Henke, Sandra Angels and Devils – Die Kraft deines Kusses

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

 

Wenn Ihnen dieser Thriller gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Angels & Devils – Die Kraft deines Kusses« an empfehlungen@piper.de, und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

 

© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Julia Feldbaum
Covergestaltung: © Traumstoff Buchdesign traumstoff.at
Covermotiv: Photographee.eu/shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Prolog

Überschrift nur für ebook

 

Tamica bekam einen Kloß im Hals, den sie mit dem restlichen Alkohol in ihren Gläsern hinunterspülte. »Mein Tag war scheiße. Das kommt vor. Bei mir in letzter Zeit öfter als bei anderen, aber jeder kennt das. Morgen wird für mich wieder die Sonne scheinen, ganz sicher.«

»Ganz sicher nicht – das ist es doch, was du wirklich denkst, oder? Zumindest erzählen das deine Augen.« In kräftigen Zügen kippte er seine Getränke hinunter und bestellte sogleich Nachschub für Tamica und sich. »Der Abend geht auf mich. Dann erlebst du wenigstens heute etwas Gutes.«

»Danke, aber ich sollte nicht mehr …« Unbeholfen winkte sie ab, verlor die Balance und hielt sich an Jaxon fest, um nicht vom Hocker zu fallen. Schnell ließ sie ihn wieder los, als bestünde er aus Dynamit. »Ich sollte die Finger von dir lassen.«

»Von mir?«, fragte er amüsiert.

Ihre Wangen brannten. Sie bemühte sich, nicht zu ertappt zu wirken. Ihre Stimme zitterte vor Unsicherheit, als sie sich korrigierte: »Vom Alkohol selbstverständlich.«

»Du hast etwas anderes gesagt.«

»Ich bin beschwipst.« Sie zuckte mit den Achseln.

»Das sehe ich. Deine Nasenspitze«, sanft tippte er sie an, »ist rot wie die von Rudolph, dem Rentier.«

»Mir ist halt warm.«

»Dann lass uns irgendwo hingehen, wo wir allein sind und du dich ausziehen kannst.«

Meinte er das ernst? Oder frotzelte er bloß und machte sich einen Spaß daraus, sie in Verlegenheit zu bringen?

Kapitel 1

Tamica

Tamica Bishop fühlte sich wie die einsamste Person im »Treasure State« Montana. Daran änderten auch die Menschen um sie herum nichts. Dabei hatte sie alles, was man sich wünschen konnte. Familie, Freunde, einen Job und seit einem halben Jahr sogar ein eigenes bescheidenes Häuschen.

Von außen betrachtet sah alles rosig aus. Wahrscheinlich sollte sie sich glücklich schätzen. Doch das tat sie nicht. Eine Schwarzseherin war sie nicht, das konnte man ihr nicht nachsagen. Sie hatte einfach einen klaren Blick auf die Dinge. Auf ihrer Habenseite handelte es sich lediglich um Fakten, die bei genauer Betrachtung eher blass waren, denn hinter jedem Punkt stand innerlich ein »Schon, aber …«.

Ihre Familie forderte einfach zu viel von ihr. Ihre Freunde traf sie kaum noch, da sie entweder keine Zeit hatte oder zu müde war, um auszugehen. Und wenn sie morgens in die Gärtnerei »The green thumb« fuhr, bekam sie immer öfter Magenschmerzen.

Erst an diesem Morgen hatte sie sich hinterm Steuer ihres Wagens verkrampft und den Bauch massiert, obwohl sie wusste, dass das rein gar nichts brachte, denn das Problem lag woanders.

Und ihre Sollseite war ebenso gefüllt. Dort stand all das, was Tamica fehlte. Spaß zum Beispiel, einfach mal ins Kino gehen, Zeit finden, um ein Café zu besuchen, raus in den Lolo National Forest fahren, um dort zu campen – schließlich war Sommer –, oder auf dem Clark Fork River paddeln oder den Mount Sentinel besteigen, um einen sensationellen Blick über Missoula zu genießen, wie sie es als Teenager oft getan hatte. Auch eine bessere Bezahlung, damit sie sich Sonderausgaben überhaupt leisten konnte, und einen liebevollen, heißen Freund, der ihr die Sonnenseiten des Lebens zurückbrachte und mit ihr gemeinsam durch dick und dünn ging.

Nach einem Partner sehnte sie sich am meisten, wenn sie in ihre einsamen vier Wände kam und erschöpft ins Bett fiel, weil der Tag sie wieder einmal ausgepresst hatte wie eine Zitrone. Sie wünschte sich einen Mann, der sie mit allen Sinnen verführte, der sie liebte, als gäbe es kein Morgen, und all die erotischen Dinge, die sie sich in ihrer schmutzigen Fantasie vorstellte, mit ihr machte. Der stark für sie war, damit sie sich endlich mal einen Moment der Schwäche gönnen durfte. Der sie festhielt, sodass sie sich nach einer Ewigkeit mal wieder fallen lassen konnte. Der ihr zärtlich ins Ohr flüsterte: »Süße, wir schaffen das schon. Du und ich. Gemeinsam.«

Unglücklicherweise war niemand in Sicht, bei dem sie sich auch nur im Entferntesten vorstellen konnte, sich in ihn zu verlieben.

Früher war Tamica stets fröhlich gewesen. Heute allerdings lachte sie selten. Sie selbst würde sich um einiges älter als vierundzwanzig Jahre schätzen, nicht nur weil sie früh erwachsen hatte werden müssen, sondern auch, weil das Leben ihr schon von Kindesbeinen an einiges abverlangt hatte.

Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst.

Ohne damit aufzuhören, die Rhododendren-Stecklinge, die sie am Vormittag von den Muttergewächsen genommen und in Anzuchtkästen gepflanzt hatte, zu gießen, schaute sie sich nervös um, ob sich ihr Boss, Barry Carmine, in der Nähe des Gewächshauses aufhielt.

Dass sie sich in letzter Zeit verändert hatte, war ihr erst im Juli aufgefallen, als sie bei einem Stadtbummel auf der Hill Street an einer Gruppe kichernder Mädchen vorbeigekommen war, die verstohlen zu einem attraktiven Jungen hinübergeschaut und getuschelt hatten. Ihre Gesichter hatten geglüht, ihre Augen hatten gefunkelt, und ihre Körper waren ständig in Bewegung gewesen, weil sie offensichtlich nur so vor Energie- und Lebenslust sprühten.

Zufällig hatte Tamica in einer verspiegelten Scheibe ihr eigenes Spiegelbild erblickt. Sie war ganz erschrocken darüber gewesen, wie stumpft ihre Augen und sogar ihre schwarzen Haare ausgesehen hatten. Nicht einmal die vielen gelben Sprenkel in den hellgrünen Iriden, die ihre Mutter liebevoll »Sonnenflecken« nannte, hatten ihr zu einem Strahlen verholfen. Ihre Mundwinkel hatten herabgehangen – ebenso wie ihre Schultern. Die Frau da, bin ich das wirklich, hatte sie sich bestürzt gefragt. Sie hatte ausgesehen, als würde sie sich durchs Leben schleppen. Aber genau das tat sie ja auch. Aus einem Impuls heraus hatte sie sich in der nächsten Drogerie ein Glanzshampoo und apricotfarbenes Rouge geleistet. Ihr war klar gewesen, dass sie damit nur ihre Erschöpfung kaschieren würde. Darüber hinaus hätte sich dringend etwas ändern müssen. Nur wie hätte das funktionieren sollen?

In der Highschool hatte sie doch noch so große Träume und Hoffnungen gehabt. Sie hatte geglaubt, unmittelbar nach dem Schulabschluss die Welt bereisen und täglich wilden Sex haben zu können. Wovon sie das bezahlen würde, darüber hatte sie sich keinen Kopf gemacht. Auch hatte sie sich vorgestellt, mit vierundzwanzig Jahren längst verheiratet und vielleicht sogar schon Mutter zu sein. Nichts davon war eingetreten. Missoula war zwar die zweitgrößte Stadt Montanas, aber Tamicas Möglichkeiten als Gärtnerin schienen trotzdem beschränkt.

Oder war sie es selbst, die sich einschränkte? War sie nicht mutig genug? Sollte sie sich vehementer auflehnen, mehr kämpfen und konsequenter ihre Ziele verfolgen? Wenn sie nur jemanden hätte, der ihr den Rücken stärken würde. Eine einzige Person. Sie benötigte nur etwas Hilfe zur Selbsthilfe, eine tröstende Umarmung und einige ermutigende Worte, aber sie konnte im Moment auf niemanden zählen.

Plötzlich spürte sie etwas neben sich. Sie schrak aus ihren Gedanken auf und wurde sich bewusst, dass sie für einen Moment vergessen hatte, ihre Umgebung im Blick zu behalten.

Barry stellte sich neben sie und grinste sie an. Puderzucker rieselte aus seinem rostfarbenen Bart. Ihr Boss musste vor Kurzem einen Donut gegessen haben. Er schien sich von dem Gebäck zu ernähren, das sah man seiner Figur auch an. Denn er hatte die Statur eines Schwergewichtsboxers, sodass sich Tamica neben ihm ganz klein vorkam.

Er trug das gleiche beigefarbene T-Shirt wie seine Angestellten: eine Faust, die ihren grasgrünen Daumen nach oben streckte. Nur wirkte das Gärtnerei-Logo bei ihm bedrohlich auf Tamica.

Automatisch versteifte sie sich. Seine Größe und Masse und selbst sein Lächeln schüchterten sie ein. Anzüglich musterte er sie, wodurch sie eine Gänsehaut bekam.

»In den Gewächshäusern steht die Luft«, sagte er in einem Tonfall, den man zum Flirten anschlug. »Ganz schön heiß heute.«

»Geht so.« Mehr brachte sie nicht heraus. Ihr Mund war auf einmal ganz trocken.

Während er ihr den Fransenpony aus der Stirn strich, berührten seine Fingerspitzen ihre Haut. Seine langen Nägel kratzten. »Warum schwitzt du dann?«

Das liegt an dir, lag ihr auf der Zunge, doch sie schluckte den Satz herunter und spuckte ihm auch nicht ins Gesicht, wie sie es gern getan hätte. Noch brauchte sie die Anstellung und das Einkommen dringend.

Endlich löste sich ihre Starre. Um Abstand zu ihrem Arbeitgeber zu gewinnen, ging sie zum nächsten Anzuchtkasten und goss die Stecklinge wohldosiert.

Barry folgte ihr. Als er sich an dem Tisch, auf dem die Pflanzen standen, abstützte, drückte er seinen Arm gegen Tamicas Hüfte. Das wirkte unbeabsichtigt, aber Tamica wusste es besser.

Sie wagte kaum zu atmen. Ihr Herz pochte unangenehm stark in ihrem Brustkorb. Hilfe suchend schaute sie nach allen Seiten, aber keiner ihrer Kollegen war zu sehen. In diesen Bereich der Gärtnerei hatten die Kunden keinen Zutritt. Es sah so aus, als wäre Tamica mit ihrem Boss im hintersten Bereich allein.

Sie würgte den Kloß in ihrer Kehle hinunter, um sprechen zu können. »Kann ich gleich Mittagspause machen?«

»Bleib doch hier!« Er packte ihre Schultern und massierte sie. »Ich gebe dir eine Pizza aus. Oder noch besser, ich werde einfach so eine riesige für Paare bestellen – mit Käserand, weil du es bist.«

»Es geht nicht, das weißt du doch.«

Sein Griff wurde fester. »Ach ja, Mommy ruft.«

»Sie wartet sicherlich schon auf mich.«

»Eines Tages wird sie sich damit abfinden müssen, dass du einen Freund hast und«, er strich an ihren Oberarmen auf und ab und kam ihrem Busen näher, »dass sie nicht über dich bestimmen kann wie über einen Hund.«

Angewidert schüttelte sie seine Hände ab. Sah er sich womöglich an ihrer Seite? Wollte er mehr als ihr an die Wäsche? Diese Vorstellung beängstigte sie. »Das kannst du doch nicht vergleichen.«

»Warum nicht? Sie pfeift, und du kommst angelaufen.«

»Sie braucht mich. Du weißt, wieso.«

Sein Blick wurde unangenehm intensiv, und seine Augen funkelten gierig. Er streckte die Hände nach ihr aus. »Ich brauche dich auch.«

Bestimmt meinte er das nicht nur beruflich. In ihr schrillten die Alarmglocken. Rasch trat sie einen Schritt zurück, damit er sie nicht anfassen konnte. »Ich werde pünktlich zurück sein, versprochen.«

»Wehe, du kommst schon wieder zu spät! Dann werde ich eine Wiedergutmachung von dir fordern.« Er zwinkerte und setzte ein Haifischgrinsen auf.

Mit feuchten Augen trat sie die Flucht an. Sie bemühte sich, ruhig wegzugehen, damit er nicht merkte, wie sehr seine Anmachversuche sie jedes Mal durcheinanderbrachten. Aber kaum hatte sie das Gewächshaus verlassen, rannte sie auch schon in Richtung Personalraum. Ihre Hände zitterten, als sie ihren Spind aufschloss. Sie schnappte sich ihre Handtasche und lief zum Hinterausgang.

Patty stand in der weit geöffneten Tür. Die Schwarze steckte sich gerade eine Zigarette an, ließ das Feuerzeug in ihre Hosentasche gleiten und blies den Rauch ins Freie hinaus. »Hat er dich wieder bedrängt?«

»Woher weißt du das?«

»Du bist weiß wie ein Leichentuch.«

Verlegen rieb Tamica sich die Seite. Wie konnte es sein, dass sie nach dem kurzen Sprint schmerzhafte Stiche verspürte? Das hatte wahrscheinlich weniger mit ihrer Fitness, sondern mit ihrer Anspannung zu tun. Sollte ihre Mutter so anstrengend sein wie üblicherweise, würden wahrscheinlich Spannungskopfschmerzen daraus werden.

»Wehr dich!«, zischte Patty mit ihrer Reibeisenstimme und zeigte mit der Fluppe auf sie.

»Mache ich doch.«

»Nicht heftig genug.«

Tamica zwängte sich an der fülligen Kassiererin hinaus auf den kleinen Angestelltenparkplatz hinter dem grasgrün angestrichenen Gebäude. »Ich brauche den Job.«

»Du findest was Neues.«

»Ich gucke schon seit Monaten in die Stellenanzeigen, aber Gärtnerinnen werden nirgends gesucht.«

»Versuch es mal bei der Universität von Montana, der öffentlichen Missoula Kreisschule, der Providence-St.-Patrick-Klinik und dem St. Patrick Hospital und Gesundheitswissenschaftszentrum.« Asche regnete auf ihren ausladenden Busen, als Patty gestikulierte. Hastig wischte sie sie fort, aber es blieb ein stecknadelkopfgroßes Brandloch in ihrem Firmenshirt zurück.

»Sicher«, sagte Tamica, denn das waren die größten Arbeitgeber in der Stadt, »aber ich könnte mich dort nur als ungelernte Kraft bewerben, zum Beispiel, um Essen auszuteilen oder zu putzen. Das ist nicht gerade das, wovon ich träume.«

»Manchmal muss man Abstriche machen.«

Die konnte sich Tamica aber nicht leisten. »Ich bin beinahe so weit, es trotzdem zu tun. Wenn diese Jobs nur nicht so schlecht bezahlt würden! Außerdem mag ich meinen Beruf sehr, ich liebe ihn wirklich.«

»Aber ist er den Stress wert?«

»Ich habe Barry schon mehrfach gesagt, er soll seine Finger bei sich lassen und mich nicht anbaggern. Das wäre sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.«

»Amen, Schwester.«

»Aber mich wütend zu sehen, macht ihn nur noch mehr an. Einmal hat er sogar einen Steifen gekriegt, als ich ihn angeschrien habe, daher lasse ich es lieber bleiben.«

»Du könntest ihn verklagen.«

»Dazu fehlt mir das Geld, und meine Stelle wäre ich dann los. Also versuche ich, ihn auf Abstand zu halten und professionell zu bleiben.« Tamica zuckte mit den Schultern, was eher mutlos als lässig wirkte.

»Das ist deine Taktik?« Spöttisch zog Patty eine ihrer aufgemalten Augenbrauen hoch.

»Ich lasse ihn auflaufen. Meine Hoffnung ist, dass er irgendwann die Lust daran verliert, mir aufzulauern und mich zu bedrängen. Irgendwann wird selbst er kapieren, dass das zu nichts führt.«

»Oder er wird sich eines Tages nehmen, auf was er scharf ist, Darling. Pass auf dich auf!«

Tamica wurde schwindelig. Ihr Gesichtsfeld verschwamm für einen Moment, dann wurde es wieder klar. Sie schob das auf die Mittagshitze an diesem Augusttag und auf ihren Hunger. »Ich muss los.«

Erst nach drei Versuchen sprang der Motor ihres Wagens an. Die Bremsen quietschten, als sie an der Parkplatzausfahrt halten musste, um zu warten, bis sie sich in den fließenden Verkehr einordnen konnte. Stotternd fuhr das Auto los. Bei jeder Erschütterung hüpfte sie auf dem Sitz auf und ab, weil die Federung genauso kränkelte wie der Rest des Fahrzeugs.

Tamica verspürte keine Erleichterung, von Barry wegzukommen, als sie quer durch die Stadt zu ihren Eltern sauste, denn in einer Stunde würde sie zur Arbeit zurückkehren müssen, außerdem lagen sechzig nervenaufreibende Minuten vor ihr. Vielleicht liebte sie Pflanzen deshalb so sehr, weil sie nicht so anstrengend waren wie Menschen.

 

Das Haus ihrer Eltern war das dunkelste im ganzen Viertel. Es sah aus, als wäre es mit Hundekot beworfen worden, weil die Fassadenfarbe hier und da abblätterte und das vormals Schwefelgelb zum Vorschein kam. Als ein Neuanstrich nicht länger aufzuschieben gewesen war, hatte ihr Vater sich für Pfefferbraun entschieden, weil der Ton ein Ladenhüter und darum im Angebot gewesen war.

Tamica blieb noch ein paar Sekunden hinterm Lenkrad sitzen, seufzte und stieg dann aus.

Kopfschüttelnd ging sie an dem schrottreifen Pick-up-Truck, der im Vorgarten parkte, vorbei. Einst hatte ihr Dad ihn einem Nachbarn für ein paar Dollars abgekauft. Er hatte ihn reparieren, lackieren und für einen satten Gewinn verkaufen wollen. Doch sein Plan war nicht aufgegangen. Er hatte die Reparatur nicht hinbekommen, bestand aber darauf, dass er das eines Tages doch noch schaffen würde. Nun rostete das Fahrzeug auf der Wiese vor dem Eingang traurig vor sich hin. Dass alle vier Reifen platt waren, war jedoch neu.

Ihr Magen knurrte, als Tamica eintrat. Der Duft von Makkaroni und Käse floh aus der Vordertür ins Freie. Liebend gern wäre sie ihm gefolgt, denn Ärger war vorprogrammiert.

Kapitel 2

Tamica

Sie fand ihre Eltern in der kleinen Siebzigerjahresküche. Ella Bishop saß an dem verschrammten Resopaltisch in der Mitte des Raums und schob zerstreut die Medikamentenpackungen und Pillendöschen vor sich hin und her. »Da bist du ja endlich, Schatz.«

»Wird auch Zeit.« Elijah Bishop, der am Herd stand und mit einem Kochlöffel in einem großen Topf rührte, drehte sich zu ihr um. »Du bist spät.«

»Ihr wisst doch, dass ich nicht auf die Minute genau immer zur selben Uhrzeit Pause machen kann. Ich versuche es, aber es klappt nicht immer.« Bevor ihr Dad fortfahren konnte, sich zu beschweren, fragte sie: »Was machst du hier? Musst du nicht arbeiten?«

»Deine Mom hat mich angerufen. Sie hatte Hunger und keine Kraft, selbst zu kochen.«

Tamica schaute zu der Küchenuhr mit dem vergilbten pastellblauen Plastikgehäuse, die über der Tür hing und bei jeder Bewegung des Zeigers ein Klacken von sich gab. »Ich war doch fast pünktlich.«

»Schau nur!« Mit leidvoller Miene hob ihre Mutter eine Hand hoch. »Ich zittere schon. Mein Blutzuckerspiegel ist im Keller. Ich traue mich nicht einmal mehr aufzustehen, weil ich Angst habe, dass mich schwindelig werden und ich hinfallen könnte.«

»Deinetwegen musste ich bei Walmart lügen, Tammy.« Elijah Bishop rümpfte die Nase und legte ein sternenförmiges Häkeldeckchen in den Farben der Nationalflagge auf den Tisch. »Hab erzählt, es gäbe einen Notfall, und ich müsste dringend nach Hause. Johnny, der Vorarbeiter, hat mir das nicht abgenommen. Hat ein Heidentheater gemacht. Dann müsse er die ganzen Gemüsekisten allein von den angelieferten Paletten ins Lager räumen, hat er geschimpft. Am Ende hat er mich trotzdem gehen lassen.«

»Mom hätte doch selbst eine Kleinigkeit zubereiten können.« Trotz regte sich in Tamica. Es kostete nicht viel Mühe, eine Packung Nudeln in heißes Wasser zu geben und Instant-Käsepulver anzurühren, wie ihr Dad es getan hatte.

»Was soll sie denn noch alles machen? Siehst du nicht, dass sie auf dem Zahnfleisch geht? Willst du etwa, dass sie unter der Last zusammenbricht?«

»Natürlich nicht, Dad.«

»Das Kochen wäre deine Aufgabe gewesen, so war es abgesprochen.«

Um die Diskussion abzuwürgen, da sie zu nichts führte, entschuldigte sie sich für die Verspätung und ballte hinter dem Rücken eine Faust.

»Geh nicht so hart mit ihr ins Gericht!« Ihre Mutter schob die Ärmel ihres Morgenmantels hoch und gab den Blick auf ihre sehnigen Unterarme frei. Doch der rosafarbene Frotteestoff rutschte sofort wieder herunter, weil das Kleidungsstück ihr zu groß geworden war. »Dafür kommst du doch bestimmt heute Abend noch einmal vorbei, nicht wahr, Tammy?«

Egal, was sie machte, es war nie genug. Genervt massierte Tamica ihre geschlossenen Lider. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde.«

»Für deine Familie wirst du wohl ein paar Minuten übrig haben«, stichelte ihr Dad weiter.

»Ich komme doch jeden Mittag.«

»Aber nur kurz.«

»Fast eine ganze Stunde«, stellte sie klar. Nur mühsam unterdrückte sie ihre Verärgerung. »Meine Kollegen verbringen ihre Pausen in Schnellimbissen, lassen sich Speisen servieren und plaudern und lachen, und ich komme zu Mom und bereite unter Zeitdruck Essen für alle zu.«

»Das wissen wir auch zu schätzen.« Sachte tätschelte er ihre Schulter und lächelte das erste Mal seit ihrer Ankunft.

Ihre Wut wuchs. »Am Wochenende helfe ich Mom, eure Wäsche zu waschen und das Haus zu putzen. Wann soll ich mich denn mal ausruhen?«

»Deine Mutter hat auch keine Sekunde für sich. Sie opfert sich für diese Familie auf.« Geräuschvoll stellte ihr Vater den Topf auf den Tisch. »Sie hat ihren Job im Büro der Bayern-Brauerei aufgeben müssen und ist seitdem nicht einmal krankenversichert, weil dafür kein Cent übrig ist. Sie hat ihr Auto verkaufen müssen …«

Das alles lag schon sechzehn Jahre zurück. Tamica verdrehte die Augen. »Ich bringe sie doch überall hin, wenn du nicht da bist. Und wenn du sie fährst, bleibe ich hier und passe auf.« So oder so wurde sie eingespannt, und das war das Problem. Selbstverständlich nahm sie ihre Pflichten ernst. Sie wollte ihre Eltern ja nicht allein mit ihren Sorgen lassen. Allerdings brauchte sie dringend Erholung und vor allen Dingen ein eigenes Leben. Außerdem fragte sie sich, wann zur Abwechslung einmal ihr geholfen wurde.

Während ihr Vater zwei Teller auf dem Tisch verteilte und eine Müslischüssel neben den Brustlatz, der auf der Arbeitsfläche lag, stellte, sah er Tamica vorwurfsvoll an. »Sie bekommt Kleidung von der Kirche und schämt sich in Grund und Boden, weil ihr vorn ein Zahn fehlt. Alle können die Lücke sehen. Aber eine Brücke oder ein Iplatat, oder wie das heißt, ist nicht drin. Du bist unsere einzige Tochter. Sollen wir etwa Fremde bitten, uns zu unterstützen?«

Sie hätte erwidern können, dass sie sich auch schon eine Ewigkeit kein neues Oberteil mehr gekauft hatte – und wenn sie das tat, dann nur vom Wühltisch –, aber sie wusste, dass das nichts gebracht hätte. »Natürlich nicht.«

»Wir kommen finanziell vorn und hinten nicht zurecht, und dir geht es doch gut.« Elijah Bishop sah sie mit großen traurigen Augen an. »Kannst du uns nicht wenigstens zwanzig Dollar mehr pro Woche geben? Tammy, ich bitte dich.«

Tamicas Blick glitt über die Medikamente. Das schlechte Gewissen brannte schmerzhaft in ihr. »Das geht leider nicht. Ich könnte meine Rechnungen nicht mehr bezahlen.«

»Dann musst du eben wieder bei uns einziehen, das wäre sowieso besser, nicht wahr?« Sanft berührte ihre Mutter Tamicas Arm. Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Wir könnten unser Geld zusammenwerfen – wie früher. Somit hätten wir ein doppeltes Einkommen, aber nur Ausgaben für einen Haushalt. Außerdem bräuchtest du nicht mehr durch die ganze Stadt zu fahren, um uns täglich zu besuchen. Das würde dich weniger Sprit kosten, und du hättest mehr Zeit für uns.«

Auf keinen Fall! Tamica war froh, diesem Gefängnis, dieser Gruft, vor einem halben Jahr entkommen zu sein, als ihr Großvater verstorben war und ihr sein Häuschen vererbt hatte. Paul Bishop war der Einzige aus der Familie gewesen, der bemerkt hatte, wie sehr sie unter der schwierigen Situation zu Hause litt.

Die Augen ihres Vaters leuchteten. »Wenn wir Grandpas Haus verkaufen würden …«

»Mein Haus«, stellte Tamica klar.

»Das würde viel Geld bringen.«

»Es ist eine Bruchbude.« Selbst in ihren Ohren klang sie verzweifelt. »Es wäre schwer, überhaupt einen Käufer zu finden. Grandpa Paul hat doch kaum etwas daran gemacht.«

»Das Häuschen liegt aber zentral.« Ihr Dad rieb sich die Hände. »Lass mich nur machen!«

»Nein«, sagte Tamica entschieden. »Ich will dort nicht weg.«

»Sind wir dir etwa nicht mehr gut genug? Schämst du dich für uns, bist du darum bei der erstbesten Gelegenheit ausgezogen?«

»Ich bin erwachsen und brauche mein eigenes Reich.«

»Darum willst du also nicht mehr nach Hause kommen …«, Ella Bishop schluchzte leise. »Weil wir im Armenviertel von Missoula leben.«

»Nicht doch, Mom.« Tamica ging zu ihrer Mutter, die zu weinen angefangen hatte. Obwohl ihre Eltern stets dasselbe Theaterstück aufführten, drückte Tamica den Kopf ihrer Mutter an ihren Bauch und strich ihr über das schwarzbraune Haar, das bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen war.

Zwischen ihr und ihren Eltern lief der Streit immer gleich ab. Erst bombardierte ihr Vater sie mit Vorwürfen und zählte ihr auf, was für ein hartes und entbehrungsreiches Leben sie führten. Und falls Tamica dann nicht klein beigab, ließ ihre Mutter reichlich Tränen fließen. Dabei tat diese keineswegs melodramatisch, sondern gab das hilflose Häufchen Elend.

Am Ende gewannen ihre Eltern jedes Mal. Tamicas schlechtes Gewissen wog bleischwer, daher fügte sie sich in ihr Schicksal, so auch heute. »Also gut, ich werde nach Feierabend noch einmal reinschauen, aber nur kurz, denn zu Hause wartet ein Berg Wäsche auf mich.«

»Danke, Tammy. Du bist Gold wert.« Elijah drückte sie herzlich an sich. Dann füllte er Dr. Pepper in die Schnabeltasse und stellte sie neben den Latz. Zärtlich küsste er seine Frau auf die Wange. »Ich muss wieder los.«

»Isst du denn nicht mit uns, Dad?« Darum hatte er also bloß zwei Gedecke aufgelegt, wurde Tamica klar.

»Keinen Hunger.« Er lächelte verlegen, drückte gefühlvoll ihren Arm und schlurfte hinaus.

Tamica wusste, dass er log, denn sie hatte seinen Magen knurren hören. Genauso wie ihre Mutter war er nur noch Haut und Knochen. Offenbar sparten die beiden am Essen, was ihr zeigte, wie schlecht ihre finanzielle Lage war.

Sie holte zehn Dollar aus ihrer Geldbörse und legte sie hinter dem Rücken ihrer Mutter auf die zerkratzte Arbeitsfläche neben die elektrische Doppelkochplatte, die sie ihnen vor drei Monaten geschenkt hatte, nachdem der Herd kaputtgegangen war. Mehr konnte sie beim besten Willen nicht abzweigen.

Konzentriert sortierte Ella eine Tablette nach der anderen in die Sieben-Tage-Pillenbox ein. »Willst du denn keine Makkaroni mit Käsesoße, Tammy?«

»Es ist schon spät. Ich möchte noch kurz bei Jay reinschauen und muss dringend zurück zur Arbeit.« Zurück zu Barry. Durch die Aussicht schwand ihr Appetit. Der wahre Grund jedoch, warum sie das Mittagessen ausschlug, war ein anderer. »Dad soll meine Portion heute Abend essen.«

»Du weißt doch, wir werfen nichts weg.« Ihre Mutter tätschelte ihre Hand und lächelte sie dankbar an.

Tamica verabschiedete sich. Resigniert machte sie ihre Stippvisite bei Jay und ging dann zu ihrem Auto. Ihr Automatikgetriebe bockte mal wieder, sodass Tamica beide Hände benötigte, um von der Parkposition in den Drive-Modus zu schalten. Mit Magenschmerzen machte sie sich auf den Rückweg zum »The green thumb«. Wenn sie an einer roten Ampel halten musste, zitterte ihr Wagen wie ein altersschwacher Mensch, dem jeder Schritt Mühe bereitete.

Sie wusste, dass sie zu viel mit sich machen ließ. Aber beruflich wie privat fehlte ihr die Kraft dazu, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Es gab einige Energievampire in ihrem Leben, aber sie kam einfach nicht gegen sie an.

Plötzlich geschah etwas mit ihrem Wagen. Sie konnte nicht genau sagen, was gerade passierte, aber sie wusste instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Er fühlte sich anders an. Zudem drangen ungesunde Geräusche unter der Motorhaube hervor. Tamica hörte eine Art Schnarren, ein Schleifen und ein Klopfen.

Im nächsten Moment gab ihr Fahrzeug den Geist auf. Der Motor erstarb. Nichts ging mehr. Tamica schaffte es gerade noch, den Lenker herumzureißen, sodass ihr Auto in eine Parkbucht am Straßenrand rollte.

Bestürzt versuche sie, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie hatte kein Geld für einen Abschleppdienst und erst recht nicht für eine teure Reparatur. Was sollte sie nur machen? Warum hatte sich die Welt nur gegen sie verschworen?

Kapitel 3

Tamica

Die Gäste des Bistros, vor dem sie zum Stehen gekommen war, gafften sie durch die Fenster hindurch an. Tamica kam sich vor wie ein Affe im Zoo. Hitze schoss ihr in die Wangen, als sie ausstieg und sich umsah. Am Ende des Blocks erspähte sie eine Autowerkstatt. Auf einem Schild am Tor stand »Gavin’s Garage«. Ihre Laune erhellte sich.

In Windeseile lief sie hin. Da die Werkhalle offen stand, hastete sie gleich durch das geöffnete Tor, anstatt ins Büro zu gehen. Schweißgebadet kam sie an. Dreißig Grad Celsius und ein Dauerlauf schlossen sich ihrer Meinung nach eigentlich aus, aber sie hatte die Zeit im Nacken. Ihre Mittagspause war inzwischen vorbei. Sie würde jetzt schon zu spät zurück zur Gärtnerei kommen.

»Entschuldigung«, rief sie den beiden Männern in schwarzen Arbeitslatzhosen mit dem Logo des Betriebs, einem roten Monster Truck inmitten eines brennenden Reifens, auf der Brust zu. Sie standen neben einem aufgebockten Pick-up-Truck und lästerten über die letzten Football-Ergebnisse der Montana Grizzlies. Obwohl die beiden sie bemerkten, plauderten sie weiter, als wären sie noch immer allein. Sie keuchte. »Ich benötige dringend Ihre Hilfe.«

Die Kerle drehten ihr den Rücken zu. Der Kleinere von beiden sagte: »Ich muss kacken, Chef«, ging quer durch die Halle und verschwand durch eine Tür. Fassungslos schaute Tamica ihm hinterher.

Wie unfreundlich! Sie schnaubte.

Der Größere war offenbar der Besitzer. Er schob die Träger seines Mechanikeranzugs über die Schultern und das Oberteil bis zu den Hüften hinunter, sodass es über seinem Hintern herabhing. Anders als sein Kumpel trug er kein T-Shirt darunter. Während er Werkzeuge in einen Rollcontainer räumte, beobachtete Tamica, wie sich sein Stiernacken hob und senkte. Mittelblonde Haare wuchsen auf seinem Rücken, die ebenso kraus waren wie die auf seinem Kopf.

Sie räusperte sich. »Mir läuft echt die Zeit davon.«

Der Bulle drehte sich zu ihr herum. Er musterte sie von oben bis unten. »Is’ das mein Problem?«

Im ersten Moment war sie so baff, dass sie nicht antworten konnte. Schließlich sagte sie verunsichert: »Nein, das … nicht, aber … ich bin liegen geblieben, nicht weit von hier.«

»Melden Sie sich im Büro an!«

»Sie müssen meinen Wagen abschleppen, bitte. Er steht vor dem Bistro in Ihrer Nachbarschaft und fährt keinen Millimeter mehr.«

»Bestimmt haben Sie den nur abgewürgt. Das kommt bei Frauen oft vor, wenn sie vor einer Ampel halten müssen. Kaufen Sie sich einen Automatikwagen! Ich kann Ihnen günstig einen besorgen.«

»Ich habe bereits einen.« Feindselig blinzelte sie ihn an.

»Wie die meisten Frauen«, er grinste abfällig, »weil das einfacher zu fahren ist.«

»Wie die meisten Amerikaner«, stellte sie richtig. Nervös schaute sie auf die Uhr. »Ich muss dringend zur Arbeit.«

»Nicht mein Problem, Lady.«

Entgeistert sah sie ihn an. »Also werden Sie mir nicht helfen?«

Seufzend schritt er an ihr vorbei hinaus auf die Straße, und zwar so dicht an ihr vorbei, dass sie zur Seite treten musste, weil er sie sonst angerempelt hätte. Er zog einen Gestank aus Schweiß und Motorenöl hinter sich her.

Um nicht aus der Haut zu fahren, knüllte sie das Papiertaschentuch, das sie in der Hosentasche trug, so fest zusammen, wie sie nur konnte. Rasch eilte sie hinter Gavin her und zeigte die Straße entlang. »Es ist der Senfgelbe ganz da hinten.«

»Das sieht euch Frauen mal wieder ähnlich.« Gavin schnaubte. »Kennt nur die Farbe eurer Karre, mehr nicht.«

Erbost nannte sie ihm Marke, Baujahr, einige Eckdaten, die im Fahrzeugschein aufgelistet waren, und das genaue Datum, wann sie den Pkw von einem Bekannten übernommen hatte. Sie ärgerte sich noch mehr über ihn, als sie es ohnehin schon tat, als er sich vollkommen unbeeindruckt gab. Hätte sie das nötige Geld für einen Abschleppdienst gehabt, hätte sie sich eine andere Werkstatt gesucht, aber den Luxus konnte sie sich nicht leisten. Also behielt sie ihre Verärgerung für sich.

»Offenbar gibt es eine Ausnahme von der Regel, und die steht direkt vor mir.«

In Tamicas Ohren klangen seine anerkennenden Worte spöttisch. »Ich bin die Regel. Sie haben lediglich Vorurteile.«

»Das sind Erfahrungswerte. Außerdem fühlen sich Frauen immer schnell angegriffen. Immer cool bleiben, Lady!« Er riss die Arme hoch und zeigte ihr seine ölfleckigen Handflächen. »Ich hol den Wagen in meine Werkstatt und schaue ihn mir an. Kommen Sie heute Abend vorbei, bis dahin weiß ich mehr.«

Alles in ihr sträubte sich dagegen, aber sie gab ihm dennoch ihren Autoschlüssel und ihre Papiere.

Ohne sich zu verabschieden, ging er zurück in die Halle und ließ sie stehen. Weil sie kein Geld für eine Taxifahrt ausgeben wollte und keinen blassen Schimmer hatte, wo die nächste Bushaltestelle war, lief sie zurück zur Arbeit. Dass sie wütend auf diesen widerlichen Gavin war, half ihr. Sie stellte sich vor, ihn mit jedem Schritt in den Boden zu stampfen, und kam dadurch schnell voran. Trotzdem war sie viel zu spät. Sie hatte zwar von unterwegs in der Gärtnerei angerufen und Bescheid gegeben, aber Barry erwartete sie bereits.

Er stellte sich breitbeinig vor sie hin und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. »Du bist eine ganze Stunde überfällig, das ist selbst für dich ein Rekord.«

»Es tut mir leid. Hat Patty dir nicht mitgeteilt, dass ich mit dem Auto liegen geblieben bin?«

»Doch, aber das ändert nichts daran, dass du die Fehlzeit nacharbeiten musst.«

»Selbstverständlich.«

»Ich werde extra wegen dir heute Abend länger bleiben müssen, um hinter dir abzuschließen.« Während er sie von oben bis unten musterte, kraulte er seinen Bart. »Wie willst du das wiedergutmachen?«

Ihr rutschte das Herz in die Hose. Unter keinen Umständen wollte sie mit ihrem Arbeitgeber allein im Geschäft zurückbleiben. »Heute geht es nicht. Ich muss zur Werkstatt laufen und dort sein, bevor sie schließt, um zu erfahren, ob mein Wagen repariert werden kann.«

»Das kannst du morgen in deiner Mittagspause erledigen.«

»Barry, nun komm schon! Sei nicht so, ich bitte dich. Ich brauche mein Fahrzeug.«

»Es fahren Busse in Missoula.«

»Aber nicht bis raus zu meinen Eltern.« Diese würden nicht begeistert sein, wenn sie hörten, dass sie abends doch nicht noch einmal bei ihnen vorbeischauen konnte. Tamica war froh darüber, eine Ausrede zu haben. Ihr graute jedoch schon von den Vorwürfen, die sie sich gewiss würde anhören müssen.

Barry genoss sichtlich, dass sie ihn anbettelte, und er schwieg, vermutlich damit sie fortfuhr. »Du weiß doch, dass ich meine Mom unterstützen muss, weil mein Dad viel arbeitet und darum selten zu Hause ist. Ich muss sie zum Supermarkt und zu den Ärzten fahren.« Es bereitete ihr Bauchschmerzen, abhängig von seinem guten Willen zu sein. »Es könnte ein Notfall eintreten wie der kurz vor Weihnachten letzten Jahres.«

Er setzte dieses schmierige Grinsen auf, das sie an ihm so verabscheute. »Du bleibst ein Problemfall. Ständig ist etwas anderes bei dir.«

Damit hatte er leider recht. Und dieser Tag war sogar noch schlimmer als alle anderen. Was hatte sie nur verbrochen? Es war erst früher Nachmittag, aber am liebsten hätte sie sich zu Hause ins Bett verkrochen, die Decke über den Kopf gezogen und wäre erst nächsten Monat wieder aufgestanden.

»Aber ich will kein Unmensch sein, Tamica. Du darfst pünktlich Feierabend machen, um deine Angelegenheiten zu regeln …«

»Oh danke«, stieß sie erleichtert aus.

»Wenn du mir einen Kuss gibst.« Ein Sonnenstrahl fiel auf seinen Bart und ließ die rostbraunen Farbpigmente funkeln wie Blutstropfen.

Ihre Freude verpuffte. Sie hoffte, sich verhört zu haben, leider war das nicht der Fall. Sie widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzuweichen, um Abstand zwischen sich und ihn zu bringen. Entrüstet sagte sie: »Du bist mein Boss.«

»Dein großzügiger Boss.« Mit der Zungenspitze fuhr er über seinen Eckzahn, der um einiges dunkler war als seine restlichen Zähne. Nikotingelber Belag zeugte davon, dass er viel rauchte. »Hab dich doch nicht so!«

»Nein.«

Er trat dicht an sie heran. »Es handelt sich doch nur um einen kleinen Kuss. Die Franzosen machen das ständig.«

»Das geht zu weit.« Sie versuchte, ihn wegzudrücken, aber er stand vor ihr wie eine unüberwindbare Mauer.

Plötzlich schnellten seine Hände nach vorn. Sie packten ihre Schultern und hielten sie fest. »Wir sind doch Freunde, nicht wahr? Unter Freunden dankt man sich schon mal auf diese Art und Weise. Das ist doch ganz harmlos.«

Glaubte er etwa, sie wäre ein Kind, das er nach Belieben manipulieren konnte? Aufbrausend machte sie sich von ihm los. »Du überschreitest eine Grenze.«

»Und du vergisst wohl, wen du vor dir hast. Ich bin derjenige, der deine Gehaltsschecks zahlt. Wirklich, Tamica«, warnend blinzelte er sie an, »du solltest netter zu mir sein.«

Kapitel 4

Tamica

»Alles okay bei euch?«

Patty schaute um die Ecke. Es wirkte lässig, wie sie gegen die Zigarettenschachtel in ihrer Hand schlug, bis ein Glimmstängel halb herausrutschte und sie die Fluppe herausziehen konnte, doch ihr Blick verriet, dass sie beunruhigt war.

Dankbar lächelte Tamica sie an und nickte ihr zu. Mit angehaltenem Atem beeilte sie sich, von Barry wegzukommen, solange die Kollegin noch in der Nähe war, weil sie wusste, dass ihr Chef sich am Riemen reißen würde. In Anwesenheit von Zeugen hatte er sie noch nie angemacht.

 

Die Nachmittagsschicht war ein Spießrutenlauf. Sie wich Barry, so gut es ging, aus und stellte sicher, dass sie niemals allein war. Als der Feierabend kam und die Kollegen die Gärtnerei verließen, schlüpfte sie mit ihnen aus dem Personalausgang.

Sie wusste, das würde Ärger geben, schließlich würde sie die Zeit, die sie mittags länger Pause gemacht hatte, nachholen müssen. Mit einem Kuss hätte sie sich freikaufen können, doch den hatte sie ja verweigert. Doch sie hätte eher mit dem Teufel getanzt, als mit ihrem Chef zurückzubleiben.

Sie wusste nicht, wie lange sie sich noch gegen seine Annäherungsversuche wehren konnte. Bestimmt war er sauer auf sie, und das machte ihn unberechenbar. Am heutigen Abend durfte sie das Risiko auf keinen Fall eingehen, die Zeit, die sie durch den Autoschaden verloren hatte, nachzuarbeiten. Er wurde immer zudringlicher. Seine Geduld nahm ganz offensichtlich ab.

 

Auf dem Fußweg zu »Gavin’s Garage« suchte sie auf ihrem Smartphone im Internet mal wieder nach Stellenanzeigen, fand jedoch keine, die auf ihre Qualifikationen passten oder genug Geld eingebracht hätten.

Halte noch etwas durch, nur noch ein bisschen länger, redete sie sich gut zu. Sie würde sich ab sofort noch intensiver darum bemühen, einen neuen Job zu finden. Denn ihre Nerven lagen blank. Die Hand, in der sie das Mobilfunktelefon hielt, zitterte, und sie stolperte beinahe über ihre eigenen Füße, so eilig hatte sie es, Abstand zwischen sich und die Gärtnerei zu bringen.

Dunkle Wolken zogen auf. Blitze zuckten über dem Blue Mountain. Eine Böe schob die Pommes-Tüte eines Fast-Food-Restaurants über den Gehweg, aber sie brachte keine kühle Luft mit sich. Vielmehr wurde es stickig in der Stadt. Die Atmosphäre wirkte mit einem Mal statisch aufgeladen.

Das schienen alle zu merken, denn die Autofahrer wurden ungehaltener. Rücksichtslos versuchten sie, sich vorzudrängeln, obwohl die Straßen durch den Feierabendverkehr verstopft waren. Ein Hupkonzert folgte auf das Nächste. Über dem Bistro, vor dem Tamicas Wagen mittags plötzlich den Geist aufgegeben hatte, jagten zwei Hudsonelstern einen Raben fort, indem sie ihn im Flug immer wieder aggressiv attackierten. Mensch und Tier schienen es zu spüren: In Kürze würde sich ein Sommergewitter über Missoula entladen.

Tamica ging einen Schritt schneller. Hoffentlich würde sie nicht nass werden. Sie hatte ja niemanden, der sie heimbrachte, und musste erst schauen, wo und wann ein Bus abfuhr.

Als sie in der Halle der Werkstatt eintrat, warfen sich Gavin und sein Mitarbeiter Blicke zu und grinsten abschätzig. Tamica ignorierte das und wartete darauf, dass man sich ihr zuwandte, aber das taten die beiden Männer nicht. Sie werkelten weiter an einem aufgebockten SUV herum.

Angesäuert räusperte sie sich. »Haben Sie meinen Wagen schon angeschaut?«

Sie rechnete fest damit, dass Gavin behaupten würde, noch keine Zeit dazu gefunden zu haben, doch er überraschte sie: »Hab ich doch gesagt, und was ich verspreche, halte ich auch.«

»Und?«

»Sie hätten nicht mehr damit fahren dürfen, als der Zahnriemen gerissen ist.«

»Bin ich doch gar nicht.«

»Und warum ist der Motor dann kaputt? Das eine führt zum anderen. Ich sehe doch, dass die Kolben und Ventile hart aufeinandergeschlagen sind.«

»Alles ging ganz schnell. Irgendetwas passierte unter der Motorhaube, und schon lief gar nichts mehr.«

»Sie hätten sofort anhalten müssen.«

»Habe ich gemacht, schon allein, weil der Motor starb.«

»Is’ klar.« Er verzog das Gesicht. »Jedenfalls haben Sie ihn gekillt, so viel steht fest.«

»Das klingt, als würde die Reparatur teuer werden.«

»Der komplette Motor muss ausgetauscht und der Zahnriemen erneuert werden.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Bestürzt schlug sie die Hand vor den Mund.

»Selbst schuld.« Als er mit dem Handrücken durchs Gesicht fuhr, hinterließ er einen Streifen aus Öl auf der Stirn. »Der Zahnriemen muss regelmäßig ausgetauscht werden. Darum hätten Sie sich kümmern müssen und nicht nur Geld für Friseur und Klamotten ausgeben sollen. Auch ein Auto muss gepflegt werden.«

»Bleiben Sie doch bitte sachlich!«

»Meine Empfehlung«, er holte ein benutztes Papiertaschentuch aus der Tasche seines schwarzen Overalls, putzte sich die Nase und zeigte mit dem Schnäuztuch auf Tamica, »nehmen Sie eine Steuerkette anstatt des Kunststoffriemens. Die braucht keine Wartung und hält meistens so lange wie der Motor selbst. Falls sie doch mal kaputtgeht, rasselt sie vorher. Das können nicht einmal Sie überhören.«

»Ich habe nichts überhört und auch nichts ignoriert.« Tamica mahnte sich zur Ruhe. Es nutzte nichts, jetzt auszuflippen, zumal ihr der Kopf schwirrte. Ihr war zum Heulen zumute, aber die Blöße wollte sie sich vor diesem Widerling nicht geben.

»Die Kette kostet aber ’ne Stange Geld. Auch der Rest wird nicht gerade billig werden. Aber so ist das, wenn man nicht vorbeugt. Das rächt sich eben.« Er steckte das Tuch wieder weg und nannte ihr einen ungefähren Preis als Richtwert.

Bestürzt riss sie die Augen auf. Ihr wurde flau im Magen. Ihre Beine waren wie Pudding. »Ist der verhandelbar?«

»Nee, Lady. Das ist das Lehrgeld, das junge Frauen zu zahlen haben«, sagte er in beschwingtem Tonfall und tätschelte sein Bäuchlein. »Lektionen sind immer bitter.«

Konnte es sein, dass er sogar noch etwas draufgeschlagen hatte, weil er sie für dumm hielt? Oder tat sie ihm unrecht, weil sie ihn nicht leiden konnte? Sollte sie zu einer anderen Werkstatt gehen? Dann würde sie erst einen Abschleppdienst bezahlen müssen. Wäre es dort günstiger, oder machte sie sich damit nur noch lächerlicher? »Ich muss darüber nachdenken.«

Unsanft schlug er ihr auf die Schulter. »Daddy wird’s schon zahlen.« Er schlurfte zu einem Stapel Reifen, auf dem eine aufgerissene Kekspackung lag. Selbstgefällig grinsend entnahm er ein Plätzchen und starrte zu ihr herüber, als er es schmatzend aß.

Vor ihrem geistigen Auge zeigte sie ihm den Mittelfinger. In der Realität drehte sie sich auf dem Absatz um, damit er nicht sah, wie aufgelöst sie war.

Sie konnte nichts von ihrem Gehalt sparen. Dafür verdiente sie zu wenig und gab jeden Cent, den sie übrig hatte, ihren Eltern. Und nun das! Wie um alles in der Welt sollte sie die Reparatur bezahlen? Sie brauchte den Wagen, um ihre Mutter zu unterstützen, die unter den gegebenen Umständen auf keinen Fall den Bus nehmen konnte. Ein Krankentransport war ebenso unerschwinglich wie Hausbesuche der Fachärzte. Darum war der Autoschaden eine Katastrophe. Zu allem Übel hatte sie auch noch den Eindruck, dass Gavin ein paar Dollars auf den anberaumten Preis aufgeschlagen hatte, weil sie eine Frau war.

Egal, wie sehr ich mich bemühe, den Kopf über Wasser zu halten, das Leben drückt mich immer wieder runter.

 

Niedergeschlagen suchte sie die nächste Busstation. Jetzt regnete es auch noch. Erst fielen nur einige wenige dicke Tropfen, doch die dunklen Wolken schoben sich bald genau über Missoula und öffneten ihre Schleusen. Schnell war Tamica nass bis auf die Haut.

Sie rettete sich vor dem Schauer, in dem sie in den Bus sprang. Während er sie durch die Stadt fuhr, blitzte und donnerte es um sie herum. Tamica schlang die Arme um sich. Sie konnte kaum etwas durch die Fenster erkennen, weil es so stark schüttete.

Ihr Handy klingelte. Ihre Mutter rief an.

»Auch das noch«, entfuhr es Tamica, dennoch ging sie ran.

»Wann kommst du denn, Tammy?«, drang es durch die Leitung. Kein Hallo, keine einleitenden Worte.

»Gar nicht, Mom. Es tut mir leid.«

»Dich wird ja wohl das bisschen Regen nicht abschrecken.« Ihre Mutter lachte verlegen.

»Das ist es nicht. Ich bin mit dem Wagen liegen geblieben.«

»Oje. Geht es dir gut?«

»Mir ist nichts passiert. Mach dir keine Sorgen!«

»Dann bist du in einer halben Stunde hier? Oder wird es noch länger dauern?«

»Ich sagte doch schon, dass ich nicht kommen kann. Mein Auto ist in der Werkstatt. Der Zahnriemen ist abgerissen, und der Motor ist defekt.«

»Das hört sich schlimm an. Tut mir leid. Aber du kannst ja ein Taxi nehmen.«

»Dafür habe ich kein Geld.« Tamica hauchte die Scheibe an und schrieb mit dem Zeigefinger »Hilfe« auf das beschlagene Glas. »Ich weiß nicht einmal, wie ich die Reparatur bezahlen soll.«

»Aber du gehst doch arbeiten.«

»Ich habe laufende Kosten und gebe euch regelmäßig etwas von meinem Lohn ab, mehr, als ich mir eigentlich leisten kann, wenn ich ehrlich bin.«

»Soll das etwa ein Vorwurf sein?«

»So war das nicht gemeint.«

»Das haben wir nicht verdient. Wirklich nicht, Tammy. Wir tun alles für euch Kinder. Wir schnüren den Gürtel so eng, dass wir kaum noch Luft bekommen. Unser Kühlschrank ist leer. Unsere Kleidung hat Löcher, und trotzdem tragen wir sie weiter. Hast du eine Ahnung, wie peinlich mir das ist?« Ella Bishop klang weinerlich. »Dein Dad hat sich im letzten Monat einen eitrigen Zahn selbst gezogen, weil ein Zahnarztbesuch einfach nicht drin war. Hast du eine Ahnung, wie er geschrien hat?«

»Ich weiß, Mom. Die Zeiten sind schwer für euch.« Weil Tamica durch die nasse Kleidung fror, rieb sie mit der freien Hand ihren Oberarm. »Aber eben auch für mich, durch den Autoschaden mehr denn je.«

»Du bist wenigstens nur für dich allein verantwortlich.«

Wie gut ich’s doch habe, dachte Tamica sarkastisch. Ihre Haltestelle wurde aufgerufen. »Ich muss Schluss machen.«

Als sie ausstieg, regnete es etwas schwächer, aber trotzdem noch so stark, dass sie sich ständig über die Augen wischen musste, um klar sehen zu können.

Das Wetter passte zu ihrer Laune. Auf der einen Seite hätte sie am liebsten losgeheult, auf der anderen war sie wütend auf Barry, Gavin und ihre Eltern. Alle warfen ihr Steine in den Weg. Sie machten ihr das Leben schwerer, als es ohnehin schon war.

Sehnlichst wünschte sie sich jemanden, der ihr die Last von den Schultern nahm, der ihr beistand, Kraft schenkte und die Hürden aus dem Weg räumte.

»Wo bist du?«, fragte sie und verspürte eine brennende Einsamkeit. Sie fühlte sich allein gelassen und ausgelaugt. Und je schwächer sie wurde, desto mehr ließ sie mit sich machen, weil sie keine Energie übrig hatte, um sich zu wehren. Wie konnte sie diese Abwärtsspirale bloß stoppen?

Durchdrungen von dem Verlangen nach einem Liebhaber, mehr noch nach einem Lebenspartner, der für sie da war, ihr den Rücken stärkte, den Alltag mit ihr teilte und sie körperlich liebte, schloss sie ihre Haustür auf.

Sie trat ein und sah, dass es von der Decke tropfte. Es musste kräftig durchs Dach in die Zwischendecke hereinregnen. Von dort sickerte das Wasser durch die total verzogenen Bretter. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund und fing an zu weinen.

Das nicht auch noch! Sie war verzweifelt und schluchzte bitterlich.

Kapitel 5

Tamica

Das ehemalige Haus ihres Großvaters war alt und renovierungsbedürftig. Der Flachbau knarrte und ächzte bei jedem Windzug. Im Sommer stand die Hitze in den Zimmern, und im Winter war es trotz Heizung kalt. Nun hatte die Dachpappe wohl ausgedient. Tamica musste sie dringend austauschen. Bloß, wovon?

Das Schicksal schien sich gegen sie verschworen zu haben. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. Langsam wurde sie stinksauer. Vor Wut kochte das Blut in ihren Adern, so fühlte es sich jedenfalls an.

Warum ich? Wieso kommt alles auf einmal? Aus voller Kehle schrie sie: »Mir reicht’s!«

Nachdem sie einen Eimer unter das stetig tropfende Wasser gestellt und das restliche Haus nach weiteren Schwachstellen abgesucht hatte, sprang sie unter die Dusche, aber das Wasser konnte die Frustration nicht abspülen.

»Ich muss hier weg«, sagte sie zu sich selbst. Am liebsten wäre sie vor ihrem Leben davongelaufen. Da das unmöglich war, beschloss sie, ordentlich einen draufzumachen. Sie wollte wenigstens für eine Nacht ihre Sorgen vergessen. Tanzen half ihr. Flirten auch. Und Alkohol, auch wenn ihr Portemonnaie nicht viel hergab.

Hastig zog sie Jeans-Hotpants und ein enges schwarzes Spaghetti-Top an, toupierte ihre schwarzen Haare, damit sie nicht ganz so traurig herabhingen, wie Tamica sich fühlte, und trug das neu gekaufte apricotfarbene Rouge und passendes Lipgloss auf.

Aufgebracht verließ sie das Haus. Graue Wolken hingen tief über Missoula. Es herrschte ein merkwürdiges Zwielicht, als hätte die Dämmerung bereits eingesetzt, doch dafür war es noch zu früh am Abend. Glücklicherweise hatte es aufgehört zu schütten, aber die Gehwege waren nass und rutschig, und Tamica musste Pfützen ausweichen. Ihre Turnschuhe quietschten leise, weil sich die Sohlen langsam ablösten, sich Luft zwischen den Lagen sammelte und bei jedem Schritt herausgedrückt wurde.

Weit musste Tamica nicht gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Das »Grizzly puddle« war nicht gerade die Art von Lokal, die sie üblicherweise besuchte, aber die Bar war nur zwei Blocks entfernt und bot eine After Work Happy Hour, wie sie einst beim Vorbeifahren einem Plakat entnommen hatte.