Denise Reichow
Heitlinger Hof 7b
30419 Hannover

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INDIGO - BEIM LEBEN DES DRACHEN

Text © Katharina Sommer, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff

Lektorat & Korrektorat: Marie Weißdorn

Satz & Layout: Phantasmal Image
eBook: Grittany Design

Bilder: Depositphotos

(eBook) ISBN 978-3-947147-41-0

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

DIE DEHNARISCHE BOTSCHAFT

Tristan

Lustlos kaute Tristan sein Frühstück. Selbst die warmen Fladenbrote vermochten das Gefühl der Leere in seinem Bauch nicht zu vertreiben. Das schlechte Gewissen saß tief und seine Gedanken drehten sich durchgehend um Zara.

»Was ist los, Tristan? Schmeckt es nicht?«, fragte Sagua und begutachtete die Brote auf dem Teller misstrauisch.

»Nein, das ist es nicht. Dein Frühstück schmeckt wirklich zauberhaft«, versuchte er, ihr Gemüt zu beruhigen.

Nicht ganz überzeugt, klatschte sie ihm mit einem großen Kochlöffel eine Portion Brei auf den Teller. Um sie nicht zu kränken, schob er sich einen vollen Löffel davon in den Mund, obwohl es wie gegessen und wieder ausgespuckt aussah. Als der Brei seine Geschmacksknospen erreichten, stellte er jedoch überrascht fest, dass er sogar ganz ausgezeichnet schmeckte.

»Mmh«, machte er begeistert mit vollem Mund und brachte Sagua damit zu einem zufriedenen Schmunzeln.

»Wusste ja, dass das den Tag rettet«, murmelte sie vor sich hin, während sie munter zum nächsten Tisch eilte.

Dort versuchte sie, dem kleinen Mann, den er zuvor am Gang mit der Putzelfe gesehen hatte, ebenfalls einen Schöpfer aufzubrummen, doch der Griesgram lehnte akribisch ab und wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen.

Selbst schuld, fand Tristan.

Ein Blick auf die Wanduhr oberhalb der Theke bestätigte ihm, dass er sich auf den Weg machen sollte. Laut Kato erwartete ihn der Botschafter um elf.

»Sagua, danke für das Essen. Ich muss dann los«, wandte er sich an die Köchin, die gerade an ihm vorbeieilte und gleich seine leere Schüssel mitnahm.

»Hab einen schönen Tag, junger Tristan. Und keine Sorge, ich kümmere mich in der Zwischenzeit um dein Mädchen.« Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zu.

Tristan setzte zu einer umständlichen Erwiderung an, da verschwand sie bereits kichernd in der Küche und ließ ihn mit glühenden Wangen zurück.

Schnell straffte er die Schultern, sah sich unauffällig um, ob einer der anderen Gäste sein peinliches Verhalten bemerkt hatte, dann zog er sich den Wintermantel über. Knarrend öffnete sich die Holztür der Schänke und er stapfte nach draußen, wo ihn klirrende Kälte empfing.

Über Nacht war die Temperatur gefallen und dicke Schneeflocken tanzten vom grauen Himmel. Erstaunt legte er den Kopf in den Nacken und blinzelte den weißen Flocken entgegen. Es kitzelte, als sie auf seiner Nase landeten. Wie ein kleines Kind griff er danach und hielt den klaren, weißen Eiskristall vor die Augen. Nach wenigen Sekunden schmolz er auf seiner Fingerspitze und zurück blieb ein einziger Wassertropfen.

Trotz des aufgestauten Ärgers bahnte sich ein Lächeln den Weg auf seine Lippen. Es war das erste Mal, dass er mit eigenen Augen Schnee sah, und er fand es unglaublich, wie schnell hier im Norden der Wetterumschwung vor sich ging.

Sein Gefühl verriet ihm, dass dies nicht der normale Lauf der Natur war, sondern mit den Schattenwesen zu tun haben musste. Wenn man im Süden lebte, war es schier unmöglich, sich vorzustellen, wie Regen in Form von festen Flocken vom Himmel fiel. Es war einfach unglaublich … aber mit dem Gedanken an die Schattenwesen kamen auch noch andere Sorgen.

Zwar erinnerte er sich nur noch vage an die Geschehnisse der verhängnisvollen Nacht, aber eines hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt und bereitete ihm seither ein mulmiges Gefühl. Denn er vermutete, dass sie auf der Lichtung nicht nur gegen Schattenwesen gekämpft hatten.

Er wusste noch zu gut, wie er sich gefühlt hatte, als er plötzlich die Kontrolle über seinen Körper verloren hatte, kurz bevor ihn etwas am Hinterkopf traf und zu Boden schleuderte. Es war grauenhaft gewesen, so abrupt nichts als Kälte zu spüren.

Von so einem Gefühlszustand hatte er bisher erst im Zusammenhang mit Blutbändigern gehört und das ergab einfach keinen Sinn. Hier im Norden gab es keine Blutbändiger und schon gar nicht würden sie mit Schattenwesen zusammenarbeiten.

»Na, noch nie Schnee gesehen?«, erklang die raue Stimme des Wirts und Tristan sah peinlich berührt auf.

»Könnte man so sagen«, erwiderte er lachend und richtete den Kragen seines Mantels, um davon abzulenken, wie er soeben noch ganz entzückt in den Himmel gestarrt hatte. Seine düsteren Gedanken konnte er damit jedoch nicht vertreiben.

»Nur zu. Es ist wirklich etwas Besonderes«, antwortete Kato und lächelte nachsichtig, wie es Großeltern bei ihren kleinen Enkelkindern tun. »Ich begleite dich zu Herrn Tout«, wechselte er zum Geschäftlichen.

»Danke, das ist sehr freundlich«, nahm Tristan erleichtert an. »Wenn möglich, würde ich davor noch gerne nach meinem Squa sehen.«

»Türlich, türlich«, brummte der Mann. »Ich muss so und so noch Holz schichten. Komm einfach zu mir, sobald du bereit bist.«

Schnell ging er nach hinten zu den Ställen. Das Knirschen der Schuhsohlen auf der dünnen Schneedecke kam Tristan ganz seltsam vor.

Mit dem Schnee hatte die Stadt sich einem vollkommenen Wandel unterzogen. Die Sonne kam kaum gegen die dicke Wolkendecke an und der Rauch, welcher aus den Schornsteinen der Häuser aufstieg, vermischte sich mit dem Grau des Himmels zu einer drückenden Masse. Tristan fühlte sich wie in einer eigenen kleinen Welt. In jenem Moment erschien es ihm unbegreiflich, wie es in seiner Heimat gerade erstickend heiß sein konnte, wie das ganze Jahr über.

Pyreus stand vor Wind und Wetter geschützt in einer Box. Über die Holzbalken des Gatters hinweg sah er Tristan aus dunklen Augen entgegen und wieherte erfreut, als er ihn erkannte.

»Na, wie findest du den Schnee, Junge?«, redete er dem Tier zu und klopfte ihm zur Begrüßung den Hals.

Der Stall hielt für den jungen Squa alles Nötige bereit und Tristan kehrte guten Gewissens zu Kato zurück, um zur Botschaft aufzubrechen.

»Kato, können wir los?«, unterbrach er den Wirt bei der Arbeit.

»Türlich, bin schon bereit.«

Geschäftig klopfte er sich die Hände an der dreckigen Arbeitsschürze ab, nahm jene ab, knüllte sie zusammen und schmiss sie auf den Holzstoß. Anschließend ergriff er den schwarzen Mantel, den er während der Arbeit abgelegt hatte, und stapfte durch den Schnee zu Tristan.

»Hier entlang. Wir nehmen die Abkürzung über den Marktplatz, dann kannst du dir einen Überblick verschaffen. Die Stadt ist groß, aber du wirst dich schnell zurechtfinden.«

Gemeinsam schlenderten sie durch die verschneiten Straßen, vorbei an arbeitenden Leuten, schwatzenden Frauen und im Schnee tollenden Kindern und Tieren. Der Rummel auf den Straßen erinnerte ihn an das Leben vor den Toren des Palasts in Dehnarien. Er fragte sich, wie Zara die Stadt gefallen würde. Gern hätte er sie nun an seiner Seite gehabt.

»Was ist Tout für ein Mann? Kennst du ihn persönlich?« Er schloss zu Kato auf, um ihn im Gedränge nicht zu verlieren.

»Bin ihm erst einmal begegnet. Komischer alter Mann, aber das ist mit den Diplomaten aus anderen Ländern wohl so.« Er zuckte die Achseln und grummelte noch etwas in seinen Bart hinein, doch da öffnete sich eine Tür neben ihnen und eine wütende Frau jagte einen Jungen mit dem Besen nach draußen.

»Verschwinde, du Rotzbengel!«, schrie sie ihm nach, während der Kleine lachend zwischen den zwei Männern abtauchte. Rudernd wich Tristan ihm aus, wobei er beinahe den Besen der Frau ins Gesicht geschlagen bekam.

»Geht es hier immer so turbulent zu?«, erkundigte er sich und hob belustigt die Augenbrauen.

»Bei Tag kannst du darauf zählen. In Ignis hast du selbst in der Nacht keine Ruhe, heute ganz besonders nicht. Es ist der erste Vollmond des Monats und die Stadt feiert den Tag, da endlich Schnee fällt. Das ist ein Zeichen, dass wir das kommende Jahr nichts zu befürchten haben. Die Göttin Godsqua legt ihren Schutz über uns wie die Schneedecke über unsere Häuser.« Kato lachte und klopfte sich den dicken Bauch, während sein langer Mantel über den Schnee raschelte.

»Das ist ein schöner Brauch.« Tristan nickte anerkennend.

»Nach der traditionellen Ansprache auf dem Marktplatz richten wir in der Schänke ein Fest mit Tanz und Musik aus. Du und dein Mädchen solltet euch das auf gar keinen Fall entgehen lassen.« Gut gelaunt zwinkerte er ihm zu.

Zwar glaubte Tristan nicht, dass Zara nach heute Morgen noch beabsichtigte, jemals mit ihm zu sprechen, dennoch gefiel ihm der Gedanke.

»Ich werde es mir überlegen.« Nachdenklich rieb sich Tristan den Unterarm. Das fehlende Gewicht der Armbänder unter seinem Mantel war ungewohnt.

»Da vorne ist das Lokal, in welchem wir uns mit dem Botschafter treffen. Er ist ein schräger Vogel. Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, meinte Kato und öffnete die Tür.

Das Lokal stank unglaublich nach Rauch und verschüttetem Cognac, doch Tristan erkannte sogleich an der Einrichtung, dass es sich um ein nobles Lokal handeln musste. Roter Teppich bedeckte den Boden und über eleganten Sitzecken hingen extravagante Bilder, die Tristan mit schief gelegtem Kopf beäugte.

»So etwas Hässliches hab ich noch nie gesehen«, kommentierte Kato, ebenfalls das Bild betrachtend, und spuckte in ein dreckiges Stofftaschentuch.

Am entsetzten Blick des Kellners erkannte Tristan, dass weder er und schon gar nicht Kato der Norm der sonstigen Gäste entsprachen. Das Lokal war überraschend leer – vermutlich der einzige Grund, warum der Kellner die zwei nicht sofort hinausschmiss.

»Herr Tout?«, fragte Kato mit rauer Stimme und lehnte sich bedrohlich über die Theke Richtung des Kellners.

»Hier entlang«, dirigierte dieser und kniff säuerlich die Lippen zusammen.

Das Lokal war nur spärlich besetzt und es war sofort klar, wer von den wenigen Gästen Herr Tout war.

»Guten Tag, Herr Tout«, grüßte Tristan höflich, als sich der ältere Mann aus dem Sessel erhob.

Formell schüttelten sie einander die Hand, wobei Herrn Touts Hände in weiße Handschuhe gehüllt waren.

»Sehen aus wie von einer Frau«, murmelte Kato in seinen Bart, als er die eleganten, weißen Handschuhe beäugte.

Der Diplomat tat, als hätte er nichts gehört, doch dem verkniffenen Zug um seinen Mund entnahm Tristan, dass er Katos Worte durchaus vernommen hatte.

»Ich bin so froh, Euch zu sehen. Ich brauche dringend Eure Hilfe«, lenkte er die Aufmerksamkeit seines Gegenübers wieder auf sich.

»Der Wirt hat mir Eure Lage bereits erläutert.«

Mit gespreiztem kleinem Finger trank Herr Tout einen kleinen Schluck aus seiner Porzellantasse. Hätte sich das zierliche Gefäß in Katos Bärenpranken befunden, wäre es vermutlich zersprungen.

»Ich habe gestern an den König geschrieben und erwarte spätestens heute Abend die Antwort aus Dehnarien. Landsleute sind unterwegs, um sich um die Bestattungen der Soldaten zu kümmern. Es tut mir sehr leid, Euch mitteilen zu müssen, dass außer Euch niemand zurückgekehrt ist.« Bedauernd senkte er den Kopf, während sich Tristans Züge verspannten.

Doch nun musste er einen kühlen Kopf bewahren. Fieberhaft überlegte er, wie er die Dringlichkeit einer Wache zur Sprache brachte, ohne den zwei fremden Männern zu sagen, dass er ein Drachenei bei sich trug. Mit einem Mal war er nicht mehr sicher, ob er dem Diplomaten das Ei präsentieren wollte. Konnte er dem Mann trauen? Freunde würden sie bestimmt keine werden, aber er war Dehnare wie er und das musste reichen.

»Ich brauche Wachen«, verkündete er mit gedämpfter Stimme. »Wir hatten die Aufgabe, ein Drachenei wiederzufinden. Ich habe es gefunden.«

»Wie habt Ihr …?«, rief der Diplomat überrascht aus. Tristan gebot ihm eilig, die Stimme zu senken.

»Stellt keine Fragen. Aber Ihr müsst etwas für mich arrangieren.« Sowohl Tout als auch Kato sahen ihn irritiert an. »Ich brauche Ausweise für eine Person, die mir bei der Suche geholfen hat. Auf den Namen Sara …« Er zögerte kurz. Er wusste ihren Nachnamen nicht und auf die Schnelle fiel ihm kein passender Name für sie ein. »Salamon«, sagte er den erstbesten Namen, der ihm einfiel. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte ihr Herr so geheißen, also würde es schon passen.

»Sara Salamon«, wiederholte er bestimmt. »Sie hat ihre Papiere verloren, als wir im Wald auf die Schattenwesen trafen«, log er. »Sobald ich meine Schuld bei ihr beglichen habe, werde ich mit dem Drachenei nach Dehnarien zurückkehren.«

»Gut«, antwortete Tout langgezogen und hob skeptisch die Augenbrauen.

Es war offensichtlich, dass er die Geschichte für alles andere als glaubwürdig hielt, doch da er nicht Verrat oder Diebin schrie, schloss Tristan, dass er die Zusammenhänge noch nicht durchschaut hatte.

»Ich werde mich darum kümmern.«

Zara

Kälte durchdrang mich, als ich nach Tristans unangekündigtem Besuch das Fenster öffnete. Die Decke um die Schultern geschlungen, stand ich am Fensterbrett und sah hinaus auf die Straße.

Über Nacht hatte es geschneit und als ich meine Hand ausstreckte und die weiße Masse auf dem äußeren Fenstersims berührte, zuckte ich überrascht zusammen. Es war das erste Mal, dass ich Schnee sah, und es war ein überwältigendes Gefühl. Von meinem Platz aus sah ich über die Dächer hinweg. Eine weiße Schneeschicht lag über der Stadt und die graue Wolkendecke hing tief am Himmel, während vereinzelte Flocken zu Boden rieselten.

Die Schönheit der Stadt lenkte mich jedoch nur kurzfristig von meiner Wut auf Tristan ab. Ärger brodelte in meinem Inneren wie ein heranziehendes Gewitter. Trotz der Armreifen fühlte ich mich verletzlich und unsicher. Ohne das Drachenei war ich Tristan ausgeliefert.

Die Kälte kroch in das Zimmer und ich hielt es nicht länger aus. Entschlossen schloss ich das Fenster und zog mich an. Dann nahm ich die auf der Kommode abgelegten Armreifen und verstaute sie in meiner Tasche. Mein Magen knurrte und meine Nase führte mich nach unten in die Gaststube.

»Schlafmütze, auch schon wach?«, begrüßte mich Sagua freundlich und lächelte mir entgegen. Geschäftig eilte sie mit einem Tablett in der Hand hinter die Theke. »Ich bin gleich mit Frühstück bei dir.«

Nickend suchte ich mir einen freien Platz im hinteren Teil der Schänke, wo ich das Gefühl hatte, vor den bohrenden Blicken der anderen einigermaßen geschützt zu sein.

»Hier.« Geschickt stellte Sagua mir eine Schüssel mit einem seltsam aussehenden Brei vor die Nase. Doch ich war weit Schlimmeres gewöhnt und absolut nicht eitel.

»Danke«, murmelte ich und griff nach dem Löffel. Sobald ich die ersten Bissen gekaut hatte, hielt ich überrascht inne, nur um daraufhin noch zügiger weiterzuessen.

»Echt lecker«, brachte ich zwischen zwei Bissen hervor und strahlte Sagua dankbar an.

»Schön, schön«, trällerte sie und schwang enthusiastisch den Kochlöffel. »Für dich kleines Täubchen müssen wir noch etwas anderes zum Anziehen besorgen. So kannst du ganz sicher nicht auf dem Fest auftauchen.« Nachdenklich beäugte mich die Köchin aus zusammengekniffenen, grünen Augen und stemmte den freien Arm in die breite Hüfte.

»Was für ein Fest?«, fragte ich mit vollem Mund.

»Lass dich überraschen, Täubchen.«

Strahlend tänzelte sie zurück zur Theke, während ich weiter mein Frühstück verschlang. Vermutlich würde mich Tristan so oder so nicht zu irgendeinem Fest gehen lassen, aus Angst, ich könnte mit dem Drachenei abtauchen. Erneut wurde meine Wut auf den jungen Dehnaren allgegenwärtig und ich setzte den Wasserbecher zu fest auf, sodass Flüssigkeit über den Rand schwappte.

»Da ist aber jemand griesgrämig«, erklang die glockenklare Stimme der kleinen Elfe, welche gestern Abend die Gäste mit Musik unterhalten hatte. Überrascht sah ich mich um, ob sie tatsächlich mit mir sprach. Als ich niemanden sonst in unmittelbarer Nähe entdeckte, errötete ich und wischte schnell die um den Becher gebildete Pfütze auf.

»Ich … nein, also …«, stotterte ich verlegen.

»Sagua hat mich zu dir geschickt«, erklärte sie ihr plötzliches Erscheinen warm lächelnd und nahm ungefragt mir gegenüber Platz.

»Aha«, gab ich möglichst unverfänglich zurück und kaute weiter mein Frühstück.

»Sie sagt, du bist aus Dehnarien. Ich war noch nie dort, erzähl mir davon.« Aus glänzenden Augen sah sie mich erwartungsvoll an.

Eigentlich war ich nicht gerade in der Stimmung, weiter Lügengeschichten zu spinnen, immerhin war ich genauso noch nie in Dehnarien gewesen. Doch sie strahlte eine solche Neugier aus, dass ich ihre Bitte nicht abschlagen konnte. Außerdem waren sich das kopanische und dehnarische Reich in ihren Klimaverhältnissen nicht ganz so unähnlich. Heiß war es dort überall.

»In Dehnarien gibt es keinen Winter wie hier«, begann ich zu erklären. »Zumindest nicht mit dieser eisigen Kälte und Schnee. Selbst jetzt hängt über dem Land eine drückende Hitze.«

Mehr als die Wärme und enge Menschenmengen hatte ich nicht mehr in Erinnerung, was nicht augenblicklich verraten hätte, dass ich eigentlich von den Plantagen kam. Doch die junge Elfe wirkte wissbegierig und würde sich mit meiner lahmen Beschreibung der Wetterverhältnisse bestimmt nicht zufriedengeben.

»Ist der Prinz wirklich so hübsch?«

Vor Aufregung überschlug sich ihre Stimme und erst jetzt fiel mir auf, wie jung sie noch war. Mit gerunzelter Stirn überlegte ich, wie es kommen konnte, dass sie in einem so zarten Alter in solch einer Schänke arbeiten musste.

»Ich habe ihn noch nie gesehen …« Schulterzuckend wandte ich mich wieder meinem Essen zu.

Die Erzählungen über den Prinzen hatten mich noch nie sonderlich interessiert, auch dass er besonders hübsch sein sollte, war mir noch nicht untergekommen. Genauso wenig hatte mich die Schönheit des kopanischen Königs Aréolan gekümmert. Warum auch? Sklaven interessierten sich nicht für das Aussehen derjenigen, die ihr Leiden zuließen.

»Schade«, murmelte sie und ehrliches Bedauern klang in ihrer Stimme mit. Die hellblonden Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht, als sie den Kopf senkte.

»Ist der kleine, tasmanische Prinz nicht eher in deinem Alter?«, fragte ich und zwinkerte ihr freundlich zu, um sie aufzumuntern.

»Aber der ist bestimmt nicht so hübsch«, gab sie murrend zurück.

Ah – mein Fehler. Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln.

»Woher kennst du Sagua?«, erkundigte ich mich neugierig.

»Sie hat mich von der Straße aufgegabelt, mir eine Arbeit und einen Schlafplatz gegeben. Ich verdanke ihr sehr viel.«

Schulterzuckend huschte ihr Blick zur Köchin, die gerade hinter der Theke hantierte. Ich reimte mir sofort zusammen, warum sie auf der Straße gelandet war. Armut gab es in allen drei Reichen.

»Sagua scheint wirklich ein guter Mensch zu sein.« Nachdenklich legte ich den Kopf schräg. Ich spürte, dass ich mich auf dünnem Eis befand. Immerhin war ich eine Fremde für die junge Elfe und das Thema viel zu ernst für ein einfaches Frühstück. Diesen Gedanken teilte wohl auch die kleine Elfe.

»Und kochen kann sie auch«, gab sie frech zurück und brach damit die ernste Stimmung. »Wie heißt du?«, erkundigte sie sich und drehte eine ihrer langen, blonden Haarsträhnen um ihren Zeigefinger.

»Z…«, begann ich und brach abrupt ab. »Sara.« Ich bemühte mich um ein Lächeln. Sollte sie etwas an meinem Verhalten für merkwürdig befinden, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Und du?«, fragte ich schnell zurück.

»Quin. Den Namen trug auch die verstorbene tasmanische Königin.«

Stolz reckte Quin das Näschen in die Luft und übermittelte mir damit nur noch stärker den Eindruck, dass sie noch sehr in der Fantasie des Prinzessinnentraums gefangen war.

»Na, Mädels? Versteht ihr euch gut?« Mit einem breiten Lächeln tänzelte Sagua auf uns zu. Statt die Schürze um die Hüften zu tragen, hielt sie den weißen Stoff zusammengeknüllt in der geballten Faust. »So, wir können los.«

Verwirrt sah ich zu ihr auf, während Quin bereits glücklich in die Hände klatschte und aufsprang, sodass der Sessel mit einem unangenehmen Knarren über den Holzboden schrammte.

»Du brauchst ein Kleid. Und ich weiß auch schon, wo wir das finden werden.« Breit grinsend zog Sagua mich am Arm hoch und Quin sprang begeistert auf der Stelle.

Sie stürmten wie Wirbelstürme um mich herum und ehe ich mich versah, befand ich mich bereits auf den verschneiten Straßen Ignis’.

Tristan

Mit federnden Schritten überquerte Tristan den schneebedeckten Marktplatz. Kato hatte sich auf dem Rückweg von ihm verabschiedet, er musste dringend zurück zur Schänke und den Laden für die Festlichkeiten am Abend auf Vordermann bringen. Tristan hingegen trieb nichts zurück in das Gasthaus.

Ihm war bewusst, dass Zara ihn vermutlich nicht sehen wollte, und so schob er das Unvermeidliche unnötig hinaus. Anfangs noch neugierig, schlenderte er durch die Gassen, machte Halt an verschiedenen Ständen, die die Stadtbewohner extra für den heutigen Festtag aufgebaut hatten, und plauderte mit aufdringlichen Händlern. Erst nachdem er bereits glaubte, jeden Stand zweimal begutachtet zu haben, hielt ihn nichts mehr davon ab, zur Schänke zurückzukehren.

Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, doch als ihn eine ältere Dame mit Stock überholte, riss er sich am Riemen und sammelte seine gesamten Kraftreserven für die folgende Unterhaltung. Womit er beim Betreten der Schänke jedoch nicht rechnete, war, dass Zara gar nicht anwesend sein könnte.

»Kato, wo ist sie?«, fragte er entgeistert.

»Mit Sagua unterwegs. Deswegen könnte ich Hilfe gebrauchen.« Gestresst wedelte der Wirt mit der Hand nach einem Jungen, der in der Küche den Boden schrubbte.

»Unterwegs?«, wiederholte er stutzig.

»Ja, unterwegs. Sagte ich doch«, brummte Kato. »Und jetzt nimm das Holz dort drüben. Das muss in die Küche.«

»Aber …«

»Du musst auf andere Gedanken gebracht werden«, unterbrach Kato ihn sofort. »Da ist Arbeit das Beste. Also pack an!«

Einen Moment überlegte Tristan, abzulehnen, doch dann schüttelte er den Kopf. Kato hatte recht, die Ablenkung würde ihm guttun.

»Natürlich. In die Küche, sagtest du?«

Entschlossen legte er den Wintermantel ab und krempelte die Ärmel hoch, dann griff er nach den Holzscheiten.

So arbeitete er den restlichen Tag vor sich hin. Einzig davon durchbrochen, dass er das Drachenei auf sein Zimmer brachte und immer wieder nach ihm sah. Kato hielt sie alle ganz schön auf Trab und als sie gegen Mittag eine Pause einlegten, verschlang er das vorgesetzte Hühnchen wie ein hungriger Werwolf.

»Ein Soldat bist du nicht, Bürschchen. Jetzt schon so ausgebrannt«, meinte Kato mit einem belustigten Blick auf den leeren Teller.

Tristan zuckte mit den Schultern. Dergleichen hatte er auch nie behauptet.

»Nach dem, was ich heute gesehen habe … also.« Kato zögerte.

Sein Blick huschte nervös von einer zur anderen Seite, doch niemand war in ihrer unmittelbaren Nähe und der Lärmpegel in der Schänke viel zu hoch, als dass jemand seine geflüsterten Worte hätte mithören können.

»Also bist du ein Bändiger?«, brachte er schließlich hervor.

Verdutzt erwiderte Tristan seinen Blick. Damit hatte er tatsächlich nicht gerechnet, auch wenn ihm augenblicklich klar war, woher Katos Überlegung kam. Als Einziger seiner Truppe hatte er den Angriff der Schattenwesen überlebt und außerdem den wichtigen Auftrag des Königs erteilt bekommen. Dabei war er nur ein einfacher Pfleger.

Die Wahrheit war, er hatte schlichtergreifend Glück gehabt. Kato konnte nicht wissen, wie sehr Tristan das schlechte Gewissen darüber plagte. Seit er in der Höhle zu sich gekommen war, quälte ihn die Frage, warum er überlebt hatte und nicht einer seiner Kameraden. Besonders der Verlust von Loyd schmerzte ihn sehr.

»Nein.« Tristan zwang sich zu einem Lächeln.

Der Gedanke, ein Bändiger zu sein, stimmte ihn nachdenklich. Die Frauen in seiner Familie waren des Feuers mächtig, nur deswegen war der König auf seine Hochzeit mit Moné so erpicht. Nur wenige verfügten über diese Gabe und da war es nur logisch, dass der König Interesse daran hatte, die Bändiger-Gene in die Familie zu bringen.

Wie Tristan wusste, war auch Prinzessin Izabel magisch begabt. Die meisten Königsfamilien achteten bei der Partnerwahl darauf, die in ganz Godsquana hoch angesehenen Fähigkeiten zu bewahren. Es wurde gemunkelt, Izabel würde das Element Feuer beherrschen. Da in Tasmanien aber vor allem Luft- und Wasserbändiger lebten, blieb das nur ein Gerücht.

In Kopanien waren die Mitglieder der königlichen Familie Feuerbändiger – das mächtigste Element, einzig von den Schatten übertrumpft. König Rauke aus dem Norden war der mächtigste Schattenbändiger, der die Schattenwesen befehligte und das tasmanische Reich nun schon seit dem letzten Blätterwechsel erstarren ließ. Hier gab es keinen Sommer mehr. Nur noch Kälte und Schatten, die das Land in Angst und Schrecken versetzten.

Es war ein grausames Gefühl, zu wissen, dass die Schattenwesen draußen vor den Stadtmauern ihr Unwesen trieben und mit ihren Kräften einzig und allein zum Töten lebten. Kein Wunder, dass die Menschen sich von der Göttin Schutz erhofften. Mit einem Mal sah er die kommenden Festlichkeiten mit ganz anderen Augen.

»Ich bin kein Bändiger, auch kein Soldat. Ich bin Pfleger magischer Tiere. Mehr brauchst du nicht zu wissen.« Zwar lächelte er warm, dennoch wählte er seine Worte bestimmt. Je weniger Kato wusste, desto besser. Sie verweilten für einen Moment in Schweigen, dann nickte Kato.

»Verzeihung.« Schnell trat er den Rückzug an und kratzte sich verlegen am Bart. »Trink aus! Dann geht es weiter mit der Arbeit«, brummte er wieder in gewohnter Lautstärke und winkte den jungen Knaben zu sich, damit er die leeren Teller abräumte.

Tristan wischte sich gerade den Mund mit einer Serviette ab, da öffnete sich die Tür der Schänke und drei kichernde und lachende Damen kamen herein. Tristan brauchte einen Moment, bis er die schwarzhaarige Schönheit erkannte. Sie trug ein blaues Kleid, welches ihre ozeanfarbenen Augen zum Strahlen brachte. Ihm stockte der Atem.

»Wow«, brachte er überrascht zustande, während Kato anerkennend pfiff.

»Weib, was hast du mit dem Mädchen nur vor? Möchtest du sie heute schon an einen reichen Mann bringen?« Amüsiert lachte Kato, während er sich die Arbeitsschürze um die Hüften schlang.

»Ganz bestimmt nicht«, fiel ihm Zara ins Wort, bevor Sagua ihre Grundidee verkünden konnte.

Tristan sah genau, wie Zara die Röte in die Wangen schoss und Sagua verschmitzt grinste. Was er jedoch nicht verstand, war, warum es ihn störte. Schuldbewusst dachte er an Moné – er sollte ihr dringend eine Nachricht schreiben.

»Man kann sich auch für sich selbst mal schön kleiden, nicht nur um den Männern zu gefallen.«

Kokett drehte Zara sich einmal im Kreis, sodass sich der dunkelblaue Stoff bauschte und hob und ihre dünnen Fußknöchel enthüllte.

Die schwarze Haarpracht war nicht mehr so zerzaust wie noch heute Morgen, sondern floss in sanften, glänzenden Wellen ihren Rücken hinunter. Während der eine Ärmel des Kleides ihre Sklavenmarke versteckte, lugte am rechten Handgelenk neben dem goldenen Armreifen ein schwarzes Armband hervor. Es war ihr eine Spur zu groß und ließ ihr Handgelenk nur noch zierlicher erscheinen.

Da Tristan wusste, dass die Bewohner im Norden statt der Lebensarmreifen wie Kato und Sagua breite Lederbänder trugen, vermutete er, dass Sagua ihr das zweite Lebensarmband geschenkt hatte. Obwohl die Frau ahnte, dass hinter Zaras Geschichte noch mehr steckte, ließ sie sie nicht auffliegen.

»Wieder an die Arbeit«, verkündete Kato.

»Einen Moment noch. Ich muss kurz mit Sara sprechen.«

Während Sagua verschlagen grinste, brummte Kato zustimmend und scheuchte sowohl Sagua als auch die kleine Elfe neben ihr in die Küche.

»Ja?« Auffordernd blickte ihn Sara aus großen, blauen Augen an.

In den schwarzen Locken hingen noch weiße Schneeflocken von draußen, die in der Wärme der Schänke zu Wasserperlen schmolzen.

Erst als sie noch mal ihre Stimme erhob und genervt fragte: »Was willst du?«, registrierte er, dass er sie zu lange angestarrt hatte.

»Ähm«, begann er befangen und errötete prompt.

Bevor er sich weiter in der Tiefe ihrer blauen Augen verlieren konnte, riss er sich am Riemen und zog jene Fassade auf, welche Zara bereits heute Morgen verängstigt hatte.

»Meine Armreifen«, forderte er und zog sie beiseite, sodass sie im Schutz der Treppe nicht belauscht werden konnten.

Unwillkürlich stellte er fest, wie gut sie roch. Ein bisschen wie eine südliche Zitrusfrucht. Er schmunzelte, mahnte sich jedoch schnell zur Konzentration.

»Ich habe die Papiere angefordert, sie müssten in ein paar Tagen ausgestellt und beglaubigt sein.«

»Danke«, antwortete sie ruhig, wobei er ihrer Mimik entnahm, dass sich alles in ihr dagegen wehrte, dieses Wort auszusprechen.

Die Wut über sein Verhalten heute Morgen sprach ihr aus den Augen und augenblicklich zog erneut das schlechte Gewissen auf, wie dunkle Wolken vor einem Sommergewitter.

»Die Armreifen bekommst du, sobald du mir das Drachenei wiedergibst.« Stur erwiderte sie seinen Blick.

Nun, da sie nicht mehr allein waren, schien sie neuen Mut gefasst zu haben. Vielleicht, da sie nicht fürchten musste, er könnte ihr tatsächlich etwas antun.

»Ich kann es dir nicht geben. Es könnte bald schlüpfen, es braucht Pflege.« Seine Worte klangen nasal und hochnäsig, er kam sich blöd vor.

Dabei waren seine Worte die reinste Wahrheit. Er kannte sich mit der Pflege von Dracheneiern aus, im Gegensatz zu Zara.

»Wo befindet es sich jetzt?«, fragte sie resigniert.

»In meinem Zimmer. Ich sehe immer wieder nach ihm …« Bemüht verkniff er sich das siegessichere Lächeln, welches bei ihren Worten in ihm aufkam.

»Gut. Die Armreifen bekommst du trotzdem noch nicht«, knurrte sie und ließ ihn stehen.

Zwar nicht der optimalste Ausgang, dennoch war Tristan zufrieden.

Bevor er in die Küche zurückkehrte und Kato bei der anstehenden Arbeit half, machte er noch einen weiteren Abstecher in sein Zimmer. Zwar glaubte er nicht, dass das Ei in den nächsten Tagen schlüpfen würde, dennoch fühlte er sich sicherer, es in seiner Obhut zu wissen.

Er hatte gerade die ersten Stufen erklommen, da öffnete sich der Eingang der Schänke auf ein Neues und er sah reflexartig zu dem Neuankömmling. Mit dem Öffnen der Holztür drang nicht nur die Kälte in das Innere, sondern auch der Lärm der Straße, der die Aufregung der Dorfbewohner über die baldigen Festlichkeiten untermauerte.

Im Eingang stand eine hoch aufragende Gestalt, muskulös und breit wie ein Bär, mit der Mähne eines Löwen. Er humpelte, ein Schwert hing an seiner Seite. Tristan musste nicht das Wappen am Knopf des dunklen Umhanges sehen, um zu wissen, wer es war.

»Loyd«, murmelte er voller Verblüffen und umklammerte haltsuchend den Holzbalken der Treppe.

Mit einem Mal fühlte er sich ganz wacklig auf den Beinen. Wie in Zeitlupe bewegte er sich auf seinen alten Kameraden zu, der nicht weniger überrascht zurücksah.

»Loyd. Ich dachte, du seist tot!« Er traute seinen Augen nicht.

Herr Tout hatte gesagt, es gäbe keine Überlebenden, und nun stand ihm sein treuer Freund gegenüber? Beinahe hatte er Angst, er könnte sich jeden Moment in Luft auflösen. Doch als er seine Hand ausstreckte und ihn umarmte, war er immer noch da.

»Tristan. Der Botschafter hat mir erzählt, du seist am Leben«, erklärte Loyd leise und schwankend.

Erst jetzt erkannte Tristan, dass an der Stelle, wo eigentlich Loyds rechtes Bein hätte sein sollen, ein Holzbein hervorlugte.

»Das Schattengift hat sich ausgebreitet, sie konnten nichts mehr tun«, antwortete er mit belegter Stimme auf Tristans entsetzten Blick hin. »Ich hatte Glück, es überhaupt aus dem Wald zu schaffen. Aber wie hast du es dort raus geschafft? Du bist wohlauf und unverletzt? Wie konntest du überleben?«, fragte Loyd mit kratziger Stimme und musterte ihn kopfschüttelnd. »Ich habe gesehen, wie die Schattenwesen dich erwischt haben. Wie ist es möglich, dass sich das Gift nicht in deinem gesamten Körper ausgebreitet hat?« Suchend beäugte er Tristan, als erwartete er, ihm würde ebenfalls eine Hand oder ein Bein fehlen.

»Ich hatte Hilfe. Ein Mädchen hat mich gefunden – warte, ich hole sie. Sara!«, rief er laut nach ihr.

Vergessen war die eisige Stimmung zwischen ihnen, er wollte sie seinem Freund vorstellen. Seinem totgeglaubten Freund, der tatsächlich zu ihm zurückgekehrt war! Er konnte es einfach nicht fassen.

Da Zara lediglich nebenan in der Küche war, hörte sie seinen Ruf sofort und lugte verwirrt um die Ecke. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, sich noch einmal mit einem Gespräch mit ihm konfrontiert zu sehen.

»Komm her! Ich möchte dir jemanden vorstellen.« Breit strahlte er sie an, als sie zögerlich näher trat. »Das ist General Loyd. Er ist einer meiner engsten Freunde. Er hat den Angriff überlebt – darauf müssen wir trinken!«

Voller Enthusiasmus und Freude winkte er nach Kato und geleitete Loyd zu einem Tisch, wo er sein verletztes Bein entlasten konnte. Für einen Moment musste er daran denken, wie sie sich vor der Hexenhütte gestritten hatten. Damals hatte Loyd ihm erstmals vor Augen geführt, was für ein Glück er schon sein Leben lang hatte. Nun war es erneut so. Tristan ging gesund und lebendig aus dem Kampf mit den Schattenwesen hervor, während Loyd sein Bein verloren hatte. Dabei hatte er heldenhaft gekämpft, während Tristan bewusstlos am Boden gelegen hatte.

Ein schlechtes Gewissen durchzuckte ihn und dämpfte seine Freude. Doch Loyd lebte.

»Sara hat mich gerettet. Ohne sie hätte ich nicht überlebt«, erklärte er und bemerkte nicht, wie Loyds Blick immer düsterer wurde.

Überschwänglich erzählte Tristan Loyd von seinen letzten Tagen, in seiner Freude entging ihm vollkommen, dass Loyd kaum antwortete und sich über ihr Wiedertreffen nicht im Geringsten zu freuen schien.

»Wie seid Ihr aus dem Wald gekommen, General?«, fragte Zara nach einer Weile höflich.

Tristan kannte sie mittlerweile jedoch gut genug, um die verwirrte Falte auf ihrer Stirn zu deuten. Offenbar witterte sie etwas, doch Tristan erahnte nicht, worum es dabei ging.

»Ich habe es auf eigener Faust aus dem Wald geschafft.« Eine kurze Pause. »Auf einem Squa.«

»Tatsächlich«, antwortete sie vage.

Loyd erwiderte ihren Blick nicht. Offenbar war ihm die Frage unangenehm und nervös fuhr er sich durch die bereits ergrauten Haare. Seit Tristan ihn das letzte Mal gesehen hatte, schien er noch mal um zehn Jahre gealtert zu sein. Nun erinnerte kaum noch etwas daran, wie jung er eigentlich noch war. Nicht nur die stumpfen, grauen Haare zeugten von unglaublichem Stress und Angst. Auch die Augen blickten leer aus eingefallenen Höhlen hervor. Nun, da Tristan so drüber nachdachte, wirkte er mehr tot als lebendig.

»Geht es dir schon wieder gut genug für das Fest heute? Feier mit uns hier in Katos Schänke. Wir haben noch so viel zu bereden«, schlug Tristan vor.

Er spürte, dass zwischen Zara und Loyd eine eisige Spannung herrschte und er wollte die beiden nicht unnötig lange an einem Tisch gefangen halten. Da war es wohl besser, das Gespräch auf den Abend zu verschieben.

»Ja. Tout kommt auch mit, vielleicht ist bis dahin bereits eine Antwort aus Dehnarien eingetroffen«, stimmte Loyd zu und erhob sich von seinem Stuhl. Das Holzbein scharrte mit einem unangenehmen Laut über die Dielenbretter.

»Die Dame, meine Verehrung«, sagte er mit einem höflichen Kopfnicken zu Zara.

Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, doch es erreichte seine Augen nicht und ließ ihn nur noch furchteinflößender wirken.

Tristan verabschiedete sich von Loyd und brachte ihn bis zur Tür. Als er wiederkam, stand Zara noch immer am Tisch.

»Du glaubst ihm doch nicht etwa, oder?«, fuhr sie ihn aufgebracht an.

»Was soll ich ihm nicht glauben? Dass er am Leben ist? Das hast du doch gerade gesehen!« Genervt versuchte er an ihr vorbei zur Treppe zu gelangen.

Erst wollte er nach dem Drachenei sehen und anschließend wie versprochen Kato helfen.

»Merkst du denn nicht, dass seine Erzählung Lücken hat? Es sagt, er wäre mit einem Squa in die Stadt zurückgekehrt. Das kann nicht sein. Ich habe alle freigelassen und ganz abgesehen davon fand ich außer dir keinen Überlebenden. Tristan!« Sie sah ihn ernst an. »Du hast geatmet, sonst niemand.«

»Vielleicht war er bereits weg, bevor du dort warst«, gab Tristan schulterzuckend zurück.

»Und hat nicht nachgesehen, ob einer seiner Kameraden überlebt hat?«, konterte Zara provokant.

»Wenn du meinst, was ich vermute, dann würdest du ihn des Verrates beschuldigen«, stellte er mit gedämpfter Stimme fest.

Ernst sah er sie an. Sie musste begreifen, welch schwerwiegende Anschuldigungen sie damit erhob.

»Und wenn«, erwiderte sie schnippisch. »Ich glaube, du siehst nicht, was hier wirklich gespielt wird. Egal in Bezug auf was, der General hat gelogen. Ich an deiner Stelle würde noch mal darüber nachdenken, anstatt ihm bedingungslos zu vertrauen.«

»Er ist einer meiner besten Freunde.« Tristan seufzte. Er war nicht mehr länger in der Stimmung zu diskutieren. »Ich kenne ihn Jahrzehnte länger als dich. Also warum soll ich dir trauen und ihm nicht?«

Auch wenn seine Worte harsch waren, sprach er sie nicht so aus. Er legte Ehrlichkeit in seine Frage, wollte wirklich wissen, warum er ihr trauen sollte.

»Die schlimmsten Feinde sind jene, die sich hinter der Maske eines Freundes tarnen«, sagte sie nur und ging.