Die Stieftochter

Ildy Bach

Die Stieftochter

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Ildy Bach

Ildy Bach hat einen klassischen Bühnenberuf gelernt und viele Jahre am Theater gearbeitet. Gemeinsam mit ihrer Partnerin schreibt und entwickelt sie neben (Kriminal-)Romanen auch Kinder- und Jugendbücher, Theaterstücke sowie Stoffe für Film und Fernsehen. Ildy Bach ist ein Pseudonym.

Über das Buch

Nur zwei rostige Ösen an einem Holzbalken verraten, dass vor der alten Gretzky-Villa einst eine Schaukel hing: Hier saß vor elf Jahren Tess’ Stiefmutter Rebecca, während drinnen Alexander Gretzky – Rebeccas Mann und Tess’ Vater – tot in seinem Blut lag. Rebecca wurde verhaftet und verurteilt, doch sie hat nie aufgehört, ihre Unschuld zu beteuern. Immer, wenn der Mord sich jährte, schrieb sie einen Brief an ihre Stieftochter. Tess hat keinen einzigen davon je gelesen. An die Geschehnisse, die wie ein Fluch auf ihrer Familie lasten, wollte sie nie rühren. Erst als Rebecca nach Ablauf ihrer Gefängnisstrafe brutal überfallen wird, beginnt Tess widerwillig nachzuforschen − und entdeckt ein Netz aus Intrigen und Verrat, Grausamkeit und Machtgier, in das Menschen, die ihr nahestehen, unheilvoll verstrickt sind. Was, wenn ihre Stiefmutter es wirklich nicht getan hat? Wenn der Mörder ihres Vaters nie gefasst wurde?

Impressum

Originalausgabe 2021

© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

unter Verwendung eines Fotos von Getty Images

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43553-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26225-5

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423435536

An der Universität wird eine wichtige Klausur geschrieben. Der Professor geht durch die Reihen und verteilt die Aufgabenblätter.

Doch kaum, dass die Blätter verteilt sind, macht sich unter den Studenten Gemurmel breit.

»Aber Herr Professor«, meldet sich einer von ihnen zu Wort. »Das sind ja dieselben Fragen, die Sie uns schon bei der letzten Klausur gestellt haben!«

»Sie haben ganz recht«, antwortet der Professor mit einem wissenden Lächeln. »Die Fragen sind noch dieselben wie beim letzten Mal. Nur leider haben sich inzwischen die Antworten geändert …«

PROLOG

Sieh dich nicht um!

Geh einfach!

VERLASSE AUF DER STELLE DIESES HAUS …

Aber das ist gar nicht so einfach. Als ob jemand Klebstoff auf die Stufen gestrichen hätte, denkt sie verwundert.

Das alte Holz der Treppe knirscht unter ihrem Gewicht, und es scheint kalt zu sein, aber sie ist nicht sicher. In ihren Adern kocht das Blut. Es pocht und klopft wie in einem Kessel, in dem der Druck steigt. Oder ist es gar nicht ihr Blut?

Ist es …?

Nicht nachdenken!

Nachdenken ist viel zu gefährlich!

Sie schluckt, und für einen kurzen Moment glaubt sie das Rascheln eines Perlenvorhangs zu hören. Dazu gedämpftes Lachen. Sie will sich umschauen, aber es gelingt ihr nicht. Es ist, als stecke sie in einem Tunnel fest. In einer engen, dunklen Röhre, aus der es kein Entkommen gibt. Keine Abzweigung. Und keinen Ausweg.

Raus hier!

Unter ihren nackten Fußsohlen blitzt Metall auf. Etwas Spitzes bohrt sich tief in ihre Haut. Ein Stück Plastik. Zitternd geht sie in die Knie und tastet die Stufe ab. Das Mobilteil des Telefons, analysiert sie mit einem Anflug von Erleichterung. Es muss mir aus der Hand gerutscht sein, als ich …

»Hallo?«, flüstert sie und hebt das Gerät ans Ohr.

Es ist kaputt, widerspricht ihr Verstand.

Aber sie gibt die Hoffnung nicht auf. »Hallo?«, wiederholt sie vorsichtig. »Sind Sie noch da?«

Wir sind immer da, scheinen die hohen Wände zu flüstern. Aber sonst bleibt es still. Nur in ihrem Rücken tickt eine Uhr.

Ich hasse dieses Haus, denkt sie voller Inbrunst. Ich hasse es wie nichts sonst auf der Welt! Es fühlt sich an, als ob überall in diesen Zimmern Augen wären, die mich anstarren. Tag und Nacht. Ein unsichtbares Publikum …

Geh!

Der Glaseinsatz der Haustür ist beinahe genauso finster wie das Holz, das ihn umgibt. Im Gehen greift sie sich eine Jacke vom Haken an der Garderobe. Es scheint kalt zu sein. Dabei war bis vor ein paar Tagen noch Sommer.

Ich sollte Schuhe anziehen, denkt sie. Doch da schwingt bereits die Haustür auf. Der Wind heult aus dem Tal herauf wie ein verletztes Tier. Er zerrt an ihrem Nachthemd, und die hohen Baumkronen ächzen.

Die Schaukel, denkt sie, und über ihre Lippen huscht ein Lächeln. Der einzige Platz, der gut ist an diesem Haus. Sie stolpert mit ausgestreckten Armen darauf zu, während eine neuerliche Bö aus Westen über den weiten Talkessel donnert wie eine Welle auf stürmischer See.

Konzentrier dich auf den Himmel!

Auf die Sterne, die sich hinter den Wolken verstecken …

Die Ketten, an denen die Schaukel hängt, sind alt und rostig. Mit jeder Bewegung quietschen und schleifen sie über den Ring, der sie hält. Aber das Geräusch beruhigt sie. Zumindest ein bisschen. Ich habe die Pfifferlinge vergessen, schießt es ihr durch den Sinn, Alexander wird schimpfen …

Wird er nicht.

Alexander ist tot.

In weiter Ferne wird das Heulen von Sirenen laut.

Sie werden mir nicht glauben, denkt sie an ihren vergessenen Pfifferlingen vorbei. Doch die Pilze sind hartnäckig. Wie sonderbar die menschliche Assoziation ist. Sie schafft mühelos den Spagat zwischen Preiselbeersoße und Blut.

Ihre klebrigen Finger schließen sich fester um die kühlen Ketten. Die Finsternis des Waldes weicht einem grellen Lichtblitz. Und noch einem. Und noch einem. Sie hebt schützend die Hand an die Augen, doch es wird nicht besser.

Sieh in den Himmel!

Warum bin ich hierher zurückgekommen?, hämmert es in ihrem Kopf. Was habe ich erwartet, hier zu finden? Wieso habe ich mich nicht ferngehalten von diesem Ort?

Eine Berührung an ihrer Schulter lässt sie zusammenfahren. Jemand spricht mit ihr. Ein Mann. Sie will sich die Ohren zuhalten. Doch seine Hand zieht ihren Arm weg.

Als ihr klar wird, dass sie keine Wahl hat, sieht sie ihn an. »Er liegt oben«, flüstert sie. »Ich weiß nicht, was passiert ist …«

EINS

1

Es war drei Minuten nach sieben, als Rebecca Sandmann durch die letzte von insgesamt vier Sicherheitsschleusen trat. Ohne die Anstaltskleidung sah sie seltsam verändert aus. Kleiner irgendwie. Aber auch gefährlicher.

Oda Marjanovic vergrub fröstelnd die Hände in den Taschen ihres Kittels. Als Stationsleitung hatte sie in den vergangenen elf Jahren nahezu täglich mit Rebecca Sandmann zu tun gehabt. Und doch war sie der Frau mit dem kurzen graumelierten Haar während dieser Zeit nicht einen Millimeter näher gekommen. Ein Umstand, der das immense Unbehagen, das sie seit jeher in Rebecca Sandmanns Gegenwart empfunden hatte, noch verstärkte.

Die verurteilte Mörderin hielt den Kopf gesenkt und trug eine Reisetasche über der Schulter. Dr. Bator händigte ihr die Entlassungspapiere aus, und unwillkürlich wartete Oda darauf, dass Rebecca Sandmann ihn angreifen würde. Doch sie verhielt sich völlig ruhig an diesem Morgen. Ihr Blick war wie leergefegt.

»Also dann …« Dr. Bator schob den Kugelschreiber in die Brusttasche seines Jacketts. »Alles Gute, Frau Sandmann.«

Die Angesprochene streckte die Hand aus, doch Bator dachte gar nicht daran, sie zu berühren.

Als sie sich der Zurückweisung bewusst wurde, spielte ein Lächeln um Rebecca Sandmanns Lippen.

Nachdem sich die automatische Glastür hinter ihr geschlossen hatte, wurde Odas Atem allmählich ruhiger.

Eine Weile stand Rebecca Sandmann ganz still und blickte die lange, gewundene Auffahrt hinunter. Die Welt schwamm noch grau zwischen Nacht und Tag, und zwischen den Stämmen der Buchen hing Frühnebel – ein untrügliches Zeichen des herannahenden Herbstes. Es war das gleiche Datum, nur elf Jahre später. Ob das Zufall war oder Methode hatte, entzog sich Odas Kenntnis. Trotzdem hätte sie liebend gern gewusst, was Rebecca Sandmann fühlte.

»Sie können ruhig wieder reingehen.« Dr. Bator sah sie an, und als Oda sich nicht von der Stelle rührte, setzte er hinzu: »Ab sofort sind wir nicht mehr verantwortlich.«

»Ich weiß«, entgegnete sie.

Der Arzt schenkte ihr ein mitleidiges Lächeln und verschwand mit eiligen Schritten hinter der Schleuse.

Warum tue ich das?, überlegte Oda, während sich die Stille des Morgens wie ein Bleigewicht auf ihre Schultern legte. Wieso stehe ich hier in der Kälte rum, statt hineinzugehen, wo es warm und hell ist und nach Kaffee duftet?

Die Antwort, die ihr Verstand ihr anbot, traf sie wie ein Keulenschlag: Ich will sichergehen, dass sie auch wirklich weg ist. Ich will mit eigenen Augen sehen, wie diese Frau in ein Auto steigt und verschwindet.

Wie aufs Stichwort näherte sich von der Straße her ein Scheinwerferpaar.

Das bestellte Taxi.

Der Fahrer kaute Kaugummi und hielt direkt vor dem Tor.

Rebecca Sandmann nahm auf der Rückbank Platz und stellte ihre Reisetasche neben sich auf den Sitz. Sie blickte sich nicht um. Auch dann nicht, als der Fahrer Gas gab. Oda bemerkte lediglich, dass sie einmal flüchtig auf die Uhr sah. Vielleicht, um sich zu vergewissern, dass sie seit exakt siebzehn Minuten eine freie Frau war …

2

Die Egypt-Air-Maschine landete mit einer knappen halben Stunde Verspätung. Tess Gretzky kämpfte sich durch die Abfertigung und nahm anschließend ein Taxi in die Innenstadt. Um diese Tageszeit herrschte auf den Straßen nicht allzu viel Betrieb, so dass der Kontrast zum staubig-hitzigen Verkehrsgewühl in Kairo kaum größer sein konnte. Trotzdem war Tess keineswegs sicher, ob sie froh war, wieder zurück zu sein. Dazu wusste sie viel zu genau, was sie zu Hause erwartete …

Sie verdrängte den Gedanken an den cremefarbenen Umschlag mit der blassblauen Schrift und blickte aus dem Fenster. Die Felder entlang der A 66 waren größtenteils abgeerntet, und die brachliegende Erde wirkte dunkel und schwer unter den tiefhängenden Wolken.

Der Fahrer telefonierte während der gesamten Fahrt in irgendeinem wenig gebräuchlichen nordirakischen Dialekt. Er hörte nicht einmal auf zu reden, als sie vor dem schmucklosen Westend-Altbau hielten, den Tess ihm als Zielort genannt hatte.

»Ich bräuchte eine Quittung, bitte.«

Der Mann nickte und kritzelte hastig Betrag und Datum auf das oberste Blatt seines Blocks. Dann setzte er einen schwungwollen Schnörkel unter das Formular.

»Danke sehr.«

»Macht nix. Gute Reise.«

Ja, dachte Tess mit einem Anflug von Sarkasmus, das wünsche ich Ihnen auch!

Sie stopfte das Portemonnaie in die Tasche ihrer Jeans und zerrte ihren Trolley aus dem Kofferraum.

Dann tauchte sie in den Schatten der Toreinfahrt.

Obwohl sie nun schon eine ganze Weile allein lebte, hatte Tess sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass auf der Klappe des Briefkastens nur noch ein einziger Name prangte: ihrer. Sie schob den Schlüssel ins Schloss und hielt unwillkürlich den Atem an. Doch zu ihrer Überraschung fand sich im Inneren des rostigen Kastens lediglich ein Schreiben ihres Stromanbieters und ein Zettel von der Hausverwaltung, der sie darüber informierte, dass am kommenden Montag für zwei Stunden das Wasser abgestellt wurde.

Seltsam, dachte Tess, während sie ihren Koffer die zweieinhalb Treppen zu ihrer Wohnung hinaufschleppte. Nicht, dass sie besonders scharf darauf gewesen wäre, einen Brief zu bekommen, den sie sowieso ungelesen in den Müll warf. Aber es machte sie nervös, wenn sich Dinge ohne erkennbaren Anlass plötzlich veränderten. Und bisher waren Beccas Briefe immer auf den Tag genau pünktlich gekommen.

Jahr für Jahr, immer am vierundzwanzigsten September.

Gestern …

Tess stellte ihren Koffer ab und kramte abermals nach ihrem Schlüssel. Vielleicht ist Eric hier gewesen, versuchte sie es mit einer beruhigenden Portion Logik. Immerhin wusste er, dass sie heute zurückkam. Gut möglich, dass er aus alter Fürsorge eingekauft, das Bad geputzt und den Briefkasten geleert hatte.

Der sanfte Orangenduft, der ihr beim Öffnen der Wohnungstür entgegenschlug, schien ihre Annahme zu bestätigen. Doch weder auf dem Garderobenschrank noch auf dem Küchentisch fand sich ein cremefarbenes Kuvert.

Tess ging ins Wohnzimmer hinüber, wo die Jalousien zur Hälfte heruntergelassen waren. Auf der Konsole neben der Tür lag – fein säuberlich sortiert – die restliche Post, die während der Zeit ihrer Abwesenheit eingegangen war. Im Angesicht von Digitalisierung und WhatsApp ein durchaus überschaubarer Stapel: Rechnungen. Werbung. Eine neue Karte von ihrer Krankenversicherung.

Aber auch hier keine Spur von Cremeweiß.

Unschlüssig blieb Tess einen Moment unter dem Türrahmen stehen.

Dann zog sie ihr Smartphone heraus und wählte die Nummer ihrer Schwester.

3

Die Sonne stand bereits tief, als sich der weiße Fiat die lange, kurvenreiche Straße hinaufkämpfte. Kein Zweifel, der Wald war dichter geworden in den elf Jahren ihrer Abwesenheit. Dichter und irgendwie auch maroder. Dabei schien das Sanatorium so gut zu laufen wie nie zuvor …

Rebecca Sandmann verzog das Gesicht. Zumindest hatte es ganz offenbar für eine Rundumsanierung des prachtvollen Jugendstilgebäudes und obendrein für ein neues, edel beleuchtetes Hinweisschild an der Straße gereicht: MONSANO – Private Fachklinik für regenerative Therapie – 200 m rechts.

Rebecca riskierte einen kurzen Blick, als sie die Abzweigung passierte.

Dann gab sie wieder Gas.

Hinter der nächsten Kurve öffnete sich der Tunnel aus Bäumen unerwartet zu einer weiten Hochebene. Auf dem Plateau oberhalb der Klinik wuchsen Pflaumen und alte Apfelsorten. Deren Laub begann sich bereits zu verfärben, und zwischen den bunten Blättern leuchteten sattgrüne Misteln hervor.

Eigentlich ist es wirklich schön hier, dachte Rebecca mit einem leisen Schaudern.

Eigentlich …

Wenige hundert Meter weiter führte eine enge Privatstraße weiter zum Wohnhaus. Der Asphalt war mit einer dicken Laubschicht bedeckt, und die Räder des Fiat gerieten auf dem schmierigen Untergrund ins Schlingern. Früher war die Zufahrt beleuchtet gewesen, doch inzwischen schienen die Laternen allesamt kaputt zu sein. Im Vorbeifahren entdeckte Rebecca Spuren von zerbrochenem Glas rund um die gusseisernen Sockel. Außerdem waren mehrere Pfähle mit Sprühfarbe verunstaltet.

»Sie können das Haus jederzeit verkaufen«, hatte ihr Anwalt vorsichtig angemerkt, als sie die Modalitäten ihrer Entlassung besprochen hatten.

»Ja«, hatte sie geantwortet. »Ich weiß.«

»Es würde Ihnen eine schöne Stange Geld einbringen. Und bei der augenblicklichen Marktlage wäre ein Verkauf vermutlich eine Sache von Wochen.«

»Mag sein.«

Er hatte ihr einen prüfenden Seitenblick zugeworfen. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie an dem alten Kasten hängen!«

»Nein.« Sie hatte gelacht. »Natürlich nicht.«

»Warum wollen Sie die Villa dann nicht einfach verkaufen?«

Sie hatte ihm direkt in die Augen gesehen und geantwortet: »Weil es die einzige Verbindung ist, die ich habe.«

»Verbindung? Wozu?«

»Zu dem, was passiert ist.«

Natürlich hatte er kein Wort verstanden. Aber er hatte sich zufriedengegeben. Was man ihm nicht verdenken konnte. Für ihn war sie nichts als ein Job. Ein vergleichsweise interessanter Job vielleicht. Aber trotz allem nur ein Job.

Nein, dachte Rebecca bitter, von dieser Seite habe ich keine Hilfe zu erwarten. Nicht von dort und auch nicht von anderswo. Ich kann mich nur selbst aus dem Sumpf ziehen. Oder darin untergehen.

Sie manövrierte den Fiat auf den schmalen Pflasterstreifen vor der Garage und stieg aus. Frische Luft empfand sie als puren Luxus, nachdem sie sie so viele Jahre nur zu streng festgesetzten Zeiten hatte genießen dürfen, und sie glaubte auch nicht, dass sich daran jemals wieder etwas ändern würde. Aber im Grunde war sie schon immer am liebsten draußen gewesen. Im Wald. Schon als Kind …

Sie schloss die Augen.

Ruth und sie hatten sich früher oft hier oben herumgetrieben. Nicht im Haus natürlich, da hätte ihnen die alte Frau Gretzky was erzählt! Aber es gab eine Quelle im Wald, ganz in der Nähe. Dort hatten sie in den Sommerferien Wasserschlachten veranstaltet und Dämme gebaut. Und manchmal, auf dem Rückweg, hatten sie die alte Frau Gretzky im Garten hinter dem Haus angetroffen und mit ein wenig Glück eine Schale Heidelbeeren oder eine Handvoll Pflaumen abgestaubt.

»Wenn ich groß bin, werde ich hier leben«, hatte Ruth eines Tages selbstbewusst verkündet.

Rebecca erinnerte sich daran, laut gelacht zu haben. »Ja, na klar.«

»Wirklich.« Schon damals hatte Ruth diese Falte gehabt, die immer dann zwischen ihren Augenbrauen aufblitzte, wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes finster entschlossen war. »Eines Tages ist das hier mein Haus.«

Nun, dachte Rebecca, während sie langsam und zögerlich auf die Haustür zuging, zumindest das hast du erreicht. Wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum …

Sie trat auf die Veranda, von der aus man einen geradezu atemberaubenden Blick ins Tal hatte, und blinzelte in die untergehende Sonne. Die Schaukel, die früher hier gehangen hatte, war verschwunden. Lediglich zwei rostige Ösen an einem der vorspringenden Balken verrieten, dass es sie je gegeben hatte. Und auch was das Innere des Hauses betraf, hatte Rebecca keine Ahnung, was sie erwarten würde. Ob es Strom gab. Fließend Wasser. Oder eine Möglichkeit zum Heizen.

Aber sie wusste auch, dass sie keine Alternativen hatte.

»Wissen Sie schon, wohin Sie gehen werden?«, hatte Dr. Mentor sie gefragt, in einem ihrer letzten Gespräche.

Rebecca hatte genickt.

Die erfahrene Psychologin hatte die Augenbrauen hochgezogen. »Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist?«

Rebeccas Blick streifte den Türrahmen. Neben dem Schloss klebten noch die Reste des Polizeisiegels. »Nein«, flüsterte sie. »Da bin ich ganz und gar nicht sicher.«

Sie zog den Schlüssel aus dem Kuvert, das Dr. Bator ihr übergeben hatte, und überlegte, ob er überhaupt noch passte. Vielleicht hatten sie ja die Schlösser austauschen lassen.

Das dürfen sie nicht, widersprach sie sich selbst. Immerhin bist du die Eigentümerin. Dieses verdammte Haus gehört dir. Dir ganz allein.

Und tatsächlich: Der Schlüssel ließ sich problemlos herumdrehen.

Fast so, als sei sie niemals weg gewesen …

4

»Einen Brief?«

Ihre Schwester sprach das Wort aus, als handele es sich um etwas zutiefst Obszönes, und Tess hätte sich am liebsten gevierteilt dafür, dass ihre Neugier einmal mehr über ihren Verstand gesiegt hatte.

»Vergiss es«, versuchte sie das Schlimmste abzuwenden.

Doch dergleichen funktionierte nicht bei Annabelle. So schwer es war, ihre Schwester überhaupt für irgendetwas zu interessieren – wenn man es erst mal geschafft hatte, Annabelles Aufmerksamkeit zu erregen, war sie schlimmer als jeder Bluthund.

»Warum sollte Becca mir einen Brief geschrieben haben?«

»Ist nicht wichtig.«

»Hat sie dir geschrieben?«

Tess ließ ihre Finger über die Tischkante gleiten. »Nein.«

»Du lügst!«

»Quatsch.«

»Oh nein.« Annabelles Stimme war dunkel vor Triumph. »Ich höre es an der Art, wie du atmest.«

Gütiger Himmel!

Tess starrte auf das hellgraue Laminat hinunter und wünschte nichts sehnlicher, als die letzten drei Minuten ihres Lebens einfach löschen zu können.

»Also los, raus damit«, drängte Annabelle. »Warum hat Becca dir geschrieben?«

Das ist in der Tat eine ziemlich berechtigte Frage, dachte Tess. Laut sagte sie: »Keine Ahnung.«

»Erzähl mir nichts! So wie wir zueinander stehen, muss sie einen verdammt guten Grund gehabt haben, Kontakt zu dir aufzunehmen.«

»Möglich.«

»Was heißt das?«

»Herrgott noch mal!«, fuhr Tess auf. »Ich habe ihre Briefe nicht gelesen, okay?«

»BRIEFE?« Noch durch das Telefon war die Fassungslosigkeit ihrer Schwester mit Händen zu greifen. »Soll das heißen, Becca hat dir mehr als einen Brief geschrieben?«

»Ja, verdammt. Und?«

»Wie viele waren es?«

»Das ist doch jetzt wirklich nicht …«

»Antworte mir!« Annabelles Stimme hätte problemlos Glas zerschnitten. »Wie viele Briefe hat diese Person an dich geschrieben?«

Stimmt, dachte Tess, so haben sie immer alle genannt: die »Person«. Das Geringste, was man über einen anderen Menschen sagen konnte. Ein Begriff, der noch nicht einmal ein erkennbares Geschlecht hatte.

»Tess!«

Sie stöhnte. »Zehn.«

Ihre Schwester räusperte sich. »In welchem Zeitraum?«

»Das ist doch wohl offensichtlich, oder?«, gab Tess zurück.

Sie sah Annabelle vor sich, wie sie auf ihrer Unterlippe kaute, während sie eins und eins zusammenzählte. »Also jedes Jahr einen, ja?«

Herzlichen Glückwunsch zu dieser logischen Glanzleistung!

»Ja, genau.«

Am anderen Ende der Leitung machte sich eine nachdenkliche Stille breit. »Was bezweckt sie damit?«

»Ich weiß es nicht, okay?« Tess ließ sich auf einen Stuhl fallen und streckte die Beine von sich. »Denn wie ich dir bereits sagte, habe ich keinen Schimmer, was in den verdammten Briefen drinsteht.«

»Hast du sie noch?«

»Glaub mir«, versetzte Tess ohne Rücksicht auf Verluste, »falls ich sie noch hätte, würde ich jetzt gemütlich auf meiner Couch sitzen und lesen, statt dir und mir dieses wenig erbauliche Gespräch zuzumuten.«

Annabelles Antwort bestand aus einem pikierten Schweigen. Irgendwo in weiter Ferne waren Kinderstimmen zu hören. »Also hast du die Briefe vernichtet?«

»Ja, verdammt noch mal!« Tess fuhr sich mit der freien Hand durch die Haare. »Ist das hier ein Kreuzverhör?«

»Du hast mich angerufen.«

Eins zu null für dich, dachte Tess. »Stimmt. Tut mir leid.«

»Mir nicht.« Und schon war er wieder da, dieser leidend-vorwurfsvolle Ton, mit dem Annabelle ihre Umgebung schon als Kind so hervorragend manipuliert hatte. »Ich freue mich immer, wenn meine einzige Schwester mal was von sich hören lässt.«

Tess verdrehte die Augen. »Und sonst?«, erkundigte sie sich betont fröhlich. »Geht’s euch gut?«

»Ja, alles bestens. Ich meine … außer, dass ich Gordon kaum noch zu Gesicht kriege, seit er im Landtag sitzt.«

»Im Landtag? Wow! Glückwunsch!« Annabelle zu schmeicheln war seit jeher die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden. Tess bedachte die Tischplatte mit einem sarkastischen Lächeln. Denn leider war ihre Schwester eine abenteuerliche Mischung aus dem fanatischen Ehrgeiz ihrer Mutter und der lethargischen Bequemlichkeit ihres Vaters, was zur Folge hatte, dass sie sich ihre Erfolgserlebnisse gern ganz bequem über die Leistung von Dritten holte. »Dann grüß ihn von mir. Und Mama natürlich auch.«

»Wie wär’s, wenn du selbst mit ihr sprichst?«, versetzte Annabelle spitz.

»Mach ich«, erwiderte Tess, weil jede andere Antwort zu endlosen Diskussionen geführt hätte. »Aber jetzt muss ich Schluss machen. Ich bin erst seit einer Stunde aus Ägypten zurück und habe mich noch nicht bei meinem Vorgesetzten gemeldet.«

Sie drückte auf die rote Taste, bevor ihre Schwester auch nur Luft holen konnte. Doch kaum dass die Verbindung unterbrochen war, klingelte das Telefon erneut.

Tess zog die Stirn in Falten. Es gab nur eine Handvoll Menschen auf der Welt, die im Besitz ihrer Handynummer waren. Und da sie selbst grundsätzlich die Funktion »Rufnummer unterdrücken« aktiviert hatte, wenn sie telefonierte, konnte es auch auf gar keinen Fall Annabelle sein, die zurückrief. Selbst wenn sie – was zu vermuten stand – der Meinung war, ihr Gespräch sei noch nicht beendet …

»Ja?«

»Theresa Gretzky?«

Innerhalb von Sekundenbruchteilen schien die Temperatur um sie herum um mindestens zehn Grad zu fallen. Tess stürzte in die Diele und starrte die Wohnungstür an. Normalerweise steckte sie den Schlüssel von innen ins Schloss, sobald sie zu Hause war. Aber da sie ohnehin gleich wieder losmusste, um Marcy abzuholen, hatte sie an diesem Nachmittag darauf verzichtet.

»Wer ist da?«, fragte sie, und ihre Stimme klang erschreckend verloren in der leeren Altbauwohnung.

Doch sie erhielt keine Antwort.

Am anderen Ende der Leitung blieb es totenstill.

»Hallo?«, wiederholte Tess, während sie mit geschärften Sinnen zu ihrem Rollkoffer schlich und ihre Pistole herauszog. Zugleich überlegte sie fieberhaft, ob ihr die Stimme irgendwie bekannt vorgekommen war. Sie war seltsam geschlechtslos gewesen, so dass sie ebenso gut einem Mann wie einer Frau gehören konnte. Aber zwei magere Worte reichten leider nicht aus, um sich hierzu ein verlässliches Urteil zu bilden und …

Ein leises Knacken ließ sie aufs Neue erstarren.

Dann erklang ein Freizeichen.

Die Verbindung war unterbrochen.

5

Im Inneren des Hauses roch es noch genau wie damals, und für einen flüchtigen Moment hatte Rebecca das Gefühl, dass sie kotzen musste. Aber in elf Jahren Gefangenschaft lernte man, sich in buchstäblich jeder Lebenslage zu beherrschen: Ein paar tiefe Atemzüge, und die Übelkeit war verflogen. Zurück blieb die klamme Kühle eines Gebäudes, das nun schon seit einer halben Ewigkeit sich selbst überlassen war.

Oder?

Rebeccas Blicke tasteten sich die finstere Diele entlang. Ob Ruth sich nicht doch irgendwann hergetraut hatte?

Die Blutflecke vor dem Schlafzimmer jedenfalls hatten sie unter Garantie nicht davon abgehalten. Rebecca stieß ein freudloses Lachen aus. In diesen Dingen war Ruth schon immer bemerkenswert unempfindlich gewesen. Und Alexander hatte es gewagt, sie zu verlassen, was in Ruth Gretzkys Logik nichts anderes bedeutete, als dass ihr Exmann verdiente, was auch immer das Schicksal an Strafen für ihn vorgesehen hatte. Unter Garantie war sie bis heute der Meinung, dass Alexander es einzig und allein seiner eigenen Unzuverlässigkeit zuzuschreiben hatte, dass ihm im Schutz seines Hauses der Schädel zertrümmert worden war!

Rebecca warf einen Blick in die Küche, die am anderen Ende der Diele lag. An einen Schlüssel zu kommen wäre für Ruth jedenfalls kein Problem. Im Büro der Klinik gab es einen für Notfälle, das wusste sie. Und da die meisten Leute dort ohnehin der Meinung waren, dass Ruth Gretzky die rechtmäßige Besitzerin dieses Hauses war, konnte sie sich dieses Schlüssels vermutlich nach Belieben bedienen.

Rebecca schluckte. Doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Reiß dich zusammen!

Sie wischte sich flüchtig über die Stirn und wandte sich dem Wohnzimmer zu.

In dem riesigen Raum war es kalt wie in einem Eishaus, und irgendjemand hatte sämtliche Möbel mit weißen Laken verhängt. Einzig der Flügel stand offen. Auf den Tasten lag Staub.

Wenn Alexander das sehen könnte, dachte Rebecca, würde er schäumen vor Wut!

Die alten Dielen knarrten unter ihren Füßen, als sie langsam auf das Instrument zuging und den Deckel schloss. Dann trat sie in den großzügigen Erker, von dem aus man das gesamte Tal überblicken konnte. Der Staub von elf Jahren hatte die Scheiben hinter den vergilbten Gardinen blind gemacht, und Rebecca riss eilig die Fenster auf.

Sofort strömte milde Septemberluft ins Zimmer. Und mit ihr das vertraute Aroma des Waldes, das sie so liebte. Die Sonne war schon fast hinter den Hügeln versunken und überzog den Himmel mit dem leuchtenden Feuerrot des Abends, vor dem die gezackten Schatten der Bäume gestochen scharf hervortraten.

Rebecca lehnte den Kopf gegen das Holz des Fensterrahmens. Bedeuteten Misteln nicht Glück?

Sie stand ganz still, das klamme, staubige Zimmer im Rücken, und wartete darauf, was geschehen würde. Sie hatte sich diesen Augenblick unzählige Male vorgestellt. Nacht für Nacht. Jahr für Jahr. Sie hatte sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie wirklich und wahrhaftig wieder hier stand, in diesem Haus. Am Ort des Grauens. Der Stätte ihres schlimmsten Alptraums.

Würde dieser Ort etwas in ihr bewirken? Käme irgendetwas zurück? Konnte sie hoffen, auf ein Licht im Dunkel ihrer Vergangenheit?

Rebecca schloss die Augen und bereitete sich darauf vor, dass die Erinnerungen über sie herfallen würden wie ein Rudel ausgehungerter Raubtiere. Doch sie wartete umsonst. Ihr Problem war, dass sie keine Erinnerungen hatte.

Zumindest keine, die dieses Haus betrafen …

Stattdessen dämmerten andere Bilder vor ihrem inneren Auge herauf:

Ein Zirkuszelt. Ein tintenblauer Nachthimmel voller Sterne. Und eine unscheinbare kleine Schiefertafel. ERFAHREN SIE IHRE ZUKUNFT, steht in verwischter Kreideschrift darauf zu lesen. Und darunter: ZORREGUITA, DIE HELLSEHERIN, KENNT IHR SCHICKSAL.

Klar, dass die abenteuerlustige Ruth augenblicklich Feuer und Flamme ist:

»Komm, lass uns reingehen!«

»Nein!« Sie wundert sich selbst, wie entschlossen ihre Stimme klingt, denn normalerweise ist sie nicht der Typ, der sich durchsetzt. Schon gar nicht gegen jemanden wie Ruth, die ohne mit der Wimper zu zucken die kräftigsten Jungs verkloppt, wenn die sich weigern, in ihren selbstinszenierten Theaterstücken mitzuspielen.

»Aber warum denn nicht? Ist doch spannend!«

»Ich habe Nein gesagt.«

Ruths unendlich blaue Augen nehmen einen harten Ausdruck an. »Du kommst mit«, sagt sie, und dieses Mal ist es keine Aufforderung, sondern ein Befehl.

»Nein, tu ich nicht.« Sie atmet tief durch. »Wenn du unbedingt Geld loswerden willst – bitte sehr. Aber ohne mich.«

»Gut. Wie du meinst.«

Rebecca kennt diesen Ton. Und sie weiß, wie gefährlich er ist.

»Dann erzähle ich deiner Mutter, was du mit Tony gemacht hast.«

Beccas Hände ballen sich zu Fäusten. Aber sie versteckt sie hinter dem Rücken, so dass Ruth sie nicht sehen kann. »Ich warte hier auf dich.«

»Mitgehangen, mitgefangen.« Ihre Freundin wühlt in den Taschen ihrer Jeans bereits nach Kleingeld. Zweifel sind etwas, das Ruth Gretzky nicht kennt. Wenn sie es sagt, ist der Himmel grün und der Papst evangelisch. Punkt. Aus.

Leider weiß Rebecca nur allzu gut, dass sie gegen diese geballte Entschlossenheit nicht den Hauch einer Chance hat. Es ist dasselbe wie beim Kartenspielen, wenn sie selbst mit dem vielversprechendsten Blatt noch verliert.

Als ob Ruths Entschlossenheit sie lähmen würde …

»Aber ich lasse mir nicht die Karten legen«, versucht sie, den Gesichtsverlust in einigermaßen erträglichen Grenzen zu halten. »Ich gehe nur mit.«

»Klar.« Mit einem Ausdruck tiefster Zufriedenheit tritt Ruth durch den Perlenvorhang am Eingang.

Dahinter riecht es dumpf, nach Staub und Räucherstäbchen.

Die Frau am Tisch ist nicht mehr jung, aber auch noch nicht wirklich alt. Sie trägt einen schwarzen Häkelpulli, in den ein paar schlichte schwarze Perlen eingearbeitet sind, und dazu einen Hauch von Lippenstift. Sonst ist kein Tupfer Farbe an ihr.

Sie sieht aus wie ein Geist.

»Was wollt ihr?«

Ruth ist spürbar enttäuscht. Sie hat eine Zigeunerin erwartet. Irgendein geheimnisvolles Wesen mit schwarzer Wallemähne, Goldschmuck und glutvollen Augen. Wie die Frau auf dem Bild, das in Frederick Epsons Garage hängt. Die mit den blutroten Lippen und dem üppigen Dekolletee.

Trotzdem macht sie einen beherzten Schritt auf den Tisch zu. »Wir wollen, dass Sie uns die Zukunft vorhersagen.«

Möchten, korrigiert Rebecca ihre Freundin in Gedanken. Wenn man höflich ist, sagt man wir möchten …

Doch Ruth ist nicht höflich. Sie ist erst elf Jahre alt, aber sie lässt sich schon jetzt von niemandem mehr etwas sagen. Nicht von ihren Eltern. Nicht von ihren Lehrern. Und erst recht nicht von einer bleichen Möchtegern-Zigeunerin in einem billigen Zirkuszelt …

Die Frau am Tisch beugt sich vor. »Wie bitte?«

»Die Zukunft«, wiederholt Ruth. »Auf dem Schild am Eingang steht, dass Sie unser Schicksal kennen.«

»Verschwindet!«

Im wahren Leben heißt die Frau nicht Zorreguita, wie das Schild am Eingang behauptet. Ihre Haare sind rotblond und zeigen an den Schläfen erste Spuren von Grau. Einzig ihre Augen stechen aus dem fahlen Gesamteindruck hervor, denn überraschenderweise sind sie schwarz. Wie flüssiger Teer.

»Das ist aber nicht besonders geschäftstüchtig«, stellt Ruth fest, während sie sich provozierend genau in dem kleinen Zelt umschaut.

Die Frau am Tisch verzieht keine Miene. »Ich sag’s nicht noch mal, Schätzchen: Macht, dass ihr Land gewinnt, oder ich befördere euch eigenhändig an die frische Luft!«

Ruth greift in die Hosentasche und zieht einen zerknitterten Geldschein heraus. Dabei ist sie normalerweise geradezu lächerlich geizig. Das Einzige, das sie noch weniger erträgt als den Verlust von Geld, ist Zurückweisung. Aber die widerfährt ihr ohnehin praktisch nie. Im Gegenteil: Für gewöhnlich sind die Leute von ihrem Charisma und ihrer Kraft geradezu hingerissen.

»Hier!« Sie knallt einen Zwanziger auf den fleckigen Tisch und wirft der selbsternannten Hellseherin einen herausfordernden Blick zu. »Also?«

Um die Lippen der Frau spielt ein verächtliches Lächeln. Dann ist sie auf einen Schlag wieder ernst. »Ihr seid zu jung.«

»Bin ich nicht«, versetzt Ruth, und Rebecca registriert mit Bitterkeit, dass die Formulierung, die ihre Freundin gewählt hat, sie einmal mehr komplett ausspart.

Für Ruth zählt Ruth.

Sonst niemand.

»Sie bieten hier eine Dienstleistung an«, sagt sie, indem sie ihren Geldschein noch ein Stück weiter über den Tisch schiebt. »Und ich möchte diese Dienstleistung in Anspruch nehmen. Ich bin bereit, dafür zu bezahlen, und ich kann hier nirgendwo ein Schild sehen, auf dem etwas von einem Mindestalter steht.«

Das Gesicht der Frau mag teigig und blass sein. Doch dafür hat ihr Lachen umso mehr Farbe. Es schwebt über dem fleckigen Holztisch wie ein Pinselstrich in kräftigem Orange, den jemand quer über ein Aquarell gezogen hat. »Schieb ab!«

Rebecca beobachtet ihre Freundin aus dem Augenwinkel. Der Ärger füllt Ruths Gesicht mit Blut, und die Spannung, die sich in ihren schmalen Fäusten aufbaut, ist beinahe körperlich zu spüren.

Die falsche Zorreguita scheint es ebenfalls zu fühlen, denn sie sieht sich genötigt, ihren Rauswurf zu wiederholen: »Hast du nicht gehört, du kleine Klugscheißerin? Ihr sollt verschwinden. Alle beide.«

Doch Ruth denkt überhaupt nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten.

Für ein paar endlose Sekunden krallen sich ihre Blicke ineinander.

Dann klirrt überraschend der Perlenvorhang in ihrem Rücken, und ein Mann mit dunklem Schnurrbart tritt ein.

Als er die beiden Mädchen sieht, bleibt er abrupt stehen.

»Cesár!«, ruft die Frau am Tisch, offenkundig hocherfreut über die Unterbrechung. »Komm rein!«

»Gern. Aber wenn du …«

»Nein, nein, kein Problem«, fällt die Rotblonde ihm gleich wieder ins Wort. »Die beiden wollten gerade gehen.«

Ruth reißt empört den Mund auf, doch die hühnenhafte Erscheinung des Mannes flößt offenbar selbst ihr Respekt ein. Wutentbrannt pflückt sie ihren Geldschein vom Tisch und greift nach dem Arm ihrer Freundin.

»Los, komm!«, zischt sie. »Verschwinden wir hier!«

Der Bärtige rührt sich keinen Millimeter von der Stelle.

Rebecca kann seine Körperwärme spüren, als sie sich an ihm vorbeiquetschen.

»Alles klar?«, hört sie ihn fragen, als der billige Perlenvorhang hinter ihnen zusammenrasselt.

Die Antwort der Rothaarigen ist kaum zu verstehen, aber sie brennt sich in Beccas Gedächtnis wie ein Laserstrahl.

Sie sagt: »Gott steh ihr bei!«

6

Tess hatte Eric gleich nach der Landung eine WhatsApp geschrieben, dass sie in ungefähr einer Stunde bei ihm sein könne, und er hatte geantwortet, das ginge okay. Seit seinem Auszug teilten sie sich das Sorgerecht, und so leidenschaftlich Tess ihren Freund auch hin und wieder zum Teufel wünschte, so schmerzlich war ihr bewusst, dass sie das Leben, das sie führte, einzig und allein Erics Flexibilität verdankte. Tatsächlich hatte er noch nie Theater gemacht, wenn sie ihm wieder einmal eröffnete, sie habe einen neuen Einsatz und müsse Marcy deshalb für ein paar Tage bei ihm lassen. Zwar hielt er sich praktisch nie an sein Versprechen, ihr während ihrer Abwesenheit hin und wieder einen kurzen Lagebericht oder doch wenigstens ein Foto zukommen zu lassen. Aber abgesehen davon schienen die beiden glänzend miteinander auszukommen. Und dass Marcy wie verrückt an Eric hing, ließ sich leider nicht leugnen …

Tess seufzte und manövrierte ihren Wagen in die enge Lücke zwischen zwei geparkten Lkw. Das smarte Reihenhaus war hypermodern ausgestattet und verfügte über – für innerstädtische Verhältnisse – geradezu unglaubliche fünfhundert Quadratmeter Garten.

Eric öffnete ihr in Anzughose, Hemd und Manschetten. Offenbar war er gerade erst von der Arbeit gekommen. »Ich hatte dich eigentlich schon gestern erwartet.«

»Ich mich auch.« Tess schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln. »Aber dann musste ich leider noch dem zuständigen Botschaftsvertreter Bericht erstatten.«

»Und?« Eric hatte sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, dass er sie nicht nach ihrer Arbeit fragen durfte. Aber irgendwie brachte er es auch nicht übers Herz, das Thema gänzlich zu umgehen. »Wie waren die Pyramiden?«

»Keine Ahnung.« Tess drückte ihm eine Schachtel Nusspralinen von seinem Lieblingskonditor in den Arm, die sie vorsorglich schon vor ihrer Abreise besorgt hatte. »Die meiste Zeit war ich in einem fensterlosen Krankenzimmer, ungefähr fünfundzwanzig Meter tief unter der Erde.«

Seine Augen glitten mitleidig über ihren gewohnt blassen Teint. »Habt ihr bei dieser Art von Einsätzen nie auch mal Freizeit?«

»Ich fürchte, das, was DU unter Freizeit verstehst, ist für Leute wie uns viel zu gefährlich.«

»Liebe Güte!« Er schüttelte theatralisch den Kopf. »Wie gut, dass du dir sowieso nichts aus sozialen Kontakten machst.«

Tess grinste und lauschte an ihm vorbei ins Innere des Hauses. Doch dort war es verdächtig still. »Wo ist Marcy?«

»Warum kommst du nicht erst mal rein?«, fragte Eric anstelle einer Antwort.

Sie folgte ihm in ein durchgestyltes Wohnzimmer mit riesigen Panoramafenstern. »Warum ist sie nicht bei dir?«

»Ich bin gerade erst von der Arbeit gekommen.«

»Heißt das, sie war den ganzen Tag allein?« Tess bemühte sich nach Kräften, nicht vorwurfsvoll zu klingen. Doch an Erics Haltung sah sie, dass er sich trotzdem angegriffen fühlte.

»Es geht ihr prima, okay?« Er schob die Terrassentür auf und eilte mit langen, elastischen Schritten über den penibel gepflegten Rasen.

Im Gehen sammelte er hier und da ein liegen gebliebenes Spielzeug auf, und Tess konnte nicht umhin, zu bemerken, dass Marcy und er offenbar jede Menge Spaß gehabt hatten.

»Bitte sehr, überzeug dich selbst!«

Eric öffnete eine schmale Tür an der Rückfront der Garage, und bevor Tess in Deckung gehen konnte, kam etwas Dunkles durch die Luft geflogen und landete etwa auf Brusthöhe in ihrem Arm. Gleich darauf fuhr ihr eine warme, weiche Zunge quer übers Gesicht.

»Was, um Himmels willen, soll das denn?«, fragte Tess, indem sie sich ihre völlig aufgelöste Hündin vom Hals pflückte und sie entschlossen wieder auf dem Rasen absetzte.

»Was meinst du?«

»Seit wann springt der Hund an irgendwem hoch?«

Anstelle einer Antwort gab Eric lediglich ein undefinierbares Brummen von sich. Und auch Marcy glitt wie schwerelos hinter einen Blumenkübel – das personifizierte schlechte Gewissen.

»Nun hab dich doch nicht so«, meldete sich unerwartet eine sympathische Männerstimme in ihrem Rücken zu Wort. »Das ist doch bloß die Wiedersehensfreude.«

Tess drehte sich um.

Von der Terrasse her kam ihnen Josh entgegen, Erics Mann.

Sofort stürmte Marcy wie von der Tarantel gestochen hinter ihrem Kübel hervor und sprang winselnd und quietschend vor Glück an ihm hoch.

»Ist ja schon gut, mein Mädchen, ist ja gut«, säuselte Josh und zog eine Kaustange aus der Tasche, die Marcy in einem Bissen hinunterschlang.

Eric hob entschuldigend die Hände. »Ist ’ne absolute Ausnahme.«

»Das sehe ich«, knurrte Tess. »Wirklich, Leute, wenn ihr so weitermacht, muss ich den Hund in eine Kadettenanstalt geben, damit er wieder halbwegs auf Spur gebracht wird.«

»Warum nennst du die arme Maus immer den Hund?«, beschwerte sich Josh, während er Marcy hingebungsvoll den Nacken kraulte.

»Weil sie ein Hund ist

»Hündin«, korrigierte Eric.

»Spezies Hund, Geschlecht zweitrangig«, beharrte Tess. Aber das unbeschwerte Geplänkel mit ihren Freunden tat ihr gut. Die dunkle Wolke, die seit dem seltsamen Anruf über ihr schwebte, war verschwunden. »Und jetzt hört gefälligst auf, sie mit diesem gepressten Mist vollzustopfen, wo sie nichts weiter tut, als dumm rumzusitzen und euch anzuhimmeln. Alle beide!«

»Komm, Marcy«, entgegnete Josh in gespielter Gekränktheit. »Wir packen schnell deine Sachen zusammen, damit Mama dich mitnehmen kann.«

»Sachen?« Tess hob alarmiert den Kopf. »Was für Sachen?«

»Ach, nicht Besonderes. Nur ein paar Kleinigkeiten.«

Sie machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. »Die da wären?«

»Wir haben da im Internet ein wirklich supertolles Shampoo entdeckt«, berichtete Eric voller Stolz, während sein Mann eilig ins Haus flüchtete. »Damit duftet sie wie ein frisch erblühter Rosenbusch. Und damit sie keine Hautprobleme kriegt, haben wir ihr auch gleich noch die passende Pflege dazu bestellt. Josh packt dir beides ein, zusammen mit den Fischöl-Kapseln und dem neuen Halsband.«

Fischöl? Tess verzog das Gesicht. »Sie ist ein Hund, Eric«, wiederholte sie mit einem Anflug von Resignation.

»Ja, doch. Weiß ich. Aber das muss sie ja nicht zwangsläufig dazu verdammen, gänzlich ungepflegt durchs Leben zu gehen, oder?«

Tess verdrehte die Augen. »Vielleicht solltet ihr euch ein Kind anschaffen, damit dein Mann seine Mutterinstinkte nicht länger an meinem armen Hund auslebt.«

»Ich glaube nicht, dass ihn das davon abhalten würde.« Eric grinste. »Aber jetzt mal Butter bei die Fische: Was bedrückt dich?«

»Wie kommst du darauf, dass ich bedrückt bin?«, fragte Tess, wohlwissend, dass sie ihm in diesen Dingen nichts vormachen konnte. Dazu kannten sie einander viel zu gut.

»Das sehe ich.«

»Es ist nichts weiter«, wiegelte sie ab. »Ich … Ich hatte da eben nur so einen komischen Anruf.«

Eric fasste sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum. »Du meinst, jemand hat dich bedroht?«

Dass er diesen Schluss zog, überraschte Tess. Denn normalerweise neigte Eric – im Gegensatz zu ihrer Mutter – so gar nicht zu übertriebener Dramatik. »Warum sollte mich jemand bedrohen?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Wegen deiner Arbeit.«

»Ich bin Analytikerin, Eric, kein Agent.«

»Aber aufgrund deiner Analysen werden Leute doch auf eine bestimmte Weise eingeschätzt, oder etwa nicht?«

»Schon, aber …« Tess bückte sich nach einem vergessenen Bringholz. »Ach, ich weiß selbst nicht, warum mich die Sache beschäftigt. Genau genommen hat der Anrufer nichts als meinen Namen genannt.«

»Das heißt, es war ein Mann?«

»Ich bin nicht sicher.«

Eric kniff die Augen zusammen. »Glaubst du, dass es mit IHR zu tun hat?«

Irritiert hielt Tess inne. »Mit wem?«

Seine Antwort bestand in einer simplen Frage: »War gestern nicht wieder Jahrestag?«

Sie starrte ihn an. »Warum, um alles in der Welt, sollte Becca mich anrufen?«

»Warum schreibt sie dir Briefe?«

Verdammt gutes Stichwort!

»Nun«, Tess strubbelte sich durch ihre kurzen, leicht gewellten Haare, »zumindest das scheint sie jetzt endlich zu lassen.«

Ihr Freund zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Willst du damit sagen, dass du dieses Jahr keinen Brief bekommen hast?«

»Ich habe selbstverständlich damit gerechnet, einen vorzufinden, wenn ich nach Hause komme«, erwiderte Tess. »Aber da war kein Brief. Oder hast du …?«

Er schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«

»Dachte ich mir.« Sie knibbelte an einer Ecke ihres Daumennagels. »Dann hat sie mich dieses Jahr wohl vergessen.«

»Nachdem sie dich in all diesen Jahren nicht vergessen hat?«

»Herrgott, noch mal, Eric, woher soll ICH wissen, was in dieser Frau vorgeht?«, echauffierte sich Tess. »Vielleicht zeigt ihre Therapie endlich Wirkung, und sie fängt an, sich mit sich selbst zu beschäftigen, statt fremden Leuten auf den Geist zu gehen.«

Eric schürzte die Lippen, während er nachdachte. »Tut’s dir eigentlich leid, dass du ihre Briefe nie gelesen hast?«, fragte er dann.

Die Frage hebelte Tess für einen Moment völlig aus. »Nein«, platzte es aus ihr heraus, bevor sie richtig nachgedacht hatte. »Warum sollte es?«

»Bist du denn gar nicht neugierig, was sie dir zu sagen hat?«

»Nein.«

Ihr Freund legte den Kopf schief. »Ach, komm schon!«

»Ich habe Annabelle gefragt, ob sie auch Briefe bekommen hat«, schlug Tess eilig eine neue Marschrichtung ein, weil ihr das Gespräch entschieden zu unbequem wurde. »Aber meine liebe Schwester hat sie anscheinend in Ruhe gelassen.«

»Klar«, nickte Eric. »Oder würdest du deine Schwester wegen irgendetwas kontaktieren?«

Die unverblümte Art, wie er die Dinge auf den Punkt brachte, entlockte Tess immerhin ein Lächeln. »Und was, bitte, willst du mir mit all dem sagen?«

»Ich will damit sagen, dass deine Stiefmutter ganz offenbar einen guten Grund hatte, dir zu schreiben.«

»Mag sein«, knurrte Tess. »Schade nur, dass ich diesen Grund jetzt vermutlich nie erfahren werde. Denn augenscheinlich hat sie nach elf erfolglosen Versuchen beschlossen, ihre Korrespondenz mit mir einzustellen.«

»Warte mal kurz.« Eric warf ihr einen vielsagenden Blick zu und verschwand im Haus. Wenig später kehrte er mit einem Umschlag zurück.

Cremefarbenes Papier mit blassblauer Schrift …

Tess hielt die Luft an. »Woher hast du den?«, fragte sie entgeistert.

»Aufgehoben.«

Die Selbstverständlichkeit, mit der er sich über ihren Willen hinweggesetzt hatte, versetzte Tess einen Stich. »Du hast es wirklich und wahrhaftig gewagt, einen persönlichen Brief, den eine fremde Frau an MICH gerichtet hat, aus dem Müll zu fischen und aufzubewahren?«, fragte sie, mühsam beherrscht.

Eric nickte.

»Warum?«

Das Wort schwebte zwischen ihnen wie eine Drohung.

»Weil ich …« Seine Finger spielten hilflos mit dem Kuvert. »Ich hatte einfach das Gefühl, dass es wichtig sein könnte.«

»Wichtig für wen?«

»Für dich.«

»Super! Danke!«

»Mach mit dem verdammten Ding, was du willst.« Erics Stimme war ungewohnt fest. »Wirf es weg, lies es. Tapezier das Bad damit. Ist mir ganz egal. Ich wollte nur, dass du …« Er unterbrach sich, weil just in diesem Moment sein Mann mit einem prall gefüllten Shopper in der Terrassentür auftauchte.

»So, hier sind wir!« Die veränderte Stimmung ließ Josh stutzen. Und feinfühlig, wie er war, reagierte er sofort: »Wie wär’s, wenn du mir deine Autoschlüssel gibst?«, wandte er sich eilig an Tess. »Dann könnten Marcy und ich einfach schon mal …«

»Nicht nötig«, unterbrach Eric, indem er den cremefarbenen Umschlag wie selbstverständlich zu Marcys Pflegeprodukten in den Shopper schob. »Wir haben alles besprochen, was es zu besprechen gab.«

7

Liebe Tess,

 

ich weiß, du wirst mir nicht antworten. Das hast du in den letzten acht Jahren nicht getan, und ich habe nicht den geringsten Anlass, anzunehmen, dass sich an deiner Einstellung mir gegenüber etwas geändert hat.

Aber ich schreibe dir trotzdem.

Es mag vielleicht ein wenig egoistisch klingen, aber hier drin ist es wirklich verdammt schwer, gute Gespräche zu führen. Und wenn ich ehrlich bin, ist es das, was mir am allermeisten fehlt: der Austausch mit Menschen, die nicht ausschließlich um sich selbst kreisen. Denn das tun hier leider alle. Sogar die Psychologen. Und mal ganz abgesehen davon, dass es kein besonders gutes Gefühl ist, sich mit jemandem zu unterhalten, der dafür bezahlt wird, dir zuzuhören, suchen diese Leute immerzu und in allem, was du tust oder sagst, nach Beweisen für die Meinung, die sie sich vor langer Zeit über dich gebildet haben. Und egal, was du anstellst: Das Ergebnis steht schon vorher fest. Natürlich differiert es von Arzt zu Arzt – in der Bewertung menschlicher Abgründe gehen die Meinungen erstaunlich weit auseinander! Aber das Vorgehen ist immer identisch: Jemand nimmt dich in Augenschein, bildet sich eine Meinung über dich, und anschließend ist derjenige dann viele Jahre damit beschäftigt, Beweise für die Richtigkeit seiner Thesen zu sammeln.

Das tun übrigens die meisten Menschen, darüber habe ich erst kürzlich einen überaus interessanten Artikel gelesen (Dr. Mentor überlässt mir freundlicherweise hin und wieder eine ihrer Fachzeitschriften). Die Quintessenz war, dass die meisten Leute grundsätzlich erst mal davon ausgehen, dass sie recht haben. Und weil sie nicht nur recht haben, sondern auch recht behalten wollen, deuten sie alles, was danach kommt, als Beleg für ihre Meinung.

Anscheinend gibt es nur eine winzige Minderheit, die das genaue Gegenteil tut. Die also versucht, sich selbst zu widerlegen. Und seltsamerweise hatte ich immer den Eindruck, dass du zu dieser Minderheit gehörst.

Vielleicht schreibe ich dir deshalb …

Ich weiß schon, wir beide hatten nicht viel Gelegenheit, uns näher kennenzulernen (auch wenn ich sicher bin, dass du im Laufe der Jahre weit mehr über mich gehört hast als ich über dich!), aber ich habe dich beobachtet und dachte immer, dass du irgendwie aus der Reihe fällst. Und dass du nicht hineinpasst in diese seltsame Ansammlung von Menschen, die sich deine Familie nennt …

Tess ließ den Brief sinken, und sofort sprang Marcy auf.

»Ist schon gut«, beruhigte sie Tess. »Ich bin okay.«