Zombie Zone Germany


XOA



Lisanne Surborg




Herausgegeben von Piper Marou

 

 

 

© 2019 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein

Idee: Torsten Exter

Herausgeberin der Reihe: Piper Marou


Lektorat: André Piotrowski
Umschlaggestaltung: Christian Günther

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN TB – 978-3-95869-564-1
Printed in the EU

 

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1 19

 

 

Bereits erschienen in der Zombie Zone Germany

 

Zombie Zone Germany - Die Anthologie
ISBN 978-3-944729-749
ZZG: Trümmer (Simona Turini)
ISBN 978-3-95869-045-5
ZZG: Tag 78 (Vincent Voss)
ISBN 978-3-95869-236-7
ZZG: Letzter Plan (Jenny Wood)
ISBN 978-3-95869-266-4
ZZG: Blutzoll (Matthias Ramtke)
ISBN 978-3-95869-269-5
ZZG: Zirkus (Carolin Gmyrek)
ISBN 978-3-95869-179-7

 

1

 

 

 

 

 

 

 

Die linke, untere Ecke des Posters hat sich wieder abgelöst. Sie starrt es an, während sie sich ein Stück Nussschokolade zwischen die Lippen schiebt. Dass sie aufstehen sollte, die Ecke wieder an die Wand pressen sollte, weiß sie. Stattdessen bleibt Xoa im Bett liegen, streicht mit den Fingerspitzen über ihren kahl geschorenen Schädel und wundert sich über das ungewohnte Gefühl. Am liebsten hätte sie ihr Haar behalten, vielleicht um ein kurzes Seil daraus zu flechten, aber er hat es mit nach oben genommen und sie wieder allein gelassen.

Xoa dreht sich auf ihrer nackten Matratze auf die Seite und schaut die fünf Jungen auf dem Poster an. Sie müssen ungefähr in ihrem Alter sein, 18, vielleicht zwei Jahre jünger oder älter. Alle haben schöne Gesichter, alle lachen. Aber Xoa hat keine Ahnung, wer sie sind und wieso jemand sie auf ein Poster gedruckt hat. Zwei englische Worte stehen unter ihren Füßen. Das erste bedeutet »eins«, das zweite kennt Xoa nicht.

Sie erlaubt sich ein weiteres Stück Schokolade. Die Tafel ist eine Belohnung für die letzte Prüfung, die sie bestanden hat, und sie will sie sich einteilen für schlechtere Tage. Xoa dreht sich auf die andere Seite, sieht die schmutzige Matratze am Ende des Raumes und fragt sich, ob Lei ihre letzte Prüfung wohl bestanden hat.

Es ist seltsam still ohne Lei. 61 Stunden ohne ihr Lachen, Schimpfen oder die ruhigen Atemzüge, wenn sie schläft.

Xoas Finger brechen ein weiteres Stück Schokolade ab. Lei hat nur einmal Nussschokolade von ihm bekommen. Sie hat angefangen zu husten, kaum Luft bekommen, geröchelt und er hat sie ihr wieder weggenommen. Stattdessen bekommt sie Gummibärchen, wenn ihre Testergebnisse gut gewesen sind. Meistens hat Lei mit ihr geteilt.

Xoa zwingt sich, aufzustehen und die Schokolade auf Leis Bett zu legen, so weit weg von dem ihren, wie nur möglich. Vielleicht würde sie die morgen brauchen – oder übermorgen.

Sie streckt sich, in ihrem Nacken knackt etwas. Dann stellt sie sich dicht an die Betonwand und beginnt, mit ihren Füßen den Raum auszumessen, obwohl sie natürlich weiß, dass er zwölf und einen halben Fuß lang und fast zwanzig Fuß breit ist. Als sie ihr Zimmer zum ersten Mal ausgemessen hat, sind ganz andere Zahlen dabei herausgekommen.

Sie wiederholt das Ausmessprozedere für Lei, wobei sie ihre Füße etwas großzügiger voreinandersetzt, denn schließlich sind Leis Füße ein wenig länger als ihre eigenen.

Als Xoa am Waschbecken ankommt, nimmt sie den Kamm in die Hand und tut so, als würde sie ihr Haar ordnen, obwohl da nichts mehr auf ihrem Kopf ist, was sie kämmen könnte.

Sie sieht ein bisschen aus wie ein Außerirdischer, findet sie und dreht das Gesicht vor dem Spiegel. Er ist noch recht neu, der Mann hat ihn zu Weihnachten gebracht. In einer Ecke des Spiegels ist ein Riss, doch das stört Xoa nicht.

Seit ein paar Wochen ist sie 18 Jahre alt, aber wie eine erwachsene Frau sieht sie nicht aus. Sie reckt den Hals und betrachtet die Sehnen, die scharf hervorstechen. Xoa macht einen Schritt zurück und ihr Blick rutscht auf die kleinen Brüste über ihren Rippen. Wenn sie ein T-Shirt trägt, kann man sie kaum erahnen.

Die von Lei sind viel schöner. Eine Hand reicht nicht aus, um sie zu bedecken. Auch Leis Hintern sieht besser aus als ihr eigener. Rund wie der Hintern der berühmten Frauen in den Magazinen. Lei und Xoa besitzen acht dieser Hefte: zweimal die Wendy, einmal Lissy, zweimal BRAVO, einmal BRAVO GiRL!, einmal Brigitte und eine inTouch. Aus der neueren BRAVO haben sie das Poster von den fünf Jungen herausgetrennt. Die Zeitschrift ist schon Jahre alt.

Sie schaut zu der Wanduhr neben der Tür. 62 Stunden ohne Lei. Es ist Zeit, die Haustiere zu füttern. Xoa setzt sich auf ihr Bett und zieht vorsichtig ihre Kekspackung auf. Kekse sind schon lange nicht mehr darin. Lei und sie haben selbst die Krümel sorgsam ausgeleckt.

Stattdessen wimmeln sieben Kellerasseln in dem Plastikgehäuse. Xoa lässt sie auf ihre Hände krabbeln und passt auf, dass keine verloren geht. Sie alle haben Namen und Xoa kann sie auseinanderhalten. Nach einer Weile sperrt sie sie zurück in die Keksschachtel, nicht ohne ihnen zu versichern: »Keine Sorge, es gibt gleich etwas zu essen.«

Mit den Fingernägeln kratzt sie ein wenig Moos aus der Bodenfuge, wo Beton auf Beton trifft. Dreck sammelt sich zwischen Haut und Nagel, aber es macht ihr fast Spaß, ihn wieder hervorzupulen. Sie streift alles innen in der Keksschachtel ab und versucht, es ihren Asseln schmackhaft zu machen. Tatsächlich ist sie nicht sicher, ob Asseln Moos essen oder vielleicht gar andere Insekten bevorzugen. Aber sie hat diese Generation Asseln vor Wochen eingefangen und bisher ist keine einzige gestorben.

Die Asseln ignorieren ihre Fütterung, soweit Xoa es beurteilen kann. Sie schiebt die Keksschachtel wieder zu und lässt sie mit ihrem Futter allein. So schlecht ist das Moos nicht. Xoa hat es selbst mal probiert. Zuerst haben sie Leis Gummibärchen geteilt und gedacht, der Mann würde ihnen sicher am Abend etwas Richtiges bringen. Aber er ist nicht gekommen. Und als er auch am nächsten Tag nicht gekommen ist, ist ihnen vor Hunger schon so schlecht gewesen, dass sie sich kaum noch haben rühren können.

Auf der Matratze liegend, hat Xoa das Moos mit den Zähnen von der Wand geknabbert. Erdig ist es gewesen, viel Sand zwischen ihren Zähnen. Satt hat es nicht gemacht.

Der Mann ist am nächsten Morgen gekommen mit einem Topf Milchreis. Sie haben ihren Kopf darüber gehängt, wie gierige Tiere.

Schritte auf der Treppe lassen Xoa aufhorchen. Ihr Herz beginnt wie wild zu schlagen. Ihre Handflächen werden warm und feucht. Sie setzt sich auf, blickt auf die Stahltür und hört die Schritte näher kommen. Sie hofft auf Essen, aber noch mehr auf Lei. Bestimmt bringt er Lei zurück. Ihre Schritte fehlen, doch vielleicht trägt er sie.

Das vertraute Schaben des Schlüssels, das Kratzen der Tür auf dem Boden, der grelle Lichtschein aus dem Flur mit der Treppe.

Er betritt ihren Raum, schließt die Tür hinter sich und dreht den Schlüssel um, bevor er ihn sich in die Hosentasche steckt. Xoa spürt einen Stein in ihren Magen fallen, so schwer, als wäre er von der Decke ihres Kellers gefallen.

Lei ist nicht da.

»Xoa«, grüßt er sie und bleibt mitten im Raum stehen.

»Hallo«, sagt Xoa leise.

Er reibt sich die Brille und macht sie nur noch schmutziger. Als sie ihn kennengelernt hat, hat er noch keine Brille getragen. Sein Haar ist noch voll und dunkel gewesen, aber mit der Zeit haben sich tiefe Ecken hineingefressen und graue Fäden hindurchgezogen. Er starrt eine Weile auf ihren Eimer in der Ecke, bevor er wieder etwas sagt.

»Hier ist Brot für dich«, sagt er tonlos und stellt eine Plastiktüte auf den Boden. Sie ist schmutzig und die Tragegriffe sind ausgeleiert, weil er sie schon so oft benutzt hat.

»Danke«, sagt Xoa artig und dann: »Wo ist Lei?«

Er ignoriert sie, starrt an die Wand. Seine Muskeln sind angespannt wie so oft, er wiegt den Oberkörper ein wenig nach vorn.

»Ich muss deine Haare prüfen«, sagt er, schnalzt einmal seltsam mit der Zunge und kommt steif auf sie zu.

Xoa bleibt sitzen. Sie kann ihn riechen, als er näher kommt. Der Schweiß ist alt und hängt tief im Gewebe seines Pullovers. Seine Finger wischen grob über ihren nackten Kopf und Xoa muss sich mit den Händen auf der Matratze abstützen.

Er weicht einen Schritt zurück. »Sollten da nicht längst Stoppeln sein?«, fragt er misstrauisch. Er schaut zu Boden und ein Muskel in seinem Gesicht zuckt. »Ich habe deine Haare vor drei Tagen abrasiert. Die müssten nachwachsen.«

»Nein«, erwidert sie schnell, »Das war erst gestern!«

»Sie lügt«, sagt er und beginnt, im Raum auf und ab zu laufen. Seine Schuhsohlen schlurfen über den rauen Boden. Er kaut an seinen Nägeln, bleibt kurz stehen, um in ihren Eimer zu schauen, und läuft dann weiter in Richtung Tür.

»Ich lüge nicht! Du hast es aufgeschrieben. Es war erst gestern.«

Ein paar Sekunden lang fischt er nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche, dann hält er inne, kratzt sich am Bart, fixiert sie mit den Augen und kommt langsam wieder auf sie zu. »Du willst mich täuschen, oder?«

»Du hast es aufgeschrieben«, wiederholt Xoa leise. »Wann kommt Lei zurück?«

Ohne ein weiteres Wort öffnet er die Tür und verschwindet. Sie fällt widerhallend ins Schloss. Xoa hört seine hastigen Schritte auf der Treppe, dann die zweite Tür. Es wird still.

Sie wickelt das Brot aus der Plastiktüte und riecht vorsichtig daran. Es ist ein kleiner, flacher Klumpen. Früher hat es richtiges Brot aus dem Supermarkt gegeben, vielleicht sogar vom Bäcker, aber seit ein paar Monaten backt der Mann selbst. Xoas Mutter hat auch immer viel gebacken. Muffins, Kuchen, Kekse. Auch Brot. Ihres ist viel besser.

Xoa bricht ein Stück ab und weicht es in Spucke ein. Ihre Zähne sind zu schwach, um es richtig zu kauen. Vor ein paar Wochen erst hat Lei in einen Müsliriegel gebissen und einen Backenzahn verloren.

Xoa isst die Hälfte ihres Brots und legt sich auf ihre Matratze. Es schmeckt nach nichts Bestimmtem. Ein aromaloser Brei in ihrem Mund. Die zweite Hälfte des Brots hat sie wieder eingepackt. Für Lei, falls sie Hunger hat, wenn sie zurückkommt.

Als Xoa einschläft, ist es vor allem eine Erleichterung für ihre Nase. Der Mann hat vergessen, ihren Eimer auszuwechseln.

Erst zwei Tage später kommt er zurück. Er stellt eine schmutzige Porzellankanne auf den Boden und reicht ihr einen Teller mit heißen Kartoffeln und einem Klecks Ketchup.

Xoa ist so hungrig, dass sie sich eine der Kartoffeln sofort in den Mund schieben muss. Sie kaut noch, als er sich über sie beugt und mit einer Hand an ihrem Kinn ihr Gesicht ins Licht der Deckenlampe dreht.

Sie hält inne und wartet. Ihre Augen heften sich an seinem Kehlkopf fest, der auf und ab wippt, während sein Atem gegen ihre Kopfhaut stößt. Xoa fröstelt, aber sie wagt nicht zu zittern.

»Wie ich es mir gedacht habe …«, murmelt der Mann über ihr, ohne erkennen zu lassen, ob er zufrieden mit ihr ist oder wütend. Seine Stimme klingt tonlos wie so oft.

»Habe ich bestanden?«, fragt Xoa, als er von ihrem Kopf ablässt. Statt zu antworten, verzeichnet er etwas in seinem schwarzen Notizbuch.

»Du musst mehr Ordnung halten. Es stinkt.«

»Dafür kann ich nichts. Du hast meinen Eimer nicht ausgeleert. Und ich darf ihn doch nicht in den Abfluss kippen. Habe ich bestanden?«

»Ich bin gewarnt worden. Wenn dein Haar rötlich nachgewachsen wäre, hätte ich dich beseitigen müssen.«

Aber Xoas Haar ist nicht rot. Sie hat sich erst vor ein paar Minuten im Spiegel betrachtet und den dunklen Schatten auf ihrem Schädel bewundert. Dunkelbraun, ganz und gar nicht rot.

»Hat Lei bestanden?«

Der Mann hält den Henkel des Eimers und das Notizbuch in einer Hand, während er die Tür aufschließt. Er tritt hindurch, aber bevor die Tür ins Schloss fällt, antwortet er ihr.

»Nein.«

 

2

 

 

 

 

 

 

 

Er hat ihr ein kariertes Nachthemd mitgebracht. Es sieht riesig aus, als könnten Lei und sie beide bequem hineinschlüpfen. Aber Lei ist nicht da. Seit fast einer Woche ist Xoa allein in ihrem Keller.

Der Mann trägt einen rechteckigen Koffer aus Plastik. Es klimpert metallisch, als er ihn auf den Boden stellt.

»Sie haben mir eine neue Prüfung aufgetragen. Ich erwarte, dass du kooperierst und keinen Ärger machst.« Der Mann sieht ihr nicht in die Augen, stattdessen fixiert er einen Punkt über ihrem Kopf und starrt auf die Wand dahinter. Er geht in die Knie und beginnt, die Verschlüsse des Koffers zu öffnen.

»Wie viele Prüfungen kommen noch?«, stellt Xoa die Frage, die sie immer stellt. Sie fragt eher aus Gewohnheit denn aus der Hoffnung heraus, eine Antwort zu bekommen. Die Wahrheit ist – und das ist einem Teil von ihr schon vor Jahren klar geworden –: Er weiß es selbst nicht.

Der Mann