FÜR LUZIE

 

 

 

 

 

»Dein Papa ist ein Spinner«, sagt Lenas Mutter Vera, bevor sie mit Schmackes aufs Bremspedal tritt. Die Bremsen quietschen wie Kreide auf einer Schiefertafel, und der Gurt spannt sich vor Lenas Brust. Sie sitzt auf der Rückbank im Auto ihrer Mutter, die heute wirklich sehr hektisch fährt.

Gas, Bremse, Gas. Gas, Bremse, Gas. Blinker. Schalten. Anfahren, abbremsen. Das kann einem ganz schön auf den Wecker gehen. Gas, Bremse, Bremse, Gas. Zum Glück sind Ferien, und Lena ist auf dem Weg zu ihrem Vater. Zwei Wochen wird sie diesmal bei ihm bleiben. Sie kann es kaum erwarten, endlich anzukommen, weil heute noch etwas vollkommen Irres passieren wird.

»Warum ist Papa ein Spinner?«, fragt Lena.

Blinker. Gas. Das kleine Auto, ein alter roter Franzose, der an allen Ecken klappert, rappelt und dröhnt, rumpelt durch ein Schlagloch. Die Haare ihrer Mutter fliegen über die Kopflehne vor ihr.

»Ach, das weißt du doch«, sagt Vera und biegt von der

Lena lächelt und denkt: Von wegen.

Klar, ihr Vater Kalle hat oft verrückte Ideen, manchmal sind sie sogar total beknackt. Aber das Verrückte ist, dass seine bislang allerverrückteste Idee einwandfrei funktioniert. Die ist allerdings ein Geheimnis. Ihre Mutter hat keine Ahnung, dass es so etwas wie das Kreuzern gibt. Lena und Kalle halten dicht und verraten kein Wort. Vera nicht und auch sonst niemandem. Keinem einzigen Menschen. Das Kreuzern ist das wahrscheinlich geheimste Geheimnis auf der ganzen Welt.

Es fällt Lena nicht immer leicht, das Geheimnis zu bewahren, aber schließlich ist sie schon fast elf Jahre alt, und ihr Vater kann sich auf sie verlassen. Nur noch ein paar Wochen, dann kommt sie in die fünfte Klasse. Auf eine »weiterführende Schule«. Ziemlich aufregend. Aber natürlich lange nicht so aufregend wie das Kreuzern.

»Oh nein«, stöhnt Vera.

Lena beugt sich vor und schaut ihrer Mutter über die Schulter: Ein paar Meter weiter steht ein Lastwagen quer auf der Fahrbahn und kippt einen Berg Sand auf den Bürgersteig. Bremse. Bremse. Noch mal heftig Bremse. Mit einem Ruck kommt der rote Franzose zum Stehen. Jetzt, wo ihre Mutter halten musste, vibriert die alte Kiste so,

»Was hast du da?«

Die Augen ihrer Mutter im Rückspiegel.

Verdammt, die sieht auch alles.

»Nix«, sagt Lena und merkt, wie ihre Wangen heiß werden. Eine denkbar blöde Antwort.

Hinter ihnen hupt es. Der Laster ist weg, Vera hat freie Fahrt. Also Handbremse auf, Gas. Sie rollt los. Aber locker lässt sie natürlich nicht.

»Na, sag schon: Warum grinst du so?«

Ihre Mutter reißt den Kopf nach vorn und steigt in die Eisen. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie in den anderen Wagen gerauscht wäre.

»Vollidiot!«, schreit sie.

Das sieht ihr wieder mal ähnlich: Wie oft hat sie Lena schon gesagt, man soll nicht fluchen. Aber sobald sie im Auto sitzt, flucht sie selber lauter als Opa Matthias, wenn St. Pauli mal wieder ein Tor kassiert.

»Du fluchst, Mama«, sagt Lena.

Lenas Mutter guckt in den Rückspiegel, als hätte Lena sie beim Bonbonklauen erwischt.

»Tut mir leid, Süße, aber der hat sie doch nicht mehr alle! Dem sollte man sofort den Lappen abnehmen!«

Nur ein paar Meter weiter geht das Gefluche ihrer Mutter schon wieder los.

Vor einer roten Ampel zischt sie: »Verdammt noch mal.«

Lena muss gar nichts sagen. Vera dreht den Kopf und lächelt schuldbewusst.

»Ich weiß, ich sollte mich nicht so aufregen. Aber ich bin heute Abend noch mit Fritz verabredet. Und deshalb hab ich’s eilig.«

Fritz, das ist Veras neuer Freund. Er wohnt nebenan. Ihre

»Wenn dein Vater sich endlich mal ein eigenes Auto kaufen würde, könnte er dich freitags auch selber mal abholen.«

»Aber Papa will doch gar kein Auto haben.«

Lenas Vater sagt, es gebe sowieso schon zu viele Autos auf der Welt. Jedenfalls mehr als Parkplätze. »Die Straßen sind voll mit Parkplatzsuchern«, sagt er.

Manche Autofahrer, die in Winterhude wohnen, parken nach Stunden des Suchens schließlich in Eppendorf, nur weil sie da einen Parkplatz ergattert haben, und müssen dann mit dem Bus nach Hause fahren. So einen Quatsch will er nicht mitmachen, sagt ihr Vater.

 

Fünf Minuten später biegt Veras Auto in die Zeißstraße ein, in der die Wohnung von Kalle liegt. Das Haus ist aus Backsteinen gebaut und weiß angestrichen. Efeu wächst zwischen den Fenstern bis hoch zum dritten Stock. Meisen und Gimpel haben ihre Nester zwischen den grünen Blättern versteckt. Im Frühling und Sommer herrscht ein großes Geflatter an der Hauswand. Die Wohnung von Lenas Vater liegt in der Mitte des Hauses, im zweiten Stock.

Ihre Mutter hält in zweiter Reihe. Wieder kein Parkplatz. Sie schaltet die Warnblinker ein und steigt aus, um sich von Lena zu verabschieden. Das Auf-Wiedersehen-Ritual geht so: Kuss auf Stirn, Nase und beide Wangen. Zuerst Lena bei Vera, dann Vera bei Lena. Kalle hat sie erwartet. Er kommt aus der Tür, bevor Lenas Mutter wieder im Auto sitzt. Er trägt sein Lieblings-T-Shirt. Es ist hellblau, verwaschen und hat vorn den Umriss einer E-Gitarre aufgedruckt. In seinen Haaren sind winzige gelbe Farbspritzer. Kalle ist Maler und Lackierer, und wahrscheinlich hat er heute eine Decke gestrichen.

»Hallo, Locke!«

»Hallo, Papa.«

Lena und ihr Vater umarmen sich fest. Kalle gräbt seine Nase in ihre Haare.

»Hmm! Du riechst wie eine Zitronenrolle«, sagt er. »Ich wusste gar nicht, dass es Zitronenrollen-Shampoo gibt.«

Ihre Mutter verdreht die Augen und schüttelt den Kopf.

»Na, du Spinner?«

»Hört sich nach Auspuff an«, sagt er.

»Das ist ja mal ein Kompliment«, meint Vera.

Kalle lacht. »Ich mein den Franzosen, nicht dich.«

»Ja, ich muss mal wieder das Schweißgerät anschmeißen«, antwortet Vera.

Lenas Mutter verkauft im Alltag Klamotten. Aber nach Feierabend schraubt und bastelt und schweißt sie gern an ihrem alten Franzosen rum. Auf dem Beifahrersitz im Auto entdeckt Kalle die Flasche Luxussekt.

»Hast du noch was vor heute Abend?«

»Und wenn’s so wäre?«

»Mama macht sich einen gemütlichen Abend«, sagt Lena und spürt den Ellbogen ihrer Mutter, der ihr in die Seite stupst.

»Sag deiner Mutter, dass ich ihr einen wunderbaren Abend wünsche«, sagt Kalle zu Lena. Das alte Dreieck-Spiel.

»Papa wünscht dir mächtig viel Spaß«, sagt Lena.

Früher war das Dreieck-Spiel gar nicht lustig, wenn Lena ihrem Vater sagen musste, was ihre Mutter gesagt hatte, oder ihrer Mutter sagen musste, was ihr Vater gesagt hatte. »Ausrichten« hieß das und wurde immer dann gespielt, wenn es Streit gab oder miese Stimmung. Heute hänseln sich ihre Eltern damit nur noch. Und das ist okay.

Noch ein Winken aus dem runtergekurbelten Fenster und ein kurzes Dröhnen des Auspuffs, dann ist Vera weg.

Jetzt will Lena hoch. Sie will endlich kreuzern.

Vorher müssen sie und ihr Vater nur noch an der Wohnung im Erdgeschoss vorbei. »M. Wagner« steht an der Klingel. Niemand weiß, ob das M. für Maria oder Margot oder vielleicht sogar für Marianne oder Mechthild steht. So oder so ist Frau Wagner eine freundliche Oma mit der gemütlichen Figur und der natürlichen Neugier eines afrikanischen Nilpferds. Frau Wagner trägt geblümte Schürzen, jeden Tag eine andere. Und sie lauert hinter ihrem Fenster, wenn Lena gebracht wird.

Quietschend öffnet sich Frau Wagners Wohnungstür, als Lena und Kalle schon fast auf der Treppe sind. Es ist nicht ganz klar, ob die Tür in den Angeln oder die Hüfte unter Frau Wagners Schürze dieses Geräusch macht. Beides, sowohl Tür als auch Hüfte, ist so alt, dass es quietschen könnte.

»Na, Lena? Wie geht’s?«

»Prima. Und Ihnen?«

Frau Wagner freut sich, wenn Lena kommt. Es sei gut, wenn wenigstens alle zwei Wochen ein Kind im Haus ist, sagt sie immer.

»Bestens. Hier hast du was.«

Frau Wagner greift in die immer gut gefüllte Tasche ihrer Schürze, die mit rosaroten Blumen bedruckt ist, und zieht einen Schokoriegel hervor.

Prima, denkt Lena, den kann ich später noch als Nachtisch essen, wenn wir zurück sind. Und laut sagt sie: »Danke, Frau Wagner.«

 

Endlich, endlich ist Lena in der Wohnung. Das ist jedes Mal spannend. Denn wenn man hineinkommt, ist da eine Wand, und die ist mit einem riesigen Foto beklebt – von den Garderobenhaken bis zum Schlafzimmer. Es ist ein Foto der Alpen: Hohe Berge mit Schnee sind darauf zu sehen, knallgrüne Wiesen, ein Holzhaus mit Blumenkästen vor den Fenstern und ein paar Kühe. Der Himmel ist so blau wie eine Tempopackung. Eine einzelne Wolke bauscht sich fotogen über einem Gipfel, sie spiegelt sich in

»He! Wer hat die denn draufgeklebt?«

»Das war Luigi.«

Luigi ist nicht nur der beste Freund von Lenas Vater, sondern auch sein Kompagnon im Malerladen.

»Das sieht klasse aus.«

Kalle nickt. »Das finde ich auch. War eine super Idee von Luigi.«

Das Foto von den Alpen sieht jede Woche ein klein bisschen anders aus, denn Kalle sagt all seinen Besuchern, dass sie was auf das riesige Bild draufkleben sollen. Und so guckt seit letztem Jahr ein Dinosaurier aus einem Tal kurz vor der Steckdose. Mitten auf einer Alm stehen vier Männer in bunten Ausgehuniformen vor einer Basstrommel. Das sind die Beatles, eine der Lieblingsbands von Lenas Vater. Hoffnungslos retro, aber sie passen eins a in die Alpen. Links springt ein Delfin durch die Luft. Auf dem Gipfel eines Bergs steht ein großes Straßenschild und zeigt geradeaus nach Bielefeld. Rechts am Rand hat jemand drei Mülltonnen hingeklebt, eine für Papier, eine für Plastik

So toll und verrückt das Alpenfoto ist; das Tollste daran ist: Lena und Kalle können darin spazieren gehen. Wie in jedem anderen Foto auch. Das ist ihr Geheimnis, und sie nennen es »kreuzern«. »Kreuzer« ist nämlich der Familienname von Lena, Kalle und Vera, und als sie einen Namen für ihr Geheimnis gesucht haben, fanden Lena und Kalle »Kreuzern« besser als irgendein englisches Wort. Fast hätten sie ihr Geheimnis »Schlonzen« genannt, weil sich das Kreuzern so anhört: »schlonz«. Aber »Schlonzen« klingt viel zu albern für diese phänomenale Erfindung. Das Kreuzern ist nicht albern. Na gut, es ist manchmal auch albern und noch dazu lustig. Aber vor allem ist es spannend und abenteuerlich und total irre. Das Kreuzern ist einfach unglaublich. Und es funktioniert mit astreiner wissenschaftlicher Technik.

Keiner darf also wissen, dass es das Kreuzern gibt. Lenas Mutter Vera nicht, weil sie es sofort verbieten würde. »Zu gefährlich«, würde sie sagen, »zu gefährlich und zu verrückt.« Frau Wagner darf es nicht wissen, weil sie es in der ganzen Zeißstraße rumerzählen würde. Und wenn es die Zeißstraße weiß, dann weiß es direkt ganz Ottensen, ganz Hamburg, ganz Deutschland, die ganze Welt. Man muss sich das nur mal vorstellen. Wahrscheinlich würden die meisten Menschen dann auch kreuzern wollen, und ratzfatz wäre jedes Foto so überlaufen wie die Landungsbrücken am Hafengeburtstag.

Um überhaupt kreuzern zu können, braucht man einen Transponder. Das ist ein Gerät, das Kalle erfunden und in seinem Erfinderzimmer im Keller zusammengebaut hat. Es ist ein rundes Ding aus Plastik mit einem Schalter auf jeder Seite. Obendrauf ist ein kleiner roter Knopf wie bei einer Stoppuhr. Kalle hat Lena erklärt, dass der Transponder als Erstes speichert, wohin die beiden kreuzern. Früher, als der Transponder noch in der Entwicklungs-

Lenas Vater hat lange Tage und Nächte gegrübelt und an seinem Transponder gearbeitet, bis er einen irre genauen Laserpointer eingebaut hat, der die beiden haargenau, aber auch wirklich haargenau da hinkommen lässt,

Wenn sie sich ein Bild ausgesucht haben, richtet Kalle den Laser aus. Der rote Strahl speichert das Ziel per Knopfdruck. Jetzt müssen sich Lena und ihr Vater in die Augen sehen. Sie geben sich die Hände auf spezielle Kreuzer-Art – die Finger müssen auf beiden Seiten so verschränkt sein, dass der Daumen von Kalle über dem von Lena liegt. Zwischen Lenas rechter und Kalles linker Hand klemmen die beiden den Transponder ein. Dann drückt Lena ihre Stirn an die Stirn ihres Vaters. Sie muss ihn jetzt so lange anstarren, bis es ihr vorkommt, als ob seine Augen zusammenrücken. So lange, bis aus den beiden Augen nur noch eins in der Mitte des Gesichts über der Nase geworden ist. Lenas Vater nennt es »das Zyklopen-Stadium«. Wenn es so weit ist, also das Zyklopen-Stadium erreicht, schließen die beiden die Augen und küssen sich wie die Eskimos. Nämlich mit den Nasen. Sie reiben die Nasenspitzen drei Mal aneinander. Erst links, dann rechts und dann noch mal links. Am Schluss drücken sie die Hände zusammen, zwischen denen der Transponder eingeklemmt ist. Dann macht es leise »schlonz«. Wenn Lena ihre Augen wieder öffnet, ist sie im Bild. Exakt an der eingespeicherten Stelle. Vom Schlonz-Geräusch in Hamburg bis nach Australien oder in die Antarktis oder

Das Kreuzern ist eine großartige Erfindung.

Lena war mit ihrem Vater im Dschungel von Malaysia, sie ist durch Städte wie London und Rio de Janeiro spaziert, einmal war sie auch in Wuppertal. Lena hat an tollen Stränden in der Sonne gelegen und ist auf breiten Flüssen gepaddelt, sie ist in der Wüste Gobi und im Yellowstone-Nationalpark gewandert. Und natürlich hat sie sich schon ganz oft in den Alpen umgesehen, die bei Kalle im Flur hängen.

Das Kreuzern hat viele Vorteile, sagt Lenas Vater. Zum Beispiel müssen sie nicht stundenlang in einem Flugzeug sitzen und über die Wolken schaukeln, um in die Karibik zu kommen. Außerdem kostet es nicht viel – nur den Preis, den Kalle oder Lena für das jeweilige Buch oder Magazin mit dem Foto darin bezahlen müssen. Und man muss nicht auf die Ferien warten. Wenn sie wollen, besuchen Lena und ihr Vater Mittwochabend Schweden, sind am Donnerstag zwei Stunden lang in Südamerika und schauen am Freitag bei den Komodowaranen auf Borneo vorbei. Außerdem wissen die beiden immer, wie das Wetter ist, bevor sie loskreuzern. Das Kreuzern ist wirklich eine Spitzenerfindung.