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ISBN 978-3-95845-764-5
1. Auflage 2015

www.mitp.de

© 2014 mitp-Verlags GmbH & Co. KG

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Übersetzung der englischen Originalausgabe:
Michael Freeman: Capturing The Moment.
The Essence Of Photography
© 2014 The Ilex Press Limited

First published in the UK by Ilex

Übersetzung: Claudia Koch
Lektorat: Katja Völpel

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INHALT

EINFÜHRUNG

1 KAMERAARBEIT

Die Grundlagen des Fotografierens, wenn die Zeit knapp ist und Zeitfragmente ins Bild eingebettet werden; angefangen mit den Vorbereitungen, einem Einblick in das, was der Moment bringen kann, Fotostile und -techniken und die entscheidende Rolle der Bildbearbeitung.

DIE GESCHICHTE DES MOMENTS

EINEM MOMENT DEN VORRANG GEBEN

DER VIDEOCLIP-ANSATZ

DRINGLICHKEIT, PRÄZISION, GESCHWINDIGKEIT

DIE DREI STILE DER KAMERAARBEIT

KÖRPERHALTUNG

GESTIK

AUSDRUCK

BEARBEITEN

2 MOMENTE IN DER KAMERA

Momente, die vor allem vom Blickwinkel und vom Bildausschnitt abhängen – reserviert nur für die Kamera, unsichtbar für andere.

ALLES PASST ZUSAMMEN

EIN PASSENDER MOMENT

EIN ERWARTETER MOMENTT

EIN GEORDNETER MOMENT

EINE VORÜBERZIEHENDE FIGUR

EINGERAHMTER MOMENT

EIN KOMMENDER MOMENT

EIN SCHWINDENDER MOMENT

EIN SYMMETRISCHER MOMENT

MOMENTE KOMBINIEREN

AKTION ZU FARBE HINZUFÜGEN

SCHICHTEN VERSCHIEBEN

EIN TABLEAU-VIVANT-MOMENT

EIN ERARBEITETER MOMENT

EIN BLINDER MOMENT

EIN GEPLANTER MOMENT

EIN MEHRDEUTIGER MOMENT

3 SCHNELLE MOMENTE

Diese Ereignisse, üblicherweise gemessen in Sekundenbruchteilen, sind die, die wir uns als Momente vorstellen. Sie fordern Antizipation, Erkennen und reflexartiges Fotografieren.

DER KLASSISCHE MOMENT

DER MOMENT IN DER LUFT

STILLSTAND

EIN KNAPPER MOMENT

EIN MOMENT DER INTERAKTION

EIN AUSDRUCKSVOLLER MOMENT

EIN MOMENT DER GESTIK

EIN MOMENT DER HALTUNG

EIN BEWEGLICHES ZIEL

EIN SICH WIEDERHOLENDER MOMENT

MEHRERE MOMENTE

EIN BELOHNTER MOMENT

VON DER SZENE ZUM MOMENT

EIN DETAILLIERTER MOMENT

EIN FORTLAUFENDER MOMENT

EIN ERHOFFTER MOMENT

EIN MOMENT IM MOMENT

4 LANGSAME MOMENTE

Momente, die nach unseren normalen Maßstäben langsam kommen und gehen, dennoch für die Bildgestaltung aber wichtig sind. Diese Momente entfalten sich über viele Minuten oder Stunden, wie der Lauf der Sonne über den Himmel.

EIN AKTIVER MOMENT

EIN MOMENT HINTER DEN KULISSEN

EIN NACHDENKLICHER MOMENT

EIN MOMENT IM DETAIL

EIN KOORDINIERTER MOMENT

EIN KÜNSTLERISCHER MOMENT

EIN FARBIGER MOMENT

EIN WETTERMOMENT

EIN SONNENLICHTMOMENT

EIN LEUCHTENDER MOMENT

SONNENUNTERGANGSMOMENT

EIN SCHATTENMOMENT

EIN BLAUER ABEND

EIN SLO-MO-MOMENT

EIN ERWEITERTER MOMENT

EIN GESAMMELTER MOMENT

INDEX & BILDNACHWEIS

EINFÜHRUNG

»Das ganze Leben besteht aus Erinnerungen, abgesehen von jenem gegenwärtigen Moment, der so schnell vorbeigeht, dass man ihn kaum wahrnimmt.«

TENNESSEE WILLIAMS

Nur eines unterscheidet die Fotografie von jeder anderen Aktivität oder Kunst. Sie zupft einen einzigen Moment aus dem Strom des Lebens und hält ihn für immer fest (oder zumindest, bis Sie ihn wegwerfen). Manche von uns glauben, dass das Festhalten von Momenten das sei, was die Fotografie am besten kann, und man diese Fertigkeit hegen und perfektionieren müsse. Sicher sollte man daran arbeiten, und sei es einfach, weil manche Momente fesselnder sind als andere. Wirklich gute Momente ergeben einprägsame Fotos, und natürlich ist klar, dass manche Bilder deshalb beliebt und berühmt sind, weil der Fotograf das einfangen konnte, was die Fantasie der Öffentlichkeit bewegte. Marilyn Monroes flatternder Rock am Set von Das verflixte 7. Jahr, Robert Capas fallender Soldat, Ansel Adams’ Moonrise, Hernandez und Alfred Eisenstaedts V-J Day in Times Square handeln von diesem Moment.

Allzu leicht könnte man ins Philosophieren geraten, ich jedoch bevorzuge den praktischen Ansatz. Wir alle nutzen jetzt Kameras (selbst wenn viele davon nun auch angerufen werden können), weshalb es bei der Fotografie heutzutage weniger darum geht, still die Bilder anderer Leute zu bewundern, als vielmehr darum, eigene zu machen. Beginnen wir damit, die Texte über den entscheidenden Moment zu entzaubern, die sowieso meist nur endlos Decisive Moment von Henri Cartier-Bresson zitieren. Er meinte, dass es Zeit sei, abzudrücken, wenn im Sucher alles stimmt. Er schrieb: »In der Bewegung gibt es einen Moment, in dem alle Elemente, die sich bewegen, im Gleichgewicht sind. Die Fotografie muss diesen Moment packen und das Gleichgewicht festhalten.« Er meinte damit nicht, dass es in jeder Situation nur einen solchen Augenblick gebe. Schließlich sähen unterschiedliche Leute Dinge auf verschiedene Weisen. Falls Sie sich dessen als Fotograf bewusst sind, gibt es einen Moment, der für Sie genau richtig ist.

Einfach ausgedrückt: Man muss entscheiden, wann man fotografieren sollte, und merken, dass die Dinge, die jetzt im Bild zu sehen sind, besser oder schlechter sein können als in den nächsten Sekunden. Oder Minuten. Die Fristen sind ganz unterschiedlich, von Stunden zu Bruchteilen von Sekunden. Unverändert bleibt jedoch immer der eine Punkt, an dem Sie ein tolleres Bild abliefern als andere. Aber nichts davon bedeutet etwas, wenn es nicht hilft, interessantere Momente festzuhalten. Und mit bestimmten Fertigkeiten und Techniken können wir das erreichen. Deshalb fasse ich meine Nabelschau kurz und konzentriere mich auf die praktischen Aspekte der Aufnahme. Bei den irre vielen Fotos, die aufgenommen werden, ist das umso wichtiger. Eine Schätzung geht für dieses Jahr von einer Billion aus, obwohl ich mich bereits scheue, selbst diese lächerlich große Zahl zu erwähnen, da sie vermutlich schon nicht mehr stimmt. Allerdings werden Bilder beliebiger und uninteressanter, je mehr davon angehäuft werden. Wenn Sie einem Bildermeer gegenüberstehen, müssen Sie härter arbeiten, um eins zu finden, das sich aus der Masse abhebt. Draufhalten und Abdrücken reicht nicht. Das kann die Kamera auch allein. Wenn wir einen Moment in der Zeit visuell für uns beanspruchen wollen, brauchen wir die Fertigkeiten, um ihn zu finden und zu halten.

Zuerst betrachten wir die Kameraarbeit: Wie arbeiten Fotografen mit beliebigen Kameras? Es gibt unterschiedliche Stile, um die besten Momente aufzunehmen. Damit meine ich im Besonderen drei kontrastierende Stile, die viel mit der Persönlichkeit zu tun haben. Ich nenne sie Feuerwehrmann, Baumeister und Scharfschütze. Dann kommt die Art von Augenblick, die ausschließlich und nur in der Kamera existiert und extrem vom Standpunkt eines Fotografen abhängt. Anschließend schauen wir uns schnelle Momente an, für die man Vorahnung und Planung sowie kurze Verschlusszeiten braucht (klingt komisch, ist aber so). Dann folgen langsame Momente, in denen das Tempo der Änderungen in Minuten oder Stunden gemessen wird. Hier müssen Entscheidungen noch sorgfältiger abgewogen werden.

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Die einzigartigen Fähigkeiten der Fotografie

Die Kunst, einen Moment in der Zeit einzufrieren, wurde oft für ihre ästhetischen und philosophischen Implikationen gepriesen. Doch manche Aufnahmen sind noch mächtiger als ein Bild spannungsreicher Action. Das spricht für die künstlerischen Stärken der Fotografie.

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KAMERAARBEIT

Trotz des technisch klingenden Titels handelt dieses Kapitel ebenso von Ideen wie vom Bedienen einer Kamera. Um genau zu sein, sogar viel mehr von dem Ersteren. Vor den mechanischen Fragen wie Belichtungszeit, der Entscheidung für Einzel- oder Serienaufnahmen und anderen Einstellungen kommt das nämlich grundlegende Problem, welche Art von Moment wir suchen. Der Unterschied zwischen dem kontinuierlichen Strom an Aktionen, den wir im Leben sehen und erfahren, und dem starren Ausschnitt, den wir daraus entnehmen, ist riesig und auch nicht vollkommen natürlich. Wir nehmen vermutlich als gegeben hin, dass die Kamera eine unbewegte Version dessen abliefert, was wir sehen, obwohl wir das nicht tun sollten. Manchmal – bei einem eher statischen Objekt wie einem Gebäude, einem Stillleben oder einer Landschaft – geschieht das tatsächlich: Wir erhalten ein Abbild einer Szene, in der nicht viel passiert und Bewegung keine Rolle spielt.

Häufiger jedoch spielt sich vor der Kamera etwas ab, und die Entscheidung, wann man auf den Auslöser drücken sollte, wird sehr wichtig. Manche Aktionen folgen einer Bahn – ein geworfener Ball, ein fahrendes Auto, ein fliegender Vogel. Bahnen kann man folgen, man kann sich auf sie vorbereiten. Andere Dinge geschehen plötzlich, ohne viel Vorwarnung, wie ein Lächeln auf einem Gesicht auf der Straße oder etwas, das auf einmal in Sicht kommt. Hier ist eher Reaktion als Vorahnung wichtig, eine andere Art von Vorbereitetsein. Was bewirkt die Aktion visuell und emotional in der Szene? Ist sie klein genug, um als Einzelelement zu funktionieren oder würde sie in einem engeren Rahmen besser wirken? Was wäre interessanter? Was wäre effektiver?

All diese Entscheidungen – und es gibt viele – beeinflussen, wie die Kamera benutzt werden muss. Die Kameraarbeit umfasst alle Gründe, weshalb Sie den Augenblick festhalten, die Techniken reichen deshalb viel weiter als zur Entscheidung über die passende Belichtungszeit. So untersuchen wir in diesem Kapitel z. B., wann es reicht, wählerisch zu sein, und wann man schnell viele Bilder schießen sollte. Das ist mehr als eine Frage der Quantität, weil es sowohl die Persönlichkeit des Fotografen widerspiegelt als auch die Anforderungen und Möglichkeiten der Situation. Ich teile dies in drei große technische Gruppen ein: Feuerwehrmann, Baumeister und Scharfschütze. Wir schauen uns näher an, was von dem häufigsten Motiv der Fotografie zu erwarten ist – Menschen. Haltung, Gesten und Ausdrücke tragen auf sehr viele verschiedene Arten dazu bei, wie wir vor der Kamera erscheinen. Kameraarbeit reicht schließlich bis in die Bearbeitung, nicht nur, weil Fotografen hier noch einmal ihre Entscheidungen durchleben, sondern weil es sinnvoll ist, schon beim Fotografieren darüber nachzudenken, wie Sie die Bilder später behandeln werden.

EINE GESCHICHTE DES MOMENTS

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Spanien, Madrid, 1933, Henri Cartier-Bresson

Cartier-Bressons am häufigsten reproduzierten Bilder, wie dieses hier – und für viele seine beste Arbeit – stehen voll in der Tradition des frühen fotografischen Surrealismus, trotz Robert Capas späterem Rat, sich lieber der normalen Reportage zuzuwenden. Das ist Surrealismus als eine Art zu sagen: »Schaut, wie interessant und seltsam die ordinäre Welt sein kann, wenn du sie auf meine Weise betrachtest«, und bei Cartier-Bresson bedeutet dies meist einen präzisen und eigenwilligen Moment der Aufnahme.

Schwerpunkte

Das Erbe von »entscheidend«

Einer unter vielen zufälligen Momenten

Das Konzept des Moments ist ungemein wichtig in der Fotografie. Es überrascht daher nicht, dass sich viele Meinungen und Theorien damit befassen. Jeder Kommentator und Autor, der ernstgenommen werden will, hat etwas dazu zu sagen. Henri Cartier-Bresson vertrat mit dem »entscheidenden Moment« die Idee, dass es einen ganz speziellen Moment gibt – tatsächlich stammt die Phrase von Kardinal de Retz (lebte im 17. Jh. und war kein Fotograf), der schrieb: »Nichts gibt es in dieser Welt, das nicht einen entscheidenden Moment hat«. Auf die Fotografie angewandt, wie es Cartier-Bresson 1952 in seinem Buch Images à la Sauvette tat, scheint das völlig adäquat zu sein, eine Ansicht, die sich aus der Vernunft speist. »Der entscheidende Moment« ist schwer zu vermeiden und zu widerlegen, gilt gar als Klischee (das Schicksal aller guten Redensarten).

Das hat natürlich viele nicht davon abgehalten, es zu versuchen, und der billige Journalistenspruch vom »unentschlossenen Moment« ist fast so verbreitet wie das Original und viel lästiger. Er löste im Prinzip eine Jagd nach der Besonderheit des von der Kamera erfassten Moments aus und ist, wenig überraschend, eine Geschichte von Erfolg und Scheitern. In einem erfolgreichen Foto (zumindest in der Art, die vom Timing abhängt) hat der Fotograf es geschafft, einen speziellen Moment zu erfassen, der ihn zufriedenstellt und genügend Leute anspricht, um ein Publikum zu formen. Der Autor und Kritiker John Berger formulierte es 1972 in seinem Essay Understanding a Photograph so: »Ein Foto ist das Ergebnis der Entscheidung des Fotografen, dass es wert ist festzuhalten, dass dieses spezielle Ereignis oder Objekt gesehen wurde. Würde alles Existierende ständig fotografiert werden, dann würden alle Fotos ihre Bedeutung verlieren. Ein Foto feiert nicht das Ereignis oder die Fähigkeit des Sehens selbst. Ein Foto sagt bereits etwas über das Ereignis, das es aufzeichnet. Die Dringlichkeit dieser Botschaft hängt nicht vollkommen von der Dringlichkeit des Ereignisses ab, ist aber auch nicht völlig unabhängig davon. Am einfachsten bedeutet die dekodierte Botschaft: Ich habe entschieden, dass es sich lohnt festzuhalten, dass ich das gesehen habe.«

Der andere Teil der Erfolgsgleichung lautet, dass ein Publikum den Moment in dem Foto betrachtenswert findet. Zwischen der Aufnahme und der Darstellung des Fotos online, in einer Galerie oder Publikation gibt es eine wichtige Lücke, in der andere Leute schauen und sich eine Meinung bilden. Und mit dem zunehmend größer werdenden Interesse an der Fotografie wird das Publikum immer größer – und eigensinniger. Der Augenblick, den Sie wählen, verlangt Zustimmung. »Moment mal«, werden Sie vielleicht denken. »Ich mache mir die Mühe, meine Fertigkeiten und meine Beobachtungsgabe zu perfektionieren, damit ich auserlesene Momente aufnehme, und dann hängt es davon ab, ob ein zufälliger Betrachter das wichtig findet?« Nun, die Antwort lautet zunehmend Ja, und es wird immer Uneinigkeit darüber geben, was einen guten Moment ausmacht.

Texte von Fotografen befassen sich meist mit ihrer eigenen Definition vom Moment und sind verständlicherweise eigennützig. So dachte z. B. Arnold Newman, Fotografen sollten nach »Fotos suchen, nicht nach dem entscheidenden Moment. Wenn sie entscheiden, dass die Fotografie bereit für sie ist, dann ist das ein entscheidender Moment. Ob es eine oder zwei Stunden, eine Woche, zwei Sekunden oder eine Zwanzigstel Sekunde dauert – es gibt nicht nur eine richtige Zeit. Es gibt viele Momente. Manchmal nimmt eine Person in einem Moment ein Foto auf, eine andere Person in einem anderen Moment. Das eine muss nicht besser sein als das andere, sie sind einfach verschieden.« Garry Winogrand, in den 1970ern von der New Yorker Kunstszene als eine Art eigenwilliger Straßenfotograf gefeiert, sagte: »Nicht ein Moment ist am wichtigsten. Jeder Moment kann etwas sein.« Das ist irgendwie auch nicht einleuchtender als die meisten seiner Kommentare. In dieser Zeit herrschte eine gewisse »zum Teufel, warum stellst du überhaupt solche Fragen?«-Haltung, und ein Zeitgenosse von Winogrand, William Eggleston (ebenfalls auf der A-Liste des Museum of Modern Art), lieferte eine Antwort, die klang, als hätte er noch nie über das Problem nachgedacht. In einem Fernsehinterview danach gefragt, wonach er beim Fotografieren suche, antwortete er: »Es ist schwer, darauf zu antworten, was ich fotografiere. Und die beste Antwort, die ich bisher gefunden habe, ist ‘das Leben heute’. Keine Ahnung, ob man mir glaubt oder nicht, oder was das [bezogen auf einen bestimmten Text] bedeutet. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, aber das ist heute.« Man sollte wissen, dass Eggleston mehr als die meisten berühmten Fotografen die Meinungen spaltet. Er hat viele begeisterte Unterstützer, denen gefällt, wie er Schönheit im Banalen findet. Interessant für dieses Buch ist die Tatsache, dass Egglestons Definition des Moments »heute« ist, speziell das Heute von Memphis, Tennessee, einer ziemlich langweiligen Stadt, deren Leben er über mehrere Jahrzehnte ausgezeichnet dokumentiert hat. Egglestons Momente sind langsam, womit auch ich mich hier befassen werde.

Das alles sind die Ansichten von Fotografen über den Moment. Die philosophischen Möglichkeiten haben jedoch auch die Aufmerksamkeit einiger Autoren erregt (wenn auch überraschend weniger). Ab den 1920ern waren Film und Objektive empfindlich genug, um Augenblicke effizient einzufangen, und Walter Benjamin brachte 1931 die Faszination zum Ausdruck, die viele verspürten, weil man nun über die normale menschliche Sichtweise hinaus sehen konnte: »… wir haben keine Ahnung, was während dieses Bruchteils einer Sekunde passiert, wenn eine Person tatsächlich einen Schritt macht. Die Fotografie […] enthüllt dieses Geheimnis. Durch Fotografie entdecken wir jetzt die Existenz dieses optischen Unbewussten.«

Susan Sontag und Roland Barthes, die später in diese philosophischen Tiefen abstiegen, sinnierten über die Beziehung des Fotos zur Realität. Sontag schrieb: »Die Kamera macht die Realität atomar, kontrollierbar und undurchsichtig. Es ist eine Sicht auf die Welt, die Verbundenheit, Kontinuität verweigert, aber jedem Moment etwas Mystisches verleiht.« Ihre Idee, dass ein Foto »sowohl eine Pseudopräsenz als auch ein Zeichen von Abwesenheit« ist, findet sich auch beim französischen Kunstkritiker Roland Barthes in seinem »Es ist so gewesen«. Philosophisch ist das tiefer, als die meisten von uns jemals gehen. Er schrieb: »Es gibt hier eine Überlagerung von Realität und Vergangenheit. Und da dieser Zwang nur für die Fotografie existiert, müssen wir sie durch Kürzung als die bloße Essenz, das Noema der Fotografie betrachten«, weil kein anderes Medium oder keine andere Kunst das macht. Ganz einfach weil »dieses Objekt tatsächlich existiert hat und gewesen ist, wo ich es sehe«, ist, laut Barthes, ein gewisser Wahnsinn am Werk. »Die Fotografie wird dann zu einem bizarren Medium, einer neuen Form der Halluzination: falsch auf der Ebene der Wahrnehmung, wahr auf der Ebene der Zeit.«

Sontags »Mysterium« und Barthes’ »Wahnsinn« wurden im letzten originellen Text zum Thema unterhaltsam untersucht – von Geoff Dyer in seinem eigenwilligen The Ongoing Moment. Wie bei Barthes liegt seine Qualifikation in seinem Interesse an Fotografien, nicht in seiner Praxis (er besitzt keine Kamera). Er betrachtet Dekaden (hauptsächlich amerikanischer) Fotografie in Form von seltsamen, idiosynkratischen Themen wie Hüte, Stufen, Parkbänke und Straßen, die auf den Horizont zulaufen. Wenn ich mir diese Art der Klassifizierung von Bildern anschaue und sie mit der Auswahl in meinem Buch vergleiche, merke ich, dass ich offenbar viele Bäume fotografiert habe, ohne darüber bewusst nachzudenken. Viele Fotografen kehren im Laufe der Jahre frappierenderweise und oft unwissentlich immer wieder zu ähnlichen grafischen Momenten zurück. In diesem exzentrischen, aber erleuchtenden Spaziergang durch die Fotografie erkennt Dyer einen zeitgenössischen Ansatz in Bezug auf den Moment an – die Entscheidung des Betrachters. Wer legt fest, dass ein Moment gut und besonders ist? Wer gibt den Segen? Das Publikum.

Schwerpunkte

Ausgedehnte Momente

Die Sicht des Kritikers

Billigung des Publikums

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Marokko, Meknes, Moulay Ismael Mausoleum (Muslimischer Schrein), 1985, Bruno Barbey

Egglestons großartig ausgedehnter Moment, definiert als »Leben heute«, ist in der Geschichte der Fotografie nicht einmalig und hat die gleichen Wurzeln wie die archetypische Form der Bildergeschichte – der wichtigsten Stütze des Fotojournalismus und des Bildbandes. Um den Moment auszuweiten, muss der Fotograf auch die Berichterstattung über viele Bilder ausweiten. Gewiss haben sie einzeln ihr Leben und einen eigenen Reiz, doch zusammen werden sie etwas anderes – eine redaktionelle Sicht. Wenn der Fotograf die Kontrolle hat, wie hier Bruno Barbey, kann diese aufbereitete Konstruktion eine Meditation über einen Ort werden, der sich über einen sehr langen Moment erstreckt. Barbey, langjähriges Mitglied von Magnum, wuchs in Marokko auf und kehrt immer wieder dorthin zurück. Für ihn ist es das Heimatland, er fühlt sich dorthin gezogen: »Ich finde die Gerüche und Farben meiner Kindheit.« Sein Buch My Morocco von 2003 ist eine Sammlung von Bildern aus vielen Jahren, die grafisch und oft indirekt die Komplexität dieses Landes erkundet.

EINEM MOMENT DEN VORRANG GEBEN

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Whitechapel Bell Foundry

In einem Moment geschieht oft mehr als eine Sache, die Sie anspricht. In der Londoner Gießerei, die sowohl die Glocke von Big Ben als auch Philadelphias Liberty Bell gegossen hat, ist der Moment des Ausgießens des geschmolzenen Metalls sicher entscheidend, aber auch vorhersehbar. Weniger offensichtlich, aber ansprechender für das Bild ist die fast schon graziöse Haltung des Gießers, der sein Gesicht von der großen Hitze abwendet.

In der Fotografie gibt es nur wenig, über das man beim Aufnehmen nicht entscheiden muss. Oft scheint es keine Rolle zu spielen und vielleicht gibt es wichtigere Probleme als Bildaufbau oder Licht, aber ein Foto handelt immer von einem Moment, ob es uns passt oder nicht. Fotografen, die vor allem mit schnell ablaufenden Dingen arbeiten, wie in Reportagen, Natur oder Sport, denken besonders oft über den Moment nach, doch gilt es auch für andere Themen. Falls für Sie beim Fotografieren bisher das Timing noch nicht so wichtig war, sollten Sie das jetzt ändern.

Ich glaube sogar, dass es jetzt wichtiger ist als jemals zuvor. Erstens stehen Fotos inzwischen in direkter Konkurrenz zu Videos – schließlich können beide mit derselben Kamera aufgenommen werden, indem man einfach einen anderen Knopf drückt. Dennoch sind die beiden Arten von Bildmaterial grundverschieden. Video zeichnet den kompletten Fluss der Ereignisse auf. Falls Sie einen Moment isolieren wollen, müssen Sie ihn bearbeiten. Ein Foto hält schon bei der Aufnahme den für Sie entscheidenden Moment fest. Diese Wahl lässt sich dann nicht mehr widerrufen. Das zeigt doch den Unterschied, oder?

Schwerpunkte

Entscheidend sein

Besser sein

Immer eine Wahl

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Kutscher, Lord Mayor’s Show, London

Momente können auch inaktiv sein. In den meisten Fotos, die sich auf ein Gesicht konzentrieren, suchen Fotografen nach Ausdruck, also Gefühlen oder Gedanken. Hier hat ein Kutscher, der die Kutsche des Lord Mayor of London betreut und auf den Beginn der Prozession wartet, einen nachdenklichen Moment.

Mit der exponenziellen Zunahme an Fotos und Fotografen stellt sich zweitens die Frage, wie gute Bilder auffallen können. Bei geschätzt einer Billion Bildern in diesem Jahr ist die Frage berechtigt. In eine gute Fotografie fließen viele Zutaten, doch der Moment ist fast immer einmalig. Nur sehr wenige Szenen im Leben wiederholen sich exakt – Leute und ihr Verhalten praktisch nie. Unser Buch handelt davon, den »guten« Moment zu finden. Dazu brauchen Sie Ideen, Urteilsvermögen und Praxis. Es gibt keine Formel, mit der Sie den Zeitpunkt der Aufnahme automatisch so bestimmen, dass Sie und andere hinterher das Gefühl haben, etwas Besonderes zu sehen, etwas, das sich niemals genau wiederholen lässt. Es erfordert Können und Fantasie und am Ende könnte dennoch Uneinigkeit stehen. Bei allen Beispielen in diesem Buch musste zwischen zwei Momenten entschieden werden, und ich zeige sie. Manchmal ist die Wahl offensichtlich, dann wieder nicht. Schärfen Sie Ihr Urteilsvermögen hinsichtlich des Timings und machen Sie es zu einer Priorität. Je mehr Sie das tun, umso leichter fallen Ihnen Entscheidungen über den Moment.

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Pemon-Junge, Canaima, Venezuela

Ein kleiner Junge platscht durch das flache Wasser eines Sees im Bergland von Guayana. In diesem klassischen Moment werden sowohl das auskickende Bein als auch die von hinten beleuchteten Wasserspritzer festgehalten.

DER VIDEOCLIP-ANSATZ

Es gibt eine (soweit ich weiß) anonyme Phrase, die in letzter Zeit herumgegangen ist: »Irgendwann nehmen Fotografen einfach nur noch ein Video auf und schneiden die besten Bilder heraus.« Das ist ein Gedanke, bei dem Fotografen, die sehr auf ihre Ausrüstung fixiert sind, begeistert an bessere Auflösung, mehr Auswahl und ganz allgemein mehr Kram denken. Gewiss, am besseren Ende der Digitalvideo-Branche, bei den 4K- und 5K-Kameras (also mit einer Auflösung von 4.000 und 5.000 Bildzeilen), entspricht die Ausgabequalität inzwischen den Spitzen-DSLRs. Momentan spricht das eher Filmemacher als Fotografen an, weil es dadurch im Prinzip auch für Freiberufler wunderbare High-Definition gibt, die (zumindest gerade so) bezahlbar ist. Und wie das in der Bildbranche so ist, wird sich die Leistung verbessern und die Kosten werden weiter sinken. Bald werden auch Sie diese Möglichkeiten haben.

Doch glaubt irgendjemand ernsthaft, dass man irgendwann keine Einzelbilder mehr aufnimmt, sondern stattdessen ein Video filmt, in dem man dann nach seinem Moment sucht? Offenbar ja. In einem Video verglich der prominente amerikanische Studiofotograf Peter Hurley das Fotografieren eines Models mit seiner gewohnten Hasselblad mit dem Fotografieren mit einer Red Epic – einer 5K-Videokamera. Es ging bei dem Experiment um die Bildqualität (Ergebnis: kein erkennbarer Unterschied), es ergab sich aber auch eine notwendigerweise völlig andere Arbeitsweise. Veröffentlicht auf fstoppers.com, sieht man eine gut gewählte Aufnahmesituation, in der Aktionen nicht mit der Geschwindigkeit olympischen Sports ablaufen. Doch auch in einer Porträtsitzung geht es um Sekundenbruchteile. Wenn Sie filmen und hinterher Bilder auswählen, müssen Sie in der aktiven Aufnahmesituation nicht konzentriert über exakte Augenblicke und den feinen Unterschied zwischen der einen Millisekunde und der anderen nachdenken, sondern kümmern sich um das Gestalten und Aufzeichnen einer kontinuierlichen Sequenz, die Sie später untersuchen. Natürlich ist das eine große Umwälzung – vom Entscheiden in Echtzeit zum Entscheiden in der entspannteren Atmosphäre eines Bearbeitungsprogramms.

Interessant in diesem Video ist, dass sich die Arbeitsmethode des Fotografen wegen der Studioszenerie und seines Arbeitsstils eigentlich kaum ändert – er versucht, seine Models zu einer Darbietung zu animieren und ihnen Ausdruck zu entlocken. Anstatt jedoch einige Hundert Bilder mit seinem Fotoapparat zu machen, sieht er sich jetzt 7.000 Möglichkeiten gegenüber, und die Mehrheit von ihnen ist nicht zu gebrauchen – das Model geht in Position und dann kommt ein Ausdruck. Man muss konzentriert unglaublich viele Bilder anschauen, was einfach unpraktisch ist.