Nordische Wesen

 

 

 

Für Johan und Stefan, die damals so einen guten Job für mich hatten.

Und für John Bauer, aus Gründen, die keiner Erklärung bedürfen.

 

 

 

»Mir war, als sähe ich böse Augen

im dichten Gewirr des Unterholzes

und hörte hie und da hinter meinem Rücken

arglistig schleichende Schritte.«

Aus: Im Wald von Gustav Fröding

Einleitung

Schon seit jeher und überall auf der Welt sind wir Menschen davon überzeugt, zusammen mit den Tieren nicht die einzigen Wesen auf der Erde zu sein. Wir glauben, dass außer uns noch andere Wesen existieren, die sich – trotz eventueller äußerlicher Ähnlichkeiten – allerdings grundlegend von uns unterscheiden. Diese Wesen sind weder menschlich noch göttlich, sondern irgendetwas dazwischen. Sie haben unzählige Namen und nehmen vielerlei Gestalt an.

Wir können die Wesen nur sehen, wenn sie sich uns freiwillig zeigen. Und das tun sie immer wieder, zu allen möglichen Gelegenheiten. Wer hat beispielsweise beim Betreten eines dunklen Waldes nicht schon einmal das Gefühl gehabt, aus dem Verborgenen beobachtet zu werden? Oder wenn eine Person auf rätselhafte Weise verschwindet, Milch über Nacht sauer wird, auf dem Dachboden unheimliche Geräusche ertönen oder ein Kind wie aus dem Nichts von einer unerklärlichen Krankheit befallen wird … All das sind Zeichen für die Gegenwart übernatürlicher Wesen. Sie verkörpern die Natur in ihrer Launenhaftigkeit und sind buchstäblich eins mit ihr.

In früheren Zeiten wurden sie als selbstverständlicher Teil der Welt akzeptiert und als Mahnung an den Menschen, respektvoll mit der Natur umzugehen.

Die andere Welt

Die Wesen leben mitten unter uns und zugleich in einem eigenen, abgeschiedenen Reich. Man nennt sie häufig die Unterirdischen, denn sie wohnen zum Teil unter der Erde – unter Steinen, Baumwurzeln, Häusern oder Bergen. Gerne auch in alten Grabhügeln. Ihre Behausung liegt in der anderen Welt, der Unterwelt, einem Schattenreich jenseits der menschlichen Lebenswelt.

Zeit und Raum funktionieren dort anders als bei uns. Etwas scheinbar Kleines kann riesig sein, ein Augenblick kann jahrelang währen. Menschen, die im Reich des sogenannten kleinen Volkes waren, berichten von gewaltigen Sälen, deren Eingang sich zum Beispiel unter einem Stein in einem winzigen Garten befinden kann, in dem eigentlich nicht einmal ein Erdkeller Platz hätte. Es gibt Geschichten von nächtlichen Wanderern, die von Elfen zum Tanz verführt wurden und beim Erwachen feststellen mussten, dass statt einer durchtanzten Nacht ein halbes Jahrhundert vergangen war.

Aus dem antiken Griechenland stammt die Vorstellung der anima mundi, der Weltseele, ein Ort, an dem kosmische und irdische Welt zusammentreffen. Dieser Ort ist bevölkert von Geisterwesen, Daimones genannt. Aus diesem Begriff hat sich später auch das Wort Dämon entwickelt. Zu den Daimones zählen Nymphen, Dryaden, Satyre und andere Luft- und Naturgeister.

In Großbritannien steht der Begriff Faerie für einen Ort und ist zugleich ein Sammelbegriff für die dort vorkommenden Elfenvölker.

Es gibt die Wesen auf der ganzen Welt, aber die Variantenvielfalt ist groß. In Europa und auf den britischen Inseln dominieren die Elfen, und sie tragen viele verschiedene Namen: In England heißen sie Fairies, in Irland Daoine Sidhe, Tylwyth Teg nennt man sie in Wales, Fées in Frankreich, Fada in Spanien und so weiter. In den slawischen Ländern dominieren verschiedene Nymphenwesen, die Macht über die Natur haben, wie etwa die Wila und die Rusalka. Daneben gibt es andere Wesen, zum Beispiel Vampire und Domovoi, die an unsere Wichtel oder Hausgeister erinnern. In Malaysia findet man die Bediari, die große Ähnlichkeit mit den europäischen Elfen haben, und die Orang Bunian, die eher unseren Trollen ähneln. In Japan sind die Mononoke heimisch, die in vielerlei Gestalt auftreten – vom bösartigen Dämon Oni bis hin zu Tiergeistern, von Drachen bis hin zu anderen Monstern. Die Liste könnte unendlich weitergeführt werden.

Auch im Norden gibt es lokale Unterschiede. Süd- und Mittelschweden sind die Domäne des Trolls, in den nördlichen Landesteilen besteht die größte Chance – oder je nach Perspektive das größte Risiko –, auf Vitter, kleine Erdwichtel, zu stoßen. In Dänemark leben die Elfen in Hügeln, und in Norwegen trifft man eher Hulder an. Manche Wesen sind sehr eng mit den lokalen Sitten und Gebräuchen verknüpft, eins der besten Beispiele dafür sind die finnischen Sauna-Wichtel, Saunatonttu genannt, deren Aufgabe darin besteht, für Ordnung in der Sauna zu sorgen und achtzugeben, dass sich dort niemand danebenbenimmt.

Manche Naturwesen können dem Menschen gefährlich werden, und die sicherste Art, sich zu schützen, ist, den Umgang mit ihnen so weit wie möglich zu vermeiden.

Die Natur der Unsichtbaren

Zu den nordischen Wesen zählen unter anderem die Naturwesen. Genau wie die Natur selbst sind sie nicht grundsätzlich gut oder böse, sondern oft einfach launisch. Und sie haben, wenn überhaupt, andere moralische Regeln als wir Menschen. In einem Moment geben sie sich freundlich und großzügig, um sich nur einen Augenblick später bösartig und rachsüchtig aufzuführen. Sie sind stolz und empfindlich und vergessen so schnell keine Kränkung. In ihrer Wildheit und Anarchie ähneln sie in vielerlei Hinsicht eher Kindern als den durch die Zivilisation geformten erwachsenen Menschen. Sie tun schlicht und ergreifend, was ihnen in den Sinn kommt. Es ist grundsätzlich ratsam, Trollen oder Elfen freundlich zu begegnen, aber niemals etwas von ihnen anzunehmen. Ansonsten besteht die Gefahr, in ihre Gewalt zu geraten.

Entsprechend den Naturkräften, die sie repräsentieren, nehmen die Wesen im gleichen Maße, wie sie geben. Wasser kann lebensspendend sein, aber auch zu einer Todesfalle werden. Und ein Wassergeist kann Fangglück bescheren, den unvorsichtigen Fischer jedoch in der nächsten Sekunde in die Tiefe ziehen.

Wald- und Wassergeister haben außerdem die Angewohnheit, sich in Menschen zu verlieben, und scheuen dann keine Mittel und Wege, diese in ihr Reich zu locken. Eine Erklärung für die Schwärmerei mancher Naturwesen für den Menschen ist sicherlich, dass sie selber keine Seele besitzen – denn die einzige Möglichkeit, eine solche zu bekommen, ist die Vermählung mit einem Menschen. Manche Naturwesen können dem Menschen gefährlich werden, und die sicherste Art, sich zu schützen, ist, den Umgang mit ihnen so weit wie möglich zu vermeiden.

 

Nach der Christianisierung des Nordens waren diese Kreaturen kein Teil der christlichen Gemeinschaft mehr. Magie und Hexerei wurden von der Kirche verboten, und auch die Beschäftigung mit den Hausgöttern der alten Zeiten galt als eine Sünde gegen den Allmächtigen. Aus dem Blickwinkel der Kirche gehörten Trolle und andere heidnische Geisterwesen zum Gefolge des Teufels, und wer sich mit ihnen abgab, riskierte, in der Hölle zu enden. Es kam beispielsweise immer wieder vor, dass Männer, die verdächtigt wurden, sich mit einem Waldgeist eingelassen zu haben, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.

 

Manche Wesen verzehren sich nach der Seligkeit, die ihnen verwehrt ist.

So auch in der Sage von dem Mann, der auf dem Heimweg an einem Fluss vorbeireitet, an dessen Ufer der Nöck sitzt und zum Spiel seiner Flöte singt:

»Am Jüngsten Tag, am Jüngsten Tag,

da wird mir Gottes Gnad zuteil.

Am Jüngsten Tag, am Jüngsten Tag,

da wird mir Gottes Gnad zuteil.«

 

Der Mann rief dem Nöck zu: »Du bist ein Geisterwesen und kannst niemals selig werden. Dass du ins Himmelreich kommst, ist genauso unmöglich, wie dass die Reitgerte in meiner Hand grüne Blätter austreibt.«

Als der Nöck das hörte, ließ er seine Fiedel sinken und verschwand bitter weinend im Fluss. Der Mann aber ritt weiter, und nach einem kurzen Stück Weges sprossen grüne Knospen aus seiner Gerte.

Aussehen

Eine eindeutige Beschreibung der Naturwesen ist schwierig, da selbst die Vertreter einer Art von unterschiedlichen Erzählern oder in unterschiedlichen Gegenden der Welt ganz anders dargestellt werden. Obendrein ändern viele dieser Wesen ihre äußere Gestalt, wie es ihnen gerade passt – ähnlich wie die Natur, die sich in permanentem Wandel befindet. Ein und dasselbe Wesen zeigt sich an einem Tag als Wichtel und bei der nächsten Begegnung als Katze oder Kröte. Die Wesen können in eleganten, prachtvollen Kleidern auftreten, glanzvoller als die reichsten Edelleute, aber ebenso gut mit der Natur verschmelzen, die Form eines verwitterten Baumstumpfes annehmen oder des Wurzelballens eines umgestürzten Baumes. Am häufigsten treten sie jedoch in menschenähnlicher Gestalt auf, und dann sehen sie aus wie ganz gewöhnliche Leute.

Die Größe variiert nicht nur zwischen den unterschiedlichen Naturwesensarten – selbstverständlich ist ein Riese größer als eine Elfe –, sondern auch bei miteinander verwandten Wesen. Manchmal sind Elfen winzig wie Mücken, dann wieder so groß wie kleine Kinder, und am häufigsten irgendetwas dazwischen. Genauso überragen Riesen uns Menschen in manchen Geschichten kaum, aber in anderen Erzählungen wachsen sie in den Himmel wie ein Berg.

Wie die Bezeichnung die Unsichtbaren bereits andeutet, sind die Naturwesen meistens nicht sichtbar. Die wenigen einigermaßen formstabilen Wesen können sich mithilfe von Magie und Hexerei vor uns verbergen. In vielen Sagen tragen sie verzauberte Hüte, Mützen oder Umhänge, mithilfe derer sie sich tarnen. Nur an einem Sonntag Geborene, sogenannte Sonntagskinder, können die Wesen sehen. Es gibt allerdings auch ein paar Tricks für gewöhnliche Menschen. Wer sich die Augen mit einer Zaubersalbe der Wesen einreibt, kann sie ebenfalls sehen. Gleiches gilt für Menschen, die in den Besitz einer verzauberten Unsichtbarkeitskappe gekommen sind.

Ursprung

Es gibt diverse Erklärungen für den Ursprung der Naturwesen. Die einen glauben, es handele sich um alte Halbgötter, die seit vorheidnischer Zeit über Berge und Seen regieren. Früher wurden sie von den Menschen verehrt, später vom Christentum verdrängt. Aber sie sind nicht gänzlich verschwunden, fristen ein kümmerliches Dasein mit stetig schrumpfender Macht. Das könnte ein Grund für die Feindseligkeit sein, die sie hin und wieder den Menschen gegenüber an den Tag legen.