Hubert Herzog

 

 

 

 

 

 

Kennen Sie Proust?

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und Autor unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Personen und Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum:

1. Auflage

www.karinaverlag.at

Text:                   Hubert Herzog

Lektorat:                   Barbara Lind, Karin Pfolz            

Covergestaltung:                   Karin Pfolz

2019, Karina Verlag, Vienna, Austria,             

 

 

 

 

 


KAPITEL 1

 

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie erst ein paar Momente später realisierte, dass sie nicht mehr allein an ihrem Tisch saß. Sie kehrte aus der Gedankenwelt zurück in die Realität und nahm als erstes bewusst den Wind wahr, der durch ihr Haar strich – wie ein guter Freund – und ihre Haare herumwirbelte. Für diese Jahreszeit war es etwas zu warm. Die Sonne, die für den heutigen Tag ihre stärkste Kraft schon verloren hatte, aber jetzt ihre letzte Höchstleistung vollbrachte, ehe sie das Rückzugsgefecht gegen den rasch heraufziehenden Abend antreten musste, gaukelte damit jenen Frühling vor, auf den alle sehnsüchtig warteten. Gleich nach dem Wind meldete sich der Rollkragenpullover wieder, scheinbar aus Protest darüber, dass sie sich die Ärmel bis über die Ellbogen aufgekrempelt hatte. Sie hatte ihn dadurch offenbar in seiner Existenz beleidigt, sodass er an ihrem Hals zu kratzen begann.

Etwas desorientiert sammelte sie ihre Sinne und Gedanken zusammen. Dann wandte sie den Blick auf den Sessel, der durch den kleinen runden, weißen, französischen Bistrotisch – der auf der unebenen Wiese, auf die er platziert worden war, recht unbeholfen und nur annähernd so grazil aussah, wie ihm das von seinem Erzeuger vorbestimmt worden war – von ihrem getrennt wurde.

Zuerst sah sie schlanke, leicht knöchrige Finger, deren Nägel zwar sauber, aber insgesamt etwas lieblos gepflegt wirkten. Etwas in ihr schien darauf zu bestehen, den Blick wieder zu senken und zurück in ihre Gedankenwelt zu kehren – so als hätte dieser Teil in ihr die Befürchtung, dass sie durch die Kontaktaufnahme für Stunden von sich selbst abgelenkt werden könnte und wertvolle Zeit verlieren würde. Hier setzte ihr Unterbewusstsein ein und warf eine Frage auf – abgelenkt wovon? Es entbrannte ein Kampf zwischen den beiden Stimmen in ihrem Kopf. Die eine, welche die Ansicht vertrat, dass die Beschäftigung mit den vorhandenen Problemen höchste Priorität genießen müsste und es keinerlei Entschuldigung für Aufschub geben durfte. Mahnend, wie die Eltern einst, wenn sie als Kind vor der Regenlache stand und nichts mehr wollte als hineinzuspringen, während die Erwachsenen stets Schreckensszenarien von nassen Schuhen, Husten und Fieber entgegenhielten. Die andere – die in den Kindheitsjahren oft die siegreiche geblieben war, jedoch schon seit vielen Jahren regelmäßig den Kürzeren zog – schickte Neugierde und die Möglichkeit eines interessanten Gespräches ins Rennen. Vielleicht war es auch dem Zustand zuzuschreiben, gerade aus Gedanken gerissen – noch nicht zur Gänze zurückgekehrt zu sein in die Welt des rationalen und kopforientierten Denkens – behielt diesmal die Stimme der Neugierde die Oberhand.

Sie blickte auf und sah in ein freundliches Gesicht mit großen, etwas müde wirkenden Augen, in denen ein Feuer zu erkennen war, das dem Menschen, in dessen Seele sie blicken ließen, innewohnte. Es war das Antlitz einer Frau – um die 30 Jahre alt. Wie die Finger wirkte auch das Gesicht etwas abgemagert, beinahe ausgemergelt. Die Haut war gepflegt und blass, die hellblonden Haare fielen wellig bis über das Kinn hinunter und umspielten im Wind Augen und Nase.

»Kennen Sie Proust?«

Die ungewöhnliche Gesprächseröffnung verwirrte sie einerseits, hatte sie doch mit einem »Guten Tag« oder »Mein Name ist…, wie heißen Sie?«, oder etwas in dieser Art gerechnet. Doch gleichzeitig triumphierte die innere Stimme, die im Wettstreit den Sieg davongetragen hatte und jubilierte so stark, dass ihr ganzer Körper von einer gespannten Neugier, ja fast Euphorie erfasst wurde, dass das nun folgende Gespräch weit über das belanglose Geplänkel hinausgehen würde, das sie für gewöhnlich als sozialen Kontakt bezeichnete.

»Ja – früher habe ich etwas von Proust gelesen – aber das liegt lange zurück«. Sie war selbst überrascht, wie schwermütig ihr Unterbewusstsein den letzten Teil des Satzes zur Aufführung gebracht hatte. Melancholisch, einer Zeit nachtrauernd, wie dem ersten geliebten Haustier nach dessen Tod, wenn der Welt ein Hauch der Intensität ihrer Farben genommen wird und der Stachel des Verlustes auch nach Jahrzehnten noch schmerzt. Ausgelöst durch den Scheinwerfer des Erinnerns, der auf diese Episode des Erlebten scheint. Es klang ein wenig anklagend. Fast so als würde das Unterbewusstsein ihr eine Rüge erteilen wollen wieso es ihr nicht gelungen war, diesen positiven und bereichernden Zeitvertreib in die Gegenwart herüberzuretten.

»Der Abschnitt über den Geruch im Zimmer. Können Sie sich daran erinnern?«

Die Frage verhinderte, dass sich der innere Disput weiter zuspitzen konnte – »Nein – helfen Sie mir bitte auf die Sprünge.«

»Gerne! Ich habe es erst vorige Woche gelesen. Die Luft riecht heute so kräftig. Ich habe das Buch in meiner Tasche und würde mich freuen Ihnen den Abschnitt vorlesen zu dürfen.«

»Bitte. Nur zu«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Sie atmete tief ein und sog den Duft in ihre Lungen. So als würde sie, angespornt von dem schlechten Gewissen, das zuvor in ihr erwacht war, die Zeit zurückdrehen und das Versäumte nachholen wollen. Sie lauschte den Worten, die sich, vorgetragen von der weichen und warmherzigen Stimme ihrer Tischgenossin, zu Landschaften und liebevoll eingerichteten Zimmern auftürmten. So wie sich Figuren aus Wolken formen, während man im Gras liegend stundenlang ihrer Wandlung zusieht. Die Gerüche, die den Worten innewohnten, wurden real und tanzten durch ihre Nase. Das Gesprochene verwandelte sich in wahrhafte Erlebnisse und Emotionen. Sie folgte der Stimme in Prousts ländliche Stube, die erfüllt von tausenden Düften war. Sie roch den Raureif, die Wäsche im Schrank, den Duft des warmen Brotes. Sie genoss die Fülle an Gerüchen, die in ihrer Dichte fast schon essbar und unglaublich real schienen. Sie saß mit der Hauptfigur Prousts in jenem Raum, in dem ihr zu warten geboten war, ehe diese zu ihrer Tante vorgelassen wurde und sog den Geruch des Rußes ein, den das zaghafte Feuer, das die morgendliche Kälte vertreiben sollte, verbreitet hatte. Sie wollte es sich dort gemütlich machen und, um das Gefühl noch zu verstärken, ein Gewitter oder einen Schneesturm, der vor dem Fenster toben möge, um sich noch behaglicher zu fühlen. Sie merkte, dass sie ihrer Sitznachbarin einen dankbaren Blick zuwarf, mit dem sie in deren Gesicht ein sanftes Lächeln gezaubert hatte.

»Mir ist es auch so gegangen, als ich es gelesen habe«, sagte diese so, als hätte sie ihre Dankbarkeit aus ihren Augen abgelesen. Am liebsten hätte sie den Sekundenzeiger der Uhr mit beiden Händen umklammert und verhindert, dass dieser sich weiterbewegte. So wie an einigen wenigen Momenten im Leben, wenn man spürt, dass dieser etwas Besonderes ist. Wenn man eins ist mit sich und dem Universum und sich nichts mehr wünscht, als diesen Augenblick ewig zu verlängern. Jetzt und hier auf dem filigranen Sessel sitzend, den linken Arm auf den wackeligen Bistrotisch gelehnt, spürte sie die Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie konnte in der Luft den herannahenden Frühling erahnen. Die frischen Blätter, die sich in wenigen Wochen allerorts aus der Umklammerung der jetzt noch geschlossenen Knospen befreit haben werden, waren ebenso nahezu real wie das wilde Durcheinander der Vögel, die mit ihrem lauten und hektischen Gezwitscher das Ende des Winters bejubeln würden.

 

»Ich muss jetzt wieder – es hat mich sehr gefreut – einen schönen Tag noch – auf Wiedersehen!« – der Sekundenzeiger hatte sich losgerissen und die Zeit, die er scheinbar still gestanden war, wieder aufgeholt. Es schien, als würde er sich alles zurückholen, was er verloren hatte. Sie spürte Wehmut aufsteigen. Ihr Kopf war schwer und sie musste sich überwinden, ihn zu bewegen, um zu der jungen Frau aufzusehen, die gerade aufgestanden war. »Mich hat es auch gefreut. Auf Wiedersehen!« – mehr brachte sie nicht hervor. Das freundliche Lächeln ihrer Gefährtin, mit der sie die abenteuerliche Reise der letzten Minuten verbracht hatte, beruhigte sie ein wenig. Offenbar stand ihr plötzlicher Aufbruch nicht mit einem Fehlverhalten ihrerseits in Verbindung. Eine Disharmonie nicht wahrzunehmen war sie dennoch bestürzt, dass dieser Ausflug in jene schöne bunte beschützte Gedankenwelt so rasch und unvermutet enden musste.

 

Sie blickte noch eine Weile in jene Richtung, in der die Silhouette vor einigen Momenten verschwunden war, so als ob sie durch langes Hinsehen, das Rad der Zeit zurückdrehen könnte und sie wieder zum Tisch zurückzuholen vermöge. Vergebens. Der Moment kam nicht wieder und so stand auch sie auf. Der Ort hatte seine Magie verloren. Doch bei näherer Überlegung stimmte das nicht, es war noch viel schlimmer. Die Magie wohnte dem Ort immer noch inne, doch vermochte sie nicht mehr aus der atmosphärisch gewordenen Versteinerung gelöst zu werden, wie dies zuvor der Fall gewesen war, ähnlich wie das Wasser des Regens Minerale aus dem Gestein zu lösen vermag. Wissend, diese Magie nicht mehr herstellen zu können, zog sie es vor, sich zu entfernen, um nicht der Erinnerung an die schönen Geschehnisse hilflos und wehmütig ausgesetzt zu sein.

 

Sie ging durch den Park, den Blick auf den Boden gerichtet, schnurstracks auf ihr Zimmer. Es war ein kurzer Weg, drei Minuten vielleicht, doch er erschien ihr unerträglich lange und einige Gedanken tanzten durch ihren Kopf. Doch sie vermied es bewusst ihnen Aufmerksamkeit zu widmen. Endlich war sie an ihrer Tür und huschte eilig in das von der Nachmittagssonne, die sich redlich bemühte Licht in den kleinen Raum zu zaubern, matt golden glänzend und doch dämmrig erhellte Zimmer. Nachdem sie die Türe geschlossen hatte, setzte sie sich in den großen Couchsessel und hielt inne.

Lange saß sie dort, ehe sie sich aufraffen konnte, wieder aktiv zu werden. Abendessen. Einer jener fixen Eckpunkte im täglichen Zeremoniell, dem wir uns unterwerfen, ohne genau zu wissen wieso. Essen wenn wir Hunger haben wäre so logisch und natürlich. Doch scheint die Nichteinhaltung eines Mittagoder Abendessens wie eine Sünde. Wie ein Verstoß gegen ein Gesetz, dessen schriftliche Bestätigung fehlt, das jedoch so stark in uns verankert ist, dass wir unsichtbar daran gebunden scheinen. Abendessen also. Sie richtete sich zurecht und trat aus dem Zimmer hinaus auf den Gang, um anschließend die, mit einem alten Teppich überzogenen, Stufen hinunterzusteigen. Dann wandte sie sich links und ging quer durch die Eingangshalle in Richtung des Speisezimmers.

Dort waren, wie jeden Abend, die ungefähr ein dutzend runden Tische liebevoll gedeckt. Kreativ gefaltete Servietten und Blumen verzierten die weißen Tischtücher. Der Raum duftete nach warmem Tee und dem Dampf der unterschiedlichen Speisen, die in den Metallpfannen am Buffettisch aufgereiht um die Gunst der Gäste buhlten. Jede von ihnen versuchte die anderen in der Intensität der Aussendung ihrer Botenstoffe zu überbieten.

Jeder Tisch bot Platz für fünf zu Verköstigende. Nachdem sie den Raum betreten hatte, versuchte sie blitzschnell auszumachen, welcher Tisch für sie am geeignetsten wäre. Auf keinen Fall fast vollbesetzt. In eine Gruppe zu kommen, in der die anderen bereits zueinander gefunden haben, wäre eine unkomfortable Situation, da man der Dynamik der anderen ausgesetzt ist. Außerdem gab es, durch die Tatsache den letzten Platz ausgefüllt zu haben, keine Optionen für Veränderungen im Falle eines schlechten Gesprächsverlaufes.

Es schien verlockend sich auf einen der unbesetzten Tische zu setzen. Doch würde sie damit die Wahlmöglichkeit verlieren, sich die zwischenzeitlichen Kollegen auszusuchen. Sie wäre an den Tisch gebunden, da ein nachträglicher Wechsel, im Falle einer unerwünschten Gesellschaft, mehr als unhöflich und unangenehm wirken würde. Somit erschien ein Tisch mit zwei Personen ideal. Hier konnte sie sich einfach in das Gespräch einklinken. Auch die beiden Personen würden, selbst wenn sie sich vertraut sind, schon aus reinem Pflichtgefühl und Anstand, eine dritte aktiv ins Gespräch einbinden. Eine Tatsache, die in größeren Gruppen zweifellos nicht gegeben war, da sich hier jeder auf den anderen verlassen könnte. Sollte, trotz der idealen Vorzeichen, keine Harmonie herrschen, bestand bei zwei Personen Hoffnung auf Besserung. Zumindest einer, der beiden noch zu besetzenden Plätze, könnte die Situation retten.

Es war ein hochtaktisches Unterfangen um sich selbst die beste Ausgangsposition für eine gemütliche Nahrungsaufnahme zu schaffen. Ein Abwägen über das Maß an Eigenverantwortung für sein Schicksal. Wie etwa sich an einen fast vollbesetzten Tisch zu setzen. Oder ob man es dem Zufall überlässt, wie dies bei der Wahl eines leeren Tisches der Fall wäre. Es spiegelte eine der großen Fragen im Leben wider.

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