem Sülzkotelett und kühler Limonade.«

Der Junge fragte geknickt: »Soll ich mich fortscheren?«

Ich schüttelte mein graues Haupt. »Nein. Du sollst, zur Strafe, auf der Stelle das erste Kapitel des zweiten Bandes vom kleinen Mann lesen.«

Und schwupp, schon saß er drüben, nahm das Manuskript in beide Hände und begann laut und vernehmlich: »Das erste Kapitel. Kriminalkommissar Steinbeiß beißt auf Granit. Bernhard hat einen Komplex und …«

»Lies leise, Jakob!«, sagte ich nervös. »Ich kann den Text schon singen.« Dann zündete ich mir eine Zigarette an und blickte aus dem Fenster. Schließlich hatte er es geschafft, legte das Manuskript behutsam auf den Schreibtisch zurück, nickte und meinte: »Genauso war es. Sogar der Schüler Hurtig kommt wieder vor. Mehr kann man nicht verlangen.«

»Ehre, wem Ehre gebührt«, stellte ich fest. »Wer weiß, was damals aus dem kleinen Mann geworden wäre, wenn du nicht aus dem Fenster geschaut hättest!«

»Aus dem Fenster gucken kann jeder.«

»Die Kunst besteht darin, im richtigen Augenblick hinauszugucken!«

»Da bin ich also ein Künstler«, sagte er und schnitt eine Grimasse. »Auch das noch! Wenn Sie meine Zensuren in Singen und Zeichnen gesehen hätten, würden Sie das stark bezweifeln. So, und nun geh ich.« Er stand auf. »Morgen schreib ich Mäxchen, dass Sie losgelegt haben.«

»Wo steckt er denn zurzeit?«

»Sie gastieren in Kopenhagen. Diesmal im Zirkus Schumann. Natürlich mit Riesenerfolg. Und er bliebe gerne länger. Weil es ja dort das ›Tivoli‹ gibt. ›Der schönste Rummelplatz auf der Welt‹, schreibt er. Und es gäbe in der Stadt Tausende von Läden mit Schokolade und Bonbons und vor allem mit zehn Sorten Lakritze. Und diese Läden hätten viel länger auf als anderswo. Mögen Sie Lakritze?«

»Sehr.«

»Ich nicht.«

»Du schwärmst mehr für Ananastörtchen.«

Er verzog das Gesicht. »Sie sind ein Spaßvogel, Herr Dichterfürst. Na ja, und sie wohnen alle in einem Hotel am Meer, das dort ›Öresund‹ heißt. Und auch da gibt’s einen berühmten Rummelplatz. Den ältesten überhaupt. Er ist fast hundertfünfzig Jahre alt und heißt ›Bakken‹. Und gegenüber einen Riesenpark mit fünftausend Rehen und Hirschen und mit Eichen, die sechshundert Jahre alt sind. Eine soll sogar achthundert Jahre alt sein. Und Hünengräber aus der Wikingerzeit liegen nur so herum. Und Pferdedroschken für Spazierfahrten kann man mieten, als wären’s Taxis. Und die Rehe haben überhaupt keine Angst, sondern wedeln höchstens mit den Ohren, wenn man vorbeifährt. Aber Direktor Brausewetter kann das Engagement nicht verlängern, weil sie im nächsten Monat in Oslo auftreten müssen. Na, Oslo ist sicher auch sehr schön.«

»Vermutlich«, sagte ich. »Und wo liegt inzwischen Mama Marzipan mit dem namenlosen Baby?«

»Mama Marzipan und das Baby sind doch auch in Kopenhagen! Vielleicht bleiben sie vierzehn Tage länger und fliegen erst dann nach Oslo. Vorsichtshalber und nur so. Denn es fehlt ihnen wirklich rein gar nichts. Bis …« Er biss sich auf die Unterlippe. »Bis auf den Vornamen.«

 

Er stand schon halb auf der Treppe, als ihm noch etwas einfiel. »Was ist denn nun mit den Kindern, die den ersten Band vom kleinen Mann nicht gelesen haben?«, fragte er. »Ich meine die Kinder, die zuerst den zweiten Band geschenkt kriegen! Das ist doch glatt möglich, oder?«

»Jawohl. Damit muss man rechnen.«

»Na und?« Jakob wurde eifrig. »Wenn die lieben Kleinen das erste Kapitel vom zweiten Band lesen, das Sie mir vorhin gegeben haben, und wenn sie den ersten Band noch nicht kennen, dann verstehen sie ja überhaupt nicht, was eigentlich los ist! Sie wissen nicht, dass Mäxchen gekidnappt und befreit wurde und wie aufgeregt die ganze Stadt war. Und von Bernhard und dem kahlen Otto und dem Señor Lopez haben die armen Würmer keine blasse Ahnung. Womöglich wissen sie nicht einmal, dass Mäxchen nur fünf Zentimeter groß ist und …«

»Hör auf!«, bat ich. Mir war der Schreck so in die Glieder gefahren, dass ich mich an der offenen Wohnungstür festhalten musste.

Aber er hörte nicht auf. »Na ja, vielleicht verkaufen die Buchhändler den zweiten Band nur für Kinder, die den ersten Band schon gelesen haben.«

»Dummes Zeug«, knurrte ich. »Woher sollen das denn die Buchhändler wissen? Und wer soll es ihnen denn erzählen? Tante Frieda, die nur alle Jubeljahre einen Buchladen betritt? Oder Onkel Theodor, der ein Buch bloß kauft, weil es billiger ist als eine Dampfmaschine?«

»Das sieht ja düster aus«, meinte Jakob und setzte sich auf die Treppe. Ich setzte mich neben ihn und murmelte: »Sehr düster, junger Freund.«

Nach einer Weile sagte er: »Ich weiß was! Sie müssen den zweiten Band damit beginnen, dass Sie zunächst den Inhalt des ersten Bandes erzählen. Ist das eine gute Idee?« Er strahlte, als habe er soeben Amerika entdeckt.

Ich winkte betrübt ab. »Dafür brauche ich mindestens dreißig, vielleicht sogar vierzig Buchseiten! Und was, glaubst du wohl, würden dann die anderen Kinder sagen, die den ersten Band schon kennen?«

»Sie würden fluchen.«

»Ganz richtig.«

»Sie würden ganz richtig fluchen. ›Diesen Herrn Kästner sollte dreimal die Erde verschlingen!‹, könnten sie beispielsweise fluchen oder ›Man müsste ihm mit dem Tomahawk den Scheitel nachziehen!‹ oder ›Auf, Kameraden, wir wollen ihm Reißzwecken ins Bier träufeln!‹ oder ›Cassius Clay möge ihn aufdünsten!‹ oder …«

»Sei nicht so blutrünstig, Jakob! Hilf mir lieber aus der Patsche!« Aber ihm fiel nichts Gescheites ein. Mir fiel nichts Gescheites ein. Und so säßen wir womöglich noch heute auf der Treppe, wenn nicht plötzlich ein Windstoß durchs Haus gefegt wäre und mit lautem Knall die Wohnungstür zugeschlagen hätte. Und mein Schlüsselbund lag drin auf dem Schreibtisch!

»Künstlerpech«, meinte Jakob. »Dichterfürst hat Künstlerpech. Wo wohnt der nächste Schlosser?« Ein Glück, dass ich’s wusste. Der Junge versprach mir, auf dem Nachhauseweg dem Handwerker Bescheid zu sagen, verabschiedete sich und sauste wie ein geölter Blitz davon.

Der Schlosser war weniger gut geölt und ein Blitz war er auch nicht gerade. Er kam, als es im Treppenhaus längst dämmerte. Und vielleicht lag es an der Dämmerung, dass mir, während ich auf den Stufen hockte, der rettende Einfall durch den Kopf schoss. (Wenn das stimmen sollte, werde ich mich künftig ziemlich oft bei Dämmerung ohne Schlüssel auf die Treppe setzen.)

 

Jedenfalls, als der Schlosser die Tür aufgesperrt hatte, gab ich ihm vor Freude zwei Mark zu viel, bedankte mich, weil er so spät gekommen war, und schrieb einen Brief an Herrn Lemke[1], der den ersten Band vom kleinen Mann illustriert hat. Ich schrieb:

»Machen Sie doch, bitte, für den Anfang des zweiten Bandes zehn Zeichnungen über den ersten Band! Dann wissen die Kinder, die ihn nicht kennen, was darin passiert ist. Und die anderen Kinder, die ihn schon kennen, werden trotzdem ihren Spaß haben, weil für sie die zehn Zeichnungen neu sind. Übrigens, sollten Sie beim Nachdenken Schwierigkeiten haben, machen Sie’s wie ich: Setzen Sie sich in der Dämmerung auf die Treppe!«

Ein paar Tage später kam die Antwort. »Ich habe«, schrieb Herr Lemke, »Ihren Rat befolgt und mich in der Dämmerung auf die Treppe gesetzt. Ihr guter Rat war leider teuer, denn die Treppe war frisch gestrichen, und das merkte ich erst, als jemand die Hausbeleuchtung anknipste. Graue Hosen mit rotem Hosenboden sehen grässlich aus. Die zehn Zeichnungen schicke ich trotzdem. Mit den besten Grüßen von Treppe zu Treppe

Ihr Horst Lemke.«

Er schickte die Zeichnungen. Ich machte die Unterschriften. Und nun hoffen er und ich, dass den Nochnichtkennern des ersten Bandes die nächsten Seiten von Nutzen sein und, wie das ganze Buch, allen Lesern Spaß machen werden.

 

Das sind die zwei kleinsten Mitglieder der chinesischen Akrobatentruppe ›Familie Bambus‹ vom Zirkus ›Stilke‹. Sie heißt Tschin Tschin und er Wu Fu. Beide sind etwa fünfzig Zentimeter groß und miteinander verheiratet. Aber eigentlich heißen sie Pichelsteiner, stammen aus Pichelstein im Böhmerwald und sind gar keine Chinesen. Das böhmische Dorf Pichelstein ist aus drei Gründen berühmt: Alle Einwohner sind von winzigem Wuchs. Alle heißen Pichelsteiner. Und alle sind hervorragende Geräteturner.

Das ist Tschin Tschins und Wu Fus Sohn. Er heißt Mäxchen Pichelsteiner, wird der kleine Mann genannt und schläft, weil er nur fünf Zentimeter misst, in einer Streichholzschachtel. Mit sechs Jahren verliert er seine Eltern. Sie werden während eines Sturms vom Eiffelturm geweht. Zwei Wochen später fischt ein portugiesischer Dampfer ihre beiden schwarzen Chinesenzöpfe aus dem Atlantischen Ozean. Die Zöpfe werden in einem Elfenbeinkästchen von den Zirkusleuten feierlich begraben. Und Mäxchen ist sehr, sehr unglücklich.

Das ist Professor Jokus von Pokus, der Zauberkünstler des Zirkus. Er behütet und erzieht den kleinen Mann und bringt ihm Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Das ist bei einem fünf Zentimeter kleinen Jungen sehr kompliziert. Nachts steht die Streichholzschachtel mit Mäxchen auf dem Nachttisch des Professors. Emma und Minna schlafen auf dem Schrank und Alba, das weiße Kaninchen, in einem Spankorb. Emma und Minna sind keine Dienstmädchen, sondern Lachtauben, die, genau wie das Kaninchen, dem Professor beim Zaubern helfen.

Das ist der schöne Waldemar, von Beruf Schaufensterpuppe, bis ihn der Jokus kauft. Warum? Weil Mäxchen, so winzig er ist, Artist werden möchte. Der Jokus hat den rettenden Einfall: Er wird Mäxchen zum ersten unsichtbaren Artisten machen! Deshalb muss der Knirps monatelang auf dem schönen Waldemar klettern und turnen, bis er alle Kunststücke beherrscht, die für eine sensationelle Zirkusnummer notwendig sind. Den Titel dafür haben sie schon: ›Der große Dieb und der kleine Mann‹.

Das sind der dicke Herr Mager und der Rechtsanwalt Dr. Hornbostel. Sie stehen, ohne Krawatte, Schnürsenkel und Hosenträger, in der Manege und sind vom Jokus und mit Mäxchens unsichtbarer Hilfe ratzeputzekahl ausgeraubt worden, ohne dass sie’s gemerkt hätten. Natürlich kriegen sie alle dreißig Gegenstände wieder. (Auf Seite 90 im ersten Band sind sie genau aufgezählt.) Das Publikum lacht sich halb tot. Und als der Jokus zum Schluss Mäxchen herumzeigt, nimmt der Jubel kein Ende. Der Professor und sein Zauberlehrling werden über Nacht berühmt.

Das ist Mäxchens Wohnung nach Maß, ein Geschenk des Königs Bileam von Breganzona. Nun badet der Junge in einer Badewanne statt wie bisher in des Professors Seifenschale. Ja, der Ruhm hat angenehme Seiten. Der Turnverein Pichelstein (T.V. 1872) ernennt Mäxchen zum Ehrenmitglied. Und eine Spielzeugfirma verkauft Streichholzschachteln, worin Puppen liegen, die wie Mäxchen aussehen. – Als der Jokus eines Tages ins Hotel kommt, liegt nicht Mäxchen in der alten Streichholzschachtel, sondern eine Puppe! Der Junge ist gestohlen worden!

Das sind Bernhard und der kahle Otto, zwei wüste Zeitgenossen. Sie sind Mitglieder einer internationalen Bande, haben den kleinen Mann in einem leeren Haus versteckt, bewachen ihn abwechselnd, warten auf weitere Befehle und ärgern sich, dass sie Kindermädchen spielen müssen. Mäxchen weiß nicht, wo er ist. Doch in einem ist er besser dran als der Jokus und Rosa Marzipan und die Kriminalpolizei und alle Übrigen: Er weiß, dass er noch lebt! Jokus von Pokus hat eine Belohnung von 50000 Mark ausgesetzt. Auch das hilft nichts.

Das sind Rosa Marzipan und der Jokus im ›Goldenen Schinken‹. Er hat anderthalb Tage nicht geschlafen und nichts gegessen. Nicht einmal die hübsche Rosa, eine Trampolinspringerin aus dem Zirkus, kann ihn trösten, als sie sagt: »Hier kann nur einer helfen, Mäxchen selber!« Und sie behält recht. – Mäxchen beginnt in dem leeren Haus aus Leibeskräften zu brüllen, als habe er Magenkrämpfe. Der kahle Otto stürzt in die Apotheke, um Baldriantropfen und, bei dieser Gelegenheit, für sich eine Flasche Schnaps zu holen. Die Türen hat er abgeschlossen. Aber die Streichholzschachtel ist trotzdem leer. Denn Mäxchen hat auf Ottos Rücken das Haus verlassen, ist aufs Gartentor gesprungen und sucht Hilfe.

Das ist Jakob Hurtig, der Junge aus dem Erdgeschoss gegenüber. Er spuckt Kirschkerne auf die Kickelhahnstraße und wird von jemandem gerufen und beschimpft, den er nicht sieht. Er rennt wütend hinüber und erkennt den kleinen Mann, der seit Tagen gesucht wird! Sie verständigen Kriminalkommissar Steinbeiß. Und als der kahle Otto mit den Baldriantropfen (und dem Schnaps) zurückkommt, werden er und Bernhard verhaftet. – Am Abend vertilgt der Jokus vor Freude zwei Schnitzel. Mäxchen sitzt auf dem Tisch und berichtet seine Abenteuer. Der Hoteleingang muss abgesperrt werden. Die ganze Stadt jubelt, dass der kleine Mann gerettet worden ist.

So, wertgeschätzte Leser,

dies war der Versuch, die Nochnichtkenner durch zehn Bilder ins Bild zu setzen. Wem das nicht genügt, der kann sich ja den ersten Band nachwünschen. Schließlich hat jedes Kind jedes Jahr Geburtstag und auch das mit Recht beliebte Weihnachtsfest findet alljährlich statt.

Ist euch übrigens aufgefallen, dass es gar nicht zehn Bilder sind? Zählt einmal nach! Es sind nur neun! Herr Lemke und ich wollten ausprobieren, ob ihr gut aufpasst. Man muss nicht alles blind glauben. Nicht einmal so netten Leuten wie den Herren Lemke und Kästner. Doch ab jetzt wird nicht mehr gemogelt.

Ab jetzt erzähle ich schlankweg, was alles nach der Verhaftung der zwei Halunken passierte. Man hatte sie ins Untersuchungsgefängnis gebracht, und jeder saß, vom anderen hübsch getrennt, in einer Einzelzelle. Bernhard starrte verkniffen an die leere Wand. Aber der kahle Otto hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. »Ich will meine Flasche Schnaps wiederhaben!«, brüllte er. »Ihr habt sie mir aus der Hand gekloppt! Das ist gegen sämtliche Menschenrechte!«

Da öffnete sich das Guckfenster in der Zellentür, und ein Gefängniswärter fragte unfreundlich: »Wen oder was wollen Sie wiederhaben?«

»Meine Flasche Schnaps!«, schrie der kahle Otto.

»Sie sind wohl nicht ganz bei Troste«, brummte der Beamte. »Hier wird gesessen und nicht gesoffen.«

Otto schielte vor lauter Durst. »Ich werde mich beschweren! Man wird Sie entlassen!«, heulte er.

»Das glaub ich nicht«, meinte der Wachtmeister. »Aber Sie wird man nicht entlassen. Das weiß ich!« Damit schlug er das Guckfenster zu.

Am nächsten Vormittag wurden die zwei Häftlinge unter strengster Bewachung ins Polizeipräsidium gebracht. Kriminalkommissar Steinbeiß wollte sie in Mäxchens Gegenwart vernehmen. Denn der kleine Mann war ja nicht nur das Opfer, sondern auch der Hauptzeuge des Verbrechens. Der Jokus steckte ihn also in die Brusttasche und so fuhren sie los. Auch der Schüler Jakob Hurtig wurde als Zeuge vorgeladen und von einem Polizeiwagen aus der Schule geholt. Die Klasse beneidete ihn mächtig. Schon deshalb, weil sie über einem Rechendiktat schwitzte.

Mäxchen, der Jokus und der Jakob trafen sich also bei Herrn Steinbeiß und damit beginnt …

Das erste Kapitel

Kriminalkommissar Steinbeiß beißt auf Granit / Bernhard hat einen Komplex und der kahle Otto hat Durst / In Tempelhof landet eine Reisegesellschaft aus Paris / Mister John F. Drinkwater kommt aus Hollywood, ist 1,90 m lang und hat es eilig.