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Für meinen Vater.

Danke, dass du mir deine Geschichten erzählt hast.

Die Zukunft sieht gut aus

Ezinma fummelt mit dem Schlüssel am Schloss herum und sieht nicht, was hinter ihr geschah: ihr Vater als kleiner Junge, als er noch um die Zuneigung seiner Mutter kämpfte. Seine Großmutter, ausgelaugt von der Arbeit für die Frauen, deren Häuser sie sauber hielt, deren Wäsche sie wusch, deren Kindern sie die Ärsche abwischte, ausgelaugt von den Knochen eines Ehemanns, der viele Söhne wollte, und den Männern, die sie unterhielt, damit sie sie ihm geben konnte, sie sorgt für ihn mit der funktionalen Perfek­tion einer Krankenschwester bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr und stirbt mit einem langen, erschöpften Seufzer in ihrem Bett.

Für seine Stiefmutter ist er wie ein streunender Hund, der oft genug auftaucht, sodass sie ihn wiedererkennt, aber sie würde ihn niemals reinlassen. Sie tanzen umeinander herum, der Junge tänzelt bedürftig auf sie zu, die Frau pirouettiert von ihm weg. Sie wuchs als älteste Tochter von zu vielen auf und weiß, wie die Bedürfnisse eines Kindes die Träume eines Mädchens zerstören können. Der Junge sieht nur den ihm zugedrehten Rücken, die Abweisung, und der Vater ignoriert alles, geblendet von dem Entzücken eines alten Mannes über eine junge Frau, die noch frisch zwischen den Beinen ist. Diese wird er mit niemandem teilen. Und als der Junge fünfzehn ist und vom Markt zurückkehrt, findet er seine Habseligkeiten in zwei Plastiktüten vor der Haustür, er klopft nicht einmal, um herauszufinden, warum, oder um zu fragen, wohin er gehen soll, sondern haust mit zwei anderen mutterlosen Jungs in einem verlassenen, halb fertigen Bungalow, wo seine beiden besten Hemden gestohlen werden, und er lernt, sein Geld immer und zu allen Zeiten bei sich zu tragen. Er bettelt, er verkauft Altmetall, er stiehlt, und Letzteres fällt ihm so leicht, dass es zu seinem Ausweg wird. Er fängt klein an, mit Taschendiebstählen und Waren, die er von schlecht gehüteten Marktbuden klaut. Er lernt, wie man Schlösser knackt, Wagen kurzschließt, seine Fingerfertigkeit verfeinert.

Als er einundzwanzig ist, kommt der Krieg, und während Menschen auf den Straßen jubeln und »Biafra! Biafra!« rufen, hortet er Güter. Als die Güter rar werden, macht er ein Vermögen. Als das Essen rar wird, überfällt er mitten in der Nacht Bauernhöfe, und dabei wird er seine Frau kennenlernen, und deshalb sieht Ezinma, die mit dem Schlüssel am Schloss herumfummelt, nicht, was hinter ihr geschah: ihre Mutter im Alter von zweiundzwanzig, nicht schön, aber mit dem frischen Aussehen einer Frau, die nie hungern musste.

Ihre Mutter ist ein freches Mädchen, das sich mehr nimmt, als ihr zusteht. Es ist das Jahr 1966, Monate bevor sich alles ändert, und sie befindet sich auf einer Party von Freunden ihrer Eltern, und dort ist ein Mann mit einer Haut so gelb wie eine Mango und einem kantigen Kinn und einem Körper wie die Statue von David und jeder Menge Geld. Die unverheirateten Frauen rüsten auf (gewinnendes Lächeln, strammer Ausschnitt, gefällige Persönlichkeit) und ziehen in den Krieg um ihn. Als sie als Siegerin hervorgeht, nimmt sie dies als gerechten Lohn an.

Nach fast einem Jahr der Brautwerbung bricht der Krieg aus. Ihre Leute sind Biafra-Loyalisten, seine Leute halten Ojukwu für einen Idioten. Am Abend ihrer Verlobungsfeier erscheinen nur ihre Leute. Und als sie am nächsten Tag zu ihm geht, stellt sie fest, dass er das Land verlassen hat.

Ihre Familie und sie sind bald gezwungen, aus der Stadt zu fliehen. Sie sind bald gezwungen, das bisschen, was sie tragen konnten, einzutauschen. Sie sind bald gezwungen, fast schon zu betteln, und zum ersten Mal in ihrem Leben ist das Essen so knapp, dass sie sich nachts auf Bauernhöfe schleicht und heimlich die zarten, noch nicht ausgewachsenen Maiskolben erntet. Vom Kochen werden sie so weich, dass sie auch den inneren Kern und die faserige Hülse mitisst. Eines Nachts stößt sie auf eine kleine Farm hinter einem Hügel, und dort trifft sie auf einen Mann, der die neuen Süßkartoffeln stiehlt, die eigentlich ihr zustünden. Es kann nicht zu einer Auseinandersetzung kommen: Er ist wohlgenährt und stark, und selbst wenn sie aus Trotz Alarm schlagen würde, könnte er sie zum Schweigen bringen. Aber er legt den Finger auf seine Lippen und reicht ihr eine Süßkartoffel. Und weil sie ist, wie sie ist, gestikuliert sie, dass sie zwei weitere will. Er gibt ihr noch eine, und sie verzieht sich. Als sie in der nächsten Nacht zu der Farm zurückkehrt, wartet er dort auf sie. Sie setzt sich zu ihm, und sie lauschen den Grillen und dem Atem des anderen. Als er seinen Arm um sie legt, kuschelt sie sich an ihn und weint zum ersten Mal seit ihrer Verlobungsfeier vor vielen Monaten. Als er ihr eine Süßkartoffel in den Schoß legt, lacht sie. Und als er ihre Hand nimmt, denkt sie: Ich bin drei Süßkartoffeln wert.

Sie wird zwei Töchter bekommen. Die erste nennt sie aus Trotz Biafra, wie um zu sagen: Sieh mal, Mutter, setze deine Hoffnungen auf ein anderes zerbrechliches Ding. Und die zweite heißt nach ihrer Mutter, die mittlerweile verstorben ist und nicht wissen kann, dass ihre Tochter ihr vergeben hat, dass sie sich für die Verliererseite entschieden hat, und auch nicht, dass sie ihr jüngstes Kind Ezinma nennt, die mit dem Schlüssel am Schloss herumfummelt und nicht sieht, was hinter ihr geschah: ihre Schwester, die von allen nur Bibi genannt wird, weil es Unsinn ist, ein Kind nach einem Land zu nennen, das nicht mehr existiert.

Bibi ist auf eine Art schön, wie es ihre Mutter nie war. Bibi ist stur, wie es ihre Mutter immer war. Sie bekriegen sich, seit sie Bibi in ihrem Schoß trug und das Kind so schwer auf den Muttermund drückte, dass schon ein leichtes Rütteln es herausbefördert hätte. Während Bibis Mutter das Bett hüten musste, fing sie an, ihr Kind zu hassen, und kochte so sehr vor Wut, dass das Mädchen eigentlich in ihrem Bauch hätte verglühen müssen. Und drei Jahre später kommt Ezinma, ja, hübsch, aber auf eine handhabbare Weise, die wenig Ärger macht. Sie ist ein schwacher Abklatsch von Bibi, blasser im Ton und in der Persönlichkeit, aber auf die Art süß, wie Bibi auch sein kann, wenn sie etwas will. Bibi verabscheut sie. Nein, Ezinma kann Bibis Spielsachen nicht haben. Nein, Ezinma kann nicht mit Bibi und ihren Freundinnen zusammen zur Schule gehen. Nein, Ezinma kann kein Kissen haben, sie soll einfach ein paar Papiertücher zusammenknüllen und sich damit zufriedengeben. Ezinma wächst damit auf, sich nach der Zuneigung ihrer Schwester zu sehnen.

Als Bibi einundzwanzig ist und ihre Eltern Schwierigkeiten haben, die Studiengebühren zu bezahlen, lernt sie Godwin kennen. Er hat gelbe Haut und ein kantiges Kinn wie sein Vater, und sie verliebt sich in ihn. Sie verliebt sich umso heftiger, als ihre Mutter sie vor ihm warnt. Und als ihre Mutter sie bedrängt und sagt: Du weißt nicht, zu was seine Leute fähig sind, aber ich schon, sagt Bibi: Du bist nur wütend und verbittert, weil ich einen besseren Mann gefunden habe als du, und ihre Mutter schlägt sie, und damit ist das Gespräch beendet. Ezinma fungiert als Vermittlerin, eine Rolle, in die sie seit ihrer Jugend gezwungen wurde, und sie hält Bibi auf dem Laufenden, was Neuigkeiten innerhalb der Familie betrifft, obwohl ihre Mutter von Ezinma gefordert hat, Bibi außen vor zu lassen.

Und Godwin ist ein besserer Ernährer als Bibis Vater, heute ein einfacher Händler. Er mietet ihr eine Wohnung. Er leiht ihr ein Auto. Er blendet sie mit zahlreichen Geschenken und Dingen, die sie nie zuvor kannte, wie Geld auszugeben oder Orgasmen. Dann spricht sie eines Tages von Heirat, und er geht, und sie kann ihn zwölf Tage lang nicht erreichen. Zwölf Tage, die ihr Bankkonto deutlich schmälern. Zwölf Tage, in denen sie in einer Wohnung sitzt, die auf seinen Namen läuft, ein Auto fährt, das auch auf seinen Namen läuft, und sich fragt, was an seinem Namen so besonders ist, dass er ihn ihr nicht geben will. Und als er schließlich zurückkehrt und sieht, dass sie ausziehen will, packt er ihr Haar, reißt daran, schreit sie an, auch dies würde ihm gehören, und es trifft sie hart … der Schlag seiner Faust, aber auch die Einsicht, dass ihre Mutter vielleicht doch recht hatte.

Es ist kein zärtliches Wiedersehen. Bibis rechtes Auge ist fast völlig zugeschwollen, die Lippen ihrer Mutter sind fest aufeinandergepresst, und die beiden sehen sich weder an noch reden sie miteinander. Ihr Vater, der die Spannungen zwischen den beiden Frauen noch nie ertragen konnte, wird an seine turbulente Kindheit erinnert, tätschelt Bibis Schulter und geht fort, und es ist diese sanfte Berührung, die sie zu Tränen rührt. Schon bald fängt sie an zu schluchzen, und ihre Mutter verzieht immer noch keine Miene, aber es ist ein nasses Gesicht, das sie wegdreht, damit es niemand sehen kann. Ezinma bringt Bibi ins Bad, es ist dasselbe Bad, das sie sich geteilt haben und wegen dem sie sich gestritten haben, seit sie alt genug waren, um zu sprechen. Sie setzt sie auf den Klodeckel und säubert ihre Wunden. Als sie fertig ist, sieht es immer noch schrecklich aus. Als Bibi aufsteht, um sich ihr Gesicht anzusehen, zeigt der Spiegel sie beide. Ich sehe immer noch schrecklich aus, sagt Bibi. Ja, das stimmt, antwortet Ezinma, und gleich darauf lachen sie, und in ihrem Spiegelbild erkennen sie zum ersten Mal, dass sie exakt das gleiche Lächeln haben. Wie kann es sein, dass sie es so lange nicht bemerkt haben? Sie wissen es nicht. Bibi macht sich Sorgen um ihre Sachen, die immer noch in der Wohnung sind. Ezinma sagt, das sei kein Problem, sie würde sie holen. Warum bist du immer noch so nett zu mir?, fragt Bibi. Gewohnheit, sagt Ezinma. Bibi denkt einen Moment lang darüber nach und sagt dann etwas, das sie noch nie zu ihrer Schwester gesagt hat. Danke.

Und deshalb fummelt Ezinma mit dem Schlüssel am Schloss herum und sieht nicht, was hinter ihr geschah: Godwin, der unter der zerstörerischen Nachsicht seines Vaters aufwuchs. Godwin, der so wenig daran gewöhnt ist, ein Nein zu hören, dass es ihn wie Säure trifft, die den oberflächlichen Anstand eines Menschen zersetzt, der immer bekommt, was er will. Godwin, der sein Cello zerschlug, als er feststellen musste, dass sein jüngerer Bruder besser spielen konnte, was ihn nun hierhergebracht hat, wo er zusieht, wie Ezinma – die von hinten genau wie ihre Schwester aussieht – mit dem unvertrauten Schlüssel am Schloss von Bibis Wohnung herumfummelt, sodass sie nicht sieht, was hinter ihr geschieht: Godwin, mit einer Pistole, mit der er ihr in den Rücken schießt.

Kriegsgeschichten

Diesmal stritten sich meine Mutter und ich wegen etwas, das ich in der Schule getan hatte, um ein für alle Mal zu beweisen, dass Anita Okechukwu keinen BH trug. Dass Anita und ich dabei mitten auf dem Spielplatz gewesen waren, hatte mich nicht weiter gestört, dass dort Jungs gewesen waren, hatte mich auch nicht gestört, aber Anita Okechukwu war sehr viel sensibler als ich.

»Nwando, du kannst nicht einfach so anderer Leute Blusen aufmachen«, sagte meine Mutter, nachdem sie hinter Mrs. Okechukwu die Tür geschlossen hatte. Mrs. Okechukwu, eine breitschultrige, breithüftige Frau, deren Bedarf an einem BH außer Frage stand, hatte eine Entschuldigung verlangt und zudem eine Erklärung, und meine Mutter war bereit für Ersteres, aber unsicher, was Letzteres betraf. Deshalb rief sie mich auf die Veranda, damit ich mich erklärte. Ich wollte ihnen sagen, dass Anita den Girl Club gegründet hatte, nachdem sie behauptet hatte, ihr Vater hätte ihr teure BHs aus London geschickt, umsäumt von hauchdünner Spitze und weichen Schleifen und mit Feenschimmer bestreut, und dass sie die Regel aufgestellt hatte, nur Mädchen mit BHs könnten dem Girl Club beitreten, und dass man, wenn man nicht im Girl Club war, nicht im Mädchenbereich sitzen durfte, und mit den Jungs spielen musste. Anita entschied, wer Girl wurde, indem sie jede Bewerberin hinter das Schulgebäude begleitete, um zu überprüfen, ob sie das erforderliche Wäschestück trug. Wenige Minuten später kamen sie zurück, die BH-Prinzessin gefolgt von ihrer neuesten Hofdame. Während sich alle darum rissen, ein Girl zu werden, liehen sich Freundinnen gegenseitig ihre Unterwäsche, und die abgelehnten Bewerberinnen schmorten in ihrer Verbitterung, aber keine hatte jemals daran gedacht zu überprüfen, ob Anita wirklich die BHs besaß, die sie uns in einem Katalog gezeigt hatte.

Die hochgezogenen Augenbrauen meiner Mutter fragten: Nun?, und Mrs. Okechukwu sah mich finster an, bis meine nuancierte Verteidigung auf »Ich wollte ihren BH sehen« zusammenschrumpfte. Meine Mutter rieb sich die Nase, und Mrs. Okechukwu murmelte etwas von Mädchen, denen man zu Hause keine Manieren beibrachte. An dem Punkt wurde meine Mutter wütend. Ich bemerkte es daran, wie sich ihre linke Schulter nach vorn krümmte, während sie versuchte, keine Faust zu ballen, und wie sie ihre Lippen so fest zusammenpresste, dass sie verschwanden. Sie blieb Anitas Mutter gegenüber höflich, aber ihr Blick brannte Löcher in mich hinein.

»Warte, bis dein Vater davon erfährt«, war ihr letztes Mittel. In solchen Momenten wurde ich zur Tochter meines Vaters, zu einer verstörenden Kreatur, die zweifellos etwas von dem Wahnsinn seiner verrückten Vorfahren geerbt hatte. Ich war sein Problem, er hatte sich zu kümmern.

Das Abendessen lief darauf hinaus, dass meine Mutter selbstgefällig vor sich hin kaute, während ich versuchte, das Gari an dem Kloß in meinem Hals vorbeizuwürgen. Mein Vater sagte nichts.

Während meine Mutter den Tisch abräumte, baute er das Schachbrett auf der Veranda auf. Ein unregelmäßig durchgeführtes Ritual, mit dem er begonnen hatte, als wir vor ein paar Monaten nach Port Harcourt umgezogen waren. Ich diente als Ersatz für Emmanuel, den alten Freund meines Vaters, und sollte mit ihm Schach spielen und Geschichten austauschen, aber mir ein Bier zu bringen ging meiner Mutter zu weit. Ich war eine schlechte Strategin und deshalb keine große Herausforderung, aber mein Vater war ein stiller Mann, dem es schwerfiel, Freundschaften zu schließen, weshalb ich ihm reichte.

»Also, was ist dran an der Sache, von der mir deine Mutter erzählt hat?«, fragte er und gab mir eine weitere Chance, mich zu erklären. Diesmal fand ich die Worte und erzählte meinem Vater von Anita und den BHs und den Machenschaften der Mädchen. Er hörte zu, ohne mich zu unterbrechen, und stahl mir meine Figuren, kaum dass ich sie bewegt hatte. Als ich fertig war, hing meine Geschichte zwischen uns in der Luft. Dann erzählte mein Vater eine von seinen.

»Als ich so alt war wie du, hat mein Lieutenant …«

»Du warst mit zwölf beim Militär?«, unterbrach ich ihn, weil ich den Hang meines Vaters zu Übertreibungen kannte. Emmanuel hatte sich ihn dafür immer zur Brust genommen und ihn mit Gelächter und »Wahrheit! Wahrheit!«-Rufen unterbrochen. In Emmanuels Abwesenheit fiel diese Aufgabe nun mir zu, aber mein Vater lächelte nicht.

»Lieutenant Ezejiaku war ein strenger Mann. Heute tut er mir leid, weil er von unreifen Jungs und Narren umgeben war und den Auftrag hatte, aus ihnen Männer für die Armee zu machen. Er weckte uns um drei Uhr morgens und ließ uns mit unserer Ausrüstung ums Lager laufen. Wenn wir uns beschwerten, rief er: ›Glaubt ihr, der Feind lässt euch erst mal einen Schubkarren holen, damit ihr eure Sachen besser transportieren könnt?‹ Manchmal weckte er zwei von uns per Zufall mitten in der Nacht zum Drillen auf. Wir stritten uns immer um die Schlafplätze, von denen wir glaubten, er würde sie in Ruhe lassen.«

»Geht es darum, wie er dir dein Gewehr abgenommen hat?«

Eigentlich sollte mir diese Geschichte irgendeine rätselhafte Lektion erteilen, aber mein Vater hatte sie mir während meines kurzen Lebens anlässlich so vieler unterschiedlicher Vergehen aufgetischt, dass sie völlig ausge­lutscht war. Ich musste sie mir anhören, als ich Lippenstift aus der Kommode meiner Tante geklaut hatte. Ich musste sie mir anhören, als mich meine Mutter dabei erwischte, wie ich Ameisen in eine Plastiktüte sammelte, um sie einer Schulkameradin ins Haar zu setzen. Ich musste sie mir anhören, nachdem ich mich mit den Kindern geprügelt hatte, die gesagt hatten, mein Vater sei komisch, und dann noch einmal, als ich gefragt hatte, warum Emmanuel nicht mehr zu uns nach Hause kommen konnte, und später dann, warum er getan hatte, was er getan hatte. Mein Vater erzählte niemals Geschichten aus der Zeit vor oder nach dem Krieg, als wäre er in der Kaserne geboren und in der Nacht der letzten Salve gestorben.

»Ja, es geht darum, wie er mir das Gewehr abgenommen hat, und es war ganz allein meine Schuld. Der Lieutenant hatte uns gegenüber immer wieder betont, wie wichtig es ist, unsere Waffen zu jeder Zeit in Sicht- und Reichweite zu haben. Eines Nachts saß ich am Feuer beim Essen und hatte mein Gewehr hinter mir abgelegt. Da muss es der Lieutenant genommen haben. Ich bekam Panik, als ich mein Gewehr nicht finden konnte, aber keine Sekunde dachte ich, er könnte es haben. Meine Freunde und ich wechselten uns mit der Wache ab, sodass ich eine Waffe hatte, wann immer eine Einheit ruhte. Dies ging über drei Tage gut, bis der ­Lieutenant alle Einheiten gleichzeitig für eine Inspektion mobilmachte. Als er zu mir kam, sah er mir in die Augen und reichte mir mein Gewehr. Ich habe noch nie in meinem Leben so schlimm geschwitzt.«

Mein Vater lachte schroff und laut, brach dann ab und starrte auf das Schachbrett. Er war so lange still, dass ich nicht wusste, ob er über seinen nächsten Zug nachdachte oder ob dies die Geburt einer seiner Elefantenhäute des Schweigens war, für die meine Mutter Tage brauchte, um sie abzupellen. Ich war schon kurz davor, aufzustehen und sie zu holen, als er meinem König mit seiner Königin Schach bot und fortfuhr.

»Ich wurde so kräftig ausgepeitscht, dass mein Rücken wie Tomatenpüree aussah. Anschließend begruben sie mich drei Tage lang im Sand. Danach ließ ich mein Gewehr nie wieder aus den Augen. Schachmatt.«

 

Am nächsten Tag wurde ich in der Schule als Heldin empfangen. Mitschülerinnen klopften mir auf die Schulter, und bald schon scharten sich die Mädchen um mich, die es nicht in Anitas Club geschafft hatten, und ein paar, die zwar drin waren, sich aber bei der neuen Führung einschleimen wollten. Indem ich Anita bloßgestellt und der Bestie den Kopf abgeschlagen hatte, wurde mir nun meine eigene Mädchenarmee beschert.

Während des Vokabelunterrichts bat uns Ms. Uche, ein Wort aus dem Wörterbuch auszusuchen und in einem Satz zu verwenden. Die Person mit dem besten Wort würde die Klasse morgen zur Schulversammlung führen dürfen.

»Ich fühle mich erhaben«, sagte ich, berauscht vor Macht.

»Sei nicht so unausstehlich.« Das kam von Femi Fashakin, einem molligen Mädchen mit einer Pickelplage im Gesicht. Sie gehörte dem Girl Club an und war nicht bereit, ihre Mitgliedschaft aufzugeben. Ms. Uche, von der Übung längst gelangweilt, schritt ein.

»Warum befragen wir nicht die Klasse? Klasse, welches Wort ist besser, erhaben oder unausstehlich?«

Meine Armee antwortete wie ein geübter Chor. »Erhaben!« Und Femi Fashakin wurde in ihre Schranken ver­wiesen.

Anita Okechukwu erging es noch schlechter. Sie war vor dem angeblichen BH-Erwerb schon nicht beliebt gewesen, und ihr einziger Ruhm hatte darin bestanden, dass ihr kleiner Bruder ein Albino war, was sie sich allerdings schwerlich selbst zuschreiben konnte. Aber sie hatte es versucht, und ihr unablässiges Gerede über einen Dreijährigen verschaffte ihr den Ruf, etwas seltsam zu sein. Nun war sie noch tiefer gesunken. Die Mädchen zeigten auf sie und lachten sie aus, was ja auch zu erwarten gewesen war. Was ich nicht erwartet hatte, waren die Jungs, die ihr in der Pause hinterherliefen und den Rock hochhoben, als hätten sie durch meine Tat die Erlaubnis dazu erhalten, als hätten sie, nachdem sie ihre nackten Brüste gesehen hatten, ein Anrecht darauf, auch den Rest zu sehen. Es war eine jungenhafte Erwartung, aus der die meisten auch nicht herauswachsen würden, wenn sie bereits Männer waren.

Anfangs schrie Anita auf und schob ihren Rock runter und verjagte die Täter, aber bald schon zerbrach etwas in ihr, und obwohl sie weinte, versuchte sie nicht mehr, sie abzuhalten. Dadurch sagte man ihr bald nach, sie sei leicht zu haben, was sie weit über ihre Mädchenjahre hinaus begleiten würde.

Ich widerstand dem Drang, zu Anita zu gehen, und gesellte mich stattdessen zu der Gruppe von Mädchen, die meine Anweisungen erwarteten. Wir saßen im Kreis und sahen einander an. Ich hockte auf einer alten Getränkekiste. Damaris Ndibe, die sich selbst zu meiner Stellvertreterin ernannt hatte, zerrte ein kleineres Mädchen nach vorn und stellte sie vor mich.

»Sie hat gelogen, was den Job ihres älteren Bruders angeht.« Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass ich die Sache irgendwie klären sollte. Der Vorfall mit Anita machte mich zur Vollstreckerin der Schulhofselbstjustiz, aber mir war der Appetit an der Wahrheit vergangen.

Ich spielte auf Zeit.

»Wie heißt dein Bruder?«

»Emmanuel«, flüsterte sie, und obwohl es sich nicht um meinen Emmanuel handelte, brachte die Art, wie sie seinen Namen sagte, irgendetwas in ihrem Tonfall, alles zurück. Emmanuels lebhaftes Lachen, wie er mir die Haare zerzaust und meine Zöpfe hochgezogen hatte, um mich größer zu machen. Die Geschichten und Witze, die er mit meinem Vater ausgetauscht hatte. Sein wachsender Missmut, seine Zornesausbrüche, das anschließende Weinen. Meine Mutter zerrte mich weg von dem Ort, an dem ich gelauscht hatte, und steckte mich ins Bett. Nachdem Emmanuel gegangen war, hörte ich sie streiten, hörte die erhobene Stimme meiner Mutter sagen: »Das ist nicht richtig, Azike, er ist nicht richtig. Ich will ihn hier nicht haben.« Aber in der folgenden Woche war er wieder da, und manchmal war alles in Ordnung mit ihm und manchmal nicht, und manchmal zog er an meinen Zöpfen und manchmal nicht, aber er war immer da. Bis er es nicht mehr war.

Etwas sammelte sich in meiner Faust und juckte, dann wurde es immer stärker und mündete in einem stechenden Schmerz, den ich nicht abschütteln konnte. Ich schlug dem Lügenmädchen auf die Nase.

Damaris war die erste Abtrünnige. Sie führte das blutende, zutiefst verstörte Mädchen fort und warf mir verächtliche Blicke über die Schulter zu. Andere folgten augenrollend und flüsterten Beleidigungen. Am Ende des Tages war ich eine Königin ohne Bauern.

 

Meine Mutter war wütend. Diesmal gab es keine halb ernsten Drohungen, meinem Vater davon zu erzählen, keine scherzhaften Erklärungen, welche unverbesserlichen Züge ich von seiner Seite wohl geerbt haben mochte. Sie versohlte mir den Hintern, was sie schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Es fühlte sich seltsam an, wie Rückwärtslaufen.

Während des Abendessens, das ich nicht zusammen mit meinen Eltern einnehmen durfte, saß ich auf einem Hocker in der Küche und linderte den stechenden Schrapnellschmerz an meinem Hintern mit Tagträumen davon, wie aufgebracht meine wahren Eltern sein würden, wenn sie herausfänden, wie schlecht mich diese vorübergehenden Betreuer behandelten. Ich versuchte krampfhaft, nicht an das kleine Mädchen und ihre Nase zu denken und wie sie unter meiner Faust geknackt hatte. Ich versuchte krampfhaft, nicht an Emmanuel zu denken und wie ihn seine Schwester, bei der er immer noch gewohnt hatte, in seinem Schlafzimmer am Deckenventilator baumelnd fand. Als ich davon erfuhr und die volle Erkenntnis noch nicht ganz in mich eingedrungen war, stellte ich laut die Frage, ob seine Beine noch gezappelt hatten, wie bei den Hühnern, denen meine Mutter den Hals umdrehte, als wären sie nasse Handtücher. Meine Mutter hatte mir einen seltsamen Blick zugeworfen. Ich versuchte, nicht daran zu denken.

In den Tagen nach Emmanuels Tod versank mein Vater immer tiefer in der Seltsamkeit, die ihn schon sein ganzes Leben lang plagte. Sein wachsender Unmut, seine plötzlichen Wut- oder Frohsinnsausbrüche, die tiefe Stille, in die er verfiel und die so schwer auf ihm lastete, dass meine Mutter alle Mühe hatte, um sie zu vertreiben. Als sich meinem Vater die Gelegenheit bot, nach Port Harcourt zur dortigen Niederlassung der Ölfirma versetzt zu werden, ergriffen meine Eltern sie und hofften, die Distanz würde helfen.

Diesmal fragte mein Vater nicht, warum ich getan hatte, was ich getan hatte, was mir ganz recht war. Er stellte das Schachbrett auf, und wir fingen an zu spielen. Ab und zu kam meine Mutter an der Tür vorbei, ihre Schuhe klapperten ihren Ärger auf die Fliesen. Mein Vater hob jedes Mal den Blick, aber ich ignorierte sie. Er war so abgelenkt, dass es mir gelang, seine Königin in eine heikle Situation zu manövrieren.

Er hielt inne, lehnte sich zurück und legte den Kopf in seine verschränkten Hände. Ich kannte diese Haltung. Ich wusste, dass ich gleich wieder eine seiner alten Kriegsgeschichten zu hören bekommen würde.

»Wir waren in der Nähe einer kleinen Ortschaft irgendwo in Enugu stationiert, wo die einzige Sehenswürdigkeit die Fernstraße aus Beton war. Tagsüber war es heiß genug, um sich die Haut zu versengen, aber nachts kühlte es ab. Dann kamen die Schlangen raus. Dutzende. Sie schlängelten sich auf den Beton, der die Sonnenwärme bis tief in die Nacht hinein in sich hielt.«

Er nahm seine Königin in die Hand und streichelte sie liebevoll. Als meine Mutter wieder vorbeiging, war er zu sehr in seinen Gedanken verloren, um sie zu bemerken.

»Während die Schlangen schliefen, schlich sich Emmanuel auf Zehenspitzen an, schob sein Gewehr an ein zusammengerolltes Tier heran und schoss ihm den Kopf ab. Einige Minuten lang zuckte der Schlangenkörper herum, bis er still liegen blieb. Dann brachte Emmanuel die Schlange in unser Zelt, um sie zu kochen. Und der Geruch, der Geruch drehte mir den Magen um. Er lachte darüber, dass mir übel wurde, aber ich schlief lieber draußen, als mich deswegen zu streiten.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lieutenant Ezejiaku allzu erfreut über ihn war.« Ich hatte den Lieutenant liebgewonnen, ich stellte mir vor, dass er wie ein Vater für meinen Vater gewesen war.

»Es war ihm ziemlich egal, bis Emmanuel es übertrieb. Eines Abends gingen wir zusammen die Straße entlang, und da lag zusammengerollt auf dem Gehsteig die größte Schlange, die ich je gesehen hatte. Sie hatte einen größeren Umfang als meine beiden Beine zusammen. Emmanuel schlich sich wie immer an und schoss auf ihren Kopf. Die Schlange drehte durch. Sie wurde so wild, dass sie von der Straße abkam und im Gebüsch landete. Durch ihr Herumpeitschen zerstörte sie sogar eine der nahe gelegenen Hütten. Jedes Mal, wenn sie sich beruhigt hatte und Emmanuel sich ihr näherte, witterte die Schlange ihn und schnellte wieder ­umher.

Am nächsten Morgen kam der Lieutenant zu unserem Zelt und schleifte Emmanuel am Ohr heraus. Er deutete auf eine Reihe Dorfbewohner, die nicht weit entfernt stand. Er sagte: ›Sie wollen dich. Du hast ihre Götter getötet, und jetzt wollen sie, dass ich dich ihnen übergebe, damit sie ein Urteil über dich sprechen können.‹«

Mein Vater schwieg. Er schlug meinen Läufer.

»Ich hatte Emmanuel noch nie so still gesehen. Er sagte nur eins: ›Bitte.‹ Lieutenant Ezejiaku sagte zu ihm, wenn auch nur noch eine weitere Schlange zu Tode käme, würde er Emmanuel den Dorfbewohnern übergeben und großzügig darüber hinwegsehen, was sie mit ihm machten. Im Laufe des Tages versammelte sich eine Menschenmenge um die Schlange. Niemand wagte sich nahe genug heran, um sie zu berühren. Schließlich lief ein Junge, der kein Hemd trug, mit einem Stock zu ihr. Seine Mutter brüllte ihm hinterher, er solle zurückkommen. Er ignorierte sie, wie Jungs ihre Mütter eben ignorieren, und stieß die Kreatur mit dem Stock an. Es dauerte keinen Wimpernschlag, da hatte sich die Schlange so fest um den Jungen gewunden, dass seine Brust purpurrot anlief. Er versuchte, das Tier von sich abzustreifen, als wäre es eine zu enge Hose. Sekunden später war er tot. Erst vier Tage später starb die Schlange, und der Leichnam des Jungen konnte beerdigt werden.«

Etwas im Blick meines Vaters, etwas in seiner Stimme ließ vermuten, dass er gar nicht so viel von der Geschichte hatte erzählen wollen, dass er vielleicht vergessen hatte, wie sie endete.

»Und was ist dann mit dem Lieutenant passiert?«, fragte ich und wollte eine andere Geschichte hören, die diese auslöschte.

»Er starb, Nwando. Sie alle starben.«

»Und wieso bist du nicht gestorben?«

»Weil ich gerannt bin«, sagte er, »als es so weit war.«

Mein Vater nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche, dann konzentrierte er sich auf das Schachbrett. Der nächste Zug war offensichtlich, meine Königin war seinem Springer und Turm ausgeliefert. Aber er rührte sich nicht, und ich konnte sehen, dass sich der Schleier über ihn gelegt hatte. Meine Mutter, die an der Tür stehen geblieben war, um zuzuhören, kam und nahm mich mit. Sie trieb mich in mein Schlafzimmer und scheuchte mich ins Bett. Vollständig bekleidet deckte ich mich zu. Sie strich mir über den Kopf und erzählte mir eine Geschichte von sich, als sie noch ein kleines Mädchen war und ihre Cousine einen Termitenbau in einem Baumstamm fand, und die breiige Masse in seinem Inneren war wie Sirup, und sie rührten sie um wie Suppe. Ich lauschte mit jeder Faser, und sie erweckte die Geschichte zum Leben mit allem, was sie hatte.