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Bettina Belitz

Saphir
Für immer vereint

KOSMOS

Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg unter Verwendung von folgenden Motiven: Pferdemotiv: fotolia/ AnnaElizabeth, Ornament: fotolia/ svaga

Bisher erschienene Bücher dieser Reihe:

Saphir – Rebellische Herzen

Saphir – Ungezügelt in die Freiheit

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© 2019, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50000-2

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Tapetenwechsel

„Und, was meinst du?“

Steffen ist nervös. Er versucht, sich cool zu geben, aber seine Finger zittern leicht, als er sich halb von mir wegdreht und ins Wohnzimmer zeigt, wo lediglich eine nackte Glühbirne von der Decke baumelt und weiße Vierecke an den vergilbten Wänden verraten, dass hier vor Kurzem noch Bilder gehangen haben.

Jetzt ist es ein leerer, kalter Raum in einem leeren, kalten Haus – ein Haus, in dem Steffen und ich bald wohnen könnten. Nicht als ehemaliges Straßenmädchen und sein Betreuer in einer Wohngruppe zusammen mit anderen sogenannten schwer erziehbaren Jugendlichen, sondern als Tochter und Vater. Noch immer kann ich mir es nicht vorstellen und auch ich bin nervös. Doch mir sieht man es nicht direkt an. Ich zittere innerlich.

„Roxy?“ Steffen fährt sich mit der Linken über seine Brusttasche. Er sucht nach seinen Zigaretten, aber die liegen im Auto. „Wenn es dir nicht gefällt, kann ich auch weitersuchen, wir können …“

„Nein“, unterbreche ich ihn heiser und huste den Frosch in meinem Hals weg. „Nein, es ist … es ist okay.“

Das Haus ist in Ordnung. Ich weiß nur nicht, wie das werden soll, mit uns beiden als Mini-Familie ohne die ganzen WG-Regeln. Erst vergangene Woche hat Steffen erfahren, dass wir unsere Adoptions-Probezeit beginnen können. Und jetzt stehen wir schon zusammen in einem Haus am Stadtrand, das Steffen sofort mieten könnte – wenn ich zustimme.

„Und groß“, füge ich hinzu, weil er mich fragend anschaut, als würde er mir nicht glauben. So viel Platz hab ich noch nie gehabt. Ich bin in einem Wohnwagen geboren und habe anschließend nur kleine Zimmer in kleinen, engen Wohnungen gehabt, für mich ist das wirklich großzügig hier.

„Natürlich würde ich einiges renovieren, den Boden erneuern und die Wände streichen … Die Substanz ist gut und mit Möbeln wird es schon gemütlicher aussehen …“ Er wendet seine dunklen Augen nicht von mir ab, als er mit den Schultern zuckt und verhalten lächelt. „Es wäre unser Zuhause, Fledermaus.“

„Ja.“ Meine Stimme hat sich schon wieder verabschiedet. Mein Herz scheint meine Kehle hinaufgekrochen zu sein und sie zu versperren.

„Wenn du magst, geh doch mal nach oben und schau dich um, das Zimmer auf der linken Flurseite könnte deines sein, ich muss gerade noch … oh, Augenblick.“ Sein Diensthandy hat zu klingeln begonnen. Steffens Gesicht verfinstert sich, als er auf das Display schaut. „Diana. Da muss ich ran. Ich habe ihr …“ Er seufzt. „Sie weiß es. Seit heute Morgen. Hab es ihr gesagt – also, dass ich den Antrag zur Adoption tatsächlich gestellt und genehmigt bekommen habe.“

Ui – und das wird ihr nicht gefallen haben. Ich hatte die beiden vor einigen Monaten in der Waschküche belauscht. In dem Gespräch hatte Steffen angedeutet, dass er mich gerne adoptieren würde – und daraus ist ein handfester Streit zwischen den beiden entstanden.

Wir haben es geschafft, dass niemand in der WG und vor allem Diana nichts von Steffens Adoptionsantrag erfahren hat . Es war klar, dass Diana versuchen würde, es Steffen auszureden. Sie hält nicht viel von mir und ich nicht von ihr – diesbezüglich sind wir uns einig.

„Okay, ich lasse dich alleine“, erwidere ich und bin froh, einen guten Grund zu haben, mich ohne ihn umzusehen. Außerdem will ich das Gespräch der beiden nicht mit anhören.

Flink husche ich die urige Holztreppe hinauf, deren Stufen unter dem Gewicht meiner Füße knarzen. Die Böden bestehen aus alten, abgetretenen Holzplanken, ich mag das. Und ich mag auch den Raum, der mein Zimmer werden soll – ich spüre es gleich, als ich ihn betrete.

Das Fenster zeigt auf den Garten hinaus, der ähnlich verwildert wirkt wie der unserer WG, doch der Raum ist größer als mein WG-Zimmer und vor allem heller. Bücherregale werde ich nicht hineinstellen, das Lesen fällt mir nach wie vor schwer. Aber ich kann mich frei in diesem Zimmer bewegen, freier als es in der WG jemals möglich gewesen ist.

Ausatmend setze ich mich auf den blanken, kalten Boden und lausche. Steffen läuft beim Telefonieren unten auf und ab, ich kann das Klacken seiner Stiefelsohlen hören, doch seine Stimme bleibt gedämpft, Worte dringen nicht bis zu mir nach oben. Ich bin ganz für mich. Ob das auch so sein wird, wenn wir hier einziehen? Und werde ich mich überhaupt daran gewöhnen – nach meinem Jahr auf der Straße und diesen langen Monaten in der WG? Für einen Moment ist mir so schlecht, dass ich kaum schlucken kann. Es könnte schiefgehen, wie die anderen Male in den Pflegefamilien auch. Ich vertraue Steffen, er würde mich niemals befingern wie Arndt es getan hat, und ich bin mir sicher, dass er mich auch nicht schlagen würde. Aber ich bin mir nicht sicher, wie ich sein werde. Und was es mit Steffen macht, wenn ich anders bin, als er es sich erhofft hat.

Vielleicht streiten wir uns nur. Oder er ist auf einmal strenger, als er es in der WG war, weil er unbedingt alles richtig machen will. Oder …

„Stopp“, sage ich warnend zu mir selbst. Denken hilft nicht weiter. Es ist wie mit Saphir. Wann immer ich versuche, ein Problem mit Saphir über den Kopf zu lösen, scheitern wir, denn dann entferne ich mich von ihm. Pferde können nicht wie Menschen denken. Wir sind eins, wenn ich ihm felsenfest vertraue – und mir selbst. Nur dann funktioniert es.

Und doch gibt es keine Garantie für Saphir und mich – und es gibt keine Garantie für Steffen und mich. Deshalb haben wir ja unsere Probezeit.

Ächzend strecke ich meine Beine aus. Der Stalldienst von gestern steckt mir noch in den Knochen – und der letzte Sturz von Saphirs Rücken, als er sich vor einer Spaziergängerin mit Kinderwagen erschreckt hat. Ich bin weich gefallen, doch mein Steiß beschwert sich seitdem bei jeder Bewegung.

Trotzdem gibt es nach wie vor kaum etwas Schöneres für mich, als bei den Pferden und mit Saphir zusammen zu sein, auch bei Regen, Eis und Schnee. Es lenkt mich von Nolan ab, den ich seit Wochen nicht gesehen habe, und außerdem werde ich so müde davon, dass ich schnell einschlafen kann, wenn der Abend in die Nacht übergeht – das war früher anders.

Auch jetzt gähne ich so herzhaft, dass meine Ohren dabei knacken und ich den Signalton meines Handys fast überhöre. Träge ziehe ich es aus meiner Hosentasche und wie immer schlägt dabei mein Herz höher, weil ich nicht weiß, ob Nolan mir eine Sprachnachricht geschickt hat … Nein, Anne hat geschrieben. Mit gerunzelten Brauen versuche ich, ihre Nachricht zu entziffern, und es dauert zähe Minuten, bis ich sie verstanden habe.

„Er ist da und ich brauche deine Hilfe … Er macht Schwierigkeiten.“ Smiley ohne Mund und Nase – Annes Lieblingssmiley, den verstehe ich sofort, aber ich wünschte, sie würde sich endlich merken, dass geschriebene Nachrichten für mich die Pest persönlich sind.

„Wer?“, sende ich zögernd zurück und kaum zeigen mir die beiden blauen Häkchen an, dass Anne die Nachricht gelesen hat, ruft sie an.

„Sorry, Roxy, ich hab vor lauter Aufregung vergessen, dass du nicht übers Handy schreiben willst …“

„Und auch nicht lesen. Wenn es irgendwie zu vermeiden ist …“, erinnere ich sie.

„Ja!“ Anne lacht verlegen auf, und ich kann hören, wie angespannt sie dabei ist. „Ich meinte Avalon. Er ist da. Seit gestern Abend. Ich dachte, du kommst vielleicht noch in den Stall?“

Avalon – das ist das junge Exmoor-Pony, das Annes Vater in England gekauft hat, jetzt erinnere ich mich wieder. Aber sollte es nicht erst im Februar kommen?

„Er ist schon da?“, vergewissere ich mich ungläubig.

„Ja, es gab wohl Probleme, ihn dort weiter unterzustellen. Der Bauer wollte ihn loswerden, weil er ja noch ein Hengst ist, und hat mit Schlachtung gedroht, deshalb ging alles schneller als geplant. Wo bist du?“

„Gar nicht so weit weg. In dem Haus, in das …“ Wieder muss ich mich freihusten. Es ist das erste Mal, dass ich jemandem davon erzähle. „… in das Steffen und ich vielleicht bald einziehen werden.“

Ein paar Sekunden lang herrscht Schweigen in der Leitung, dann holt Anne überrascht Luft.

„Ihr zieht zusammen? Dieser düstere Typ und du?“

„Er ist nicht düster. Er hat nur schwarze Haare und dunkle Augen.“

„Er ist düster“, beharrt Anne. „Könnte einer von den Outsidern sein.“

Ich muss kichern – wir haben den Film kürzlich zusammen mit Kathrin und den anderen beim weihnachtlichen Stall-Filmabend geguckt, und außer Wolf und mir haben alle am Schluss geheult. Sie hat gar nicht unrecht, Steffen würde gut in diesen Film passen, alleine wegen seiner Klamotten. Allerdings wäre er mindestens zwanzig Jahre zu alt für diese Jungs.

„Jedenfalls ziehen wir nicht einfach nur zusammen, sondern er – er will mich adoptieren.“

„Oh, okay, das … wow. Das wusste ich gar nicht.“

Ich antworte nicht – noch immer schleichen Anne und ich mehr umeinander herum, als dass wir viel miteinander reden. Und noch immer fällt es mir schwer, über mich und meine Vergangenheit zu sprechen.

„Ich wollte das nicht an die große Glocke hängen, bevor es nicht sicher ist, ob es auch klappt. Aber seinem Antrag wurde stattgegeben. So sagt man das doch, oder?“

„Ja, sagt man“, erwidert Anne nachdenklich. „Krass. Ich hätte Schiss vor dem. Aber du kennst ihn besser. Und du bist dann näher am Stall, ehrlich?“

„Ja. Wenn wir hier einziehen. Ich denke, das werden wir.“

Wieder schweigen wir ein Weilchen und in unserer gemeinsamen Stille erinnere ich mich plötzlich daran, warum Anne angerufen hat.

„Also, was ist mit Avalon?“

„Er steht jetzt mit Saphir zusammen auf einer abgetrennten Weide mit Zugang zum kleinen Paddock. Das ist dir doch noch recht, oder?“

„Ja, klar.“ Wir hatten darüber gesprochen, als Anne das Pony im Internet gefunden und ihr Vater es ihr gekauft hatte. Avalon darf nicht zu den Stuten, solange er nicht gelegt wurde, und Saphir ist anderen Pferden gegenüber extrem sozial und freundlich. Zumindest war er das bisher, auch wenn es im Sommer so ausgesehen hatte, als hätte er eine alte Stute getötet … Oh nein, bitte nicht. Bitte kein neuer Ärger. „Macht Saphir etwa Probleme?“

„Nein!“, antwortet Anne eilig. „Nein, gar nicht. Er lässt Avalon seinen Raum und hat ihn nicht ein einziges Mal in irgendeiner Weise attackiert. Es ist nur so, dass mein eigenes Pferd mich nicht an sich ranlässt.“ Jetzt klingt sie verzweifelt. „Sobald ich mich ihm nähere, dreht er mir den Hintern zu und läuft weg. Bei Kathrin ist es nicht anders. Er schlägt richtige Haken! Und Wolf muss sich nur an den Zaun stellen, da rennt er schon los, er mag wohl keine Männer. Übermorgen soll der Tierarzt kommen, er muss doch untersucht und außerdem bald gelegt werden … Ich kann ihm nicht mal ein Halfter überziehen! Kannst du vorbeikommen und versuchen, ihn einzufangen, bitte?“

„Anne, ich … müsste erst Steffen fragen. Und außerdem weiß ich nicht, ob ich dein Problem überhaupt lösen kann!“

Ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt will. Denn irgendwie kann ich Avalon verstehen. Er ist bei den Wildpferden im Exmoor-Hochland geboren worden und dort aufgewachsen, in einer Herde, bis er im Alter von drei Jahren von seiner Mutter getrennt und bei einem einheimischen Bauern auf die Wiese gestellt wurde. Jetzt hat er einen langen Transport hinter sich und zudem ist alles bei uns neu für ihn – die Umgebung, die Luft, die Enge der Weiden und der Paddocks, die Tränken, die Raufen, die anderen Pferde, die nicht so aussehen wie er, die vielen fremden Menschen. Ich würde es genauso machen und erst einmal niemanden an mich heranlassen. Doch das hilft Anne nicht weiter – und ihm auch nicht, denn untersucht werden muss er, daran geht kein Weg vorbei.

„Wenn es jemand kann, dann du. Bitte, Roxy. Du hast Saphir gezähmt … einen hypersensiblen Vollblut-Araber …“

Nein, das habe ich nicht. Ich habe nur akzeptiert, dass er ist, wie er ist. Und deshalb ist er mein Freund geworden – in einer Zeit, in der alle anderen ihn als Feind betrachteten. Manchmal kommt es mir vor, als würde ich mich an einen Albtraum erinnern, wenn ich daran zurückdenke, wie ich im Kastanien-Gestüt um Saphirs Leben gekämpft habe und Nolan ihn in letzter Sekunde gerettet hat, obwohl er sich damit nicht nur gegen seinen Vater und damit gegen den gesamten Stall, sondern auch gegen die Familie seiner Freundin gestellt hat. Ohne ihn wäre Saphir eingeschläfert worden, weil alle außer mir fest davon überzeugt waren, dass er bösartig und gefährlich ist. Dabei war er nur traumatisiert von der Rennbahn und brauchte mehr Raum und weniger Druck.

Anne braucht ebenfalls jemanden an ihrer Seite, der ihr mit ihrem Pferd hilft. Zumindest versuchen sollte ich es.

„Gut, ich frage Steffen, ob ich noch zum Stall darf. Aber ich kann dir nichts versprechen. Bis gleich.“

Unter einem neuerlichen Ächzen erhebe ich mich, stecke das Handy wieder in die Tasche und gehe raus auf den gemütlichen, breiten Flur, um nach unten zu lauschen. Steffens Stimme ist leiser geworden und er hat aufgehört, hin und her zu laufen. Nun klingt er beinahe weich, er scheint nicht mehr mit Diana zu streiten, und deshalb wage ich es, langsam die Treppe hinunterzusteigen.

„Ja, das weiß ich doch und ich verstehe das, Liebes …“

Liebes!? Erstarrt bleibe ich stehen. Steffen hat Diana „Liebes“ genannt? Habe ich da etwas verpasst?

„Ich wollte das auch. Keine Ahnung, wie wir uns als Eltern gemacht hätten, aber … wir hätten sie geliebt, das weiß ich.“

Sie? Eltern – Diana und Steffen? Plötzlich ist mir wieder schlecht, aber dieses Mal nicht aus Nervosität, sondern aus Fassungslosigkeit. Über wen oder was sprechen die beiden da?

„Dieses ‚Wir‘ gibt es nicht mehr, Diana. Schon lange nicht mehr. Jetzt sind Roxy und ich das ‚Wir‘, und egal, wie du das findest, ich bin dir dankbar für … für alles, was du für mich getan hast.“

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Diana und Steffen waren ein ,Wir‘? Und jetzt will er mit mir ein ,Wir‘ sein? Verdammt, was redet er da nur für einen kranken Mist? Kopflos stürme ich die Treppe weiter hinunter, ich will nur noch weg von hier.

„Oh nein … Kacke … Roxy, bleib da, hey!“ Steffen ist schneller als ich und erwischt mich an meinem Pulliärmel, bevor ich flüchten kann. „Diana, ich muss auflegen, wir reden morgen weiter. – Nein, Madame, du haust jetzt nicht ab!“

Bockig reiße ich mich los, bleibe aber stehen, denn weit wäre ich sowieso nicht gekommen. Wir sind mit seinem Wagen hier, und ich habe keine Ahnung, wo die nächste Bushaltestelle ist. Außerdem ist er nun mal mein Betreuer. Spätestens in der Wohngruppe wäre ich ihm wieder begegnet.

„Du und Diana wart ein Paar!?“, rufe ich zornig. „Und jetzt willst du mit mir eines sein, sag mal, spinnst du!?“

„Verdammt, musst du immer genau das mit anhören, was man missverstehen kann?“, bricht es gereizt aus Steffen heraus, und er fährt sich sofort mit der Hand über seinen Mund, als würde er bereuen, was er gesagt hat. „Mensch, Roxy, ich möchte dich als Tochter, wir haben so oft darüber gesprochen. Ich verstehe, dass du misstrauisch bist, aber lass mich dir erklären, was du gerade mitbekommen hast, und alles wird einen Sinn ergeben, in Ordnung? Ja?“

„Ich brenne darauf“, gebe ich eisig zurück, ohne ihn anzusehen, aber ich kann riechen, dass ihm gerade vor Schrecken der Schweiß ausgebrochen ist.

„Ja, du hast richtig gehört, Diana und ich waren mal zusammen. Wir haben uns im Grundstudium kennengelernt. Ich war damals noch ein bisschen anders drauf. Softer. So ein typischer Sozialpädagoge. Kann dir mal Fotos zeigen, du würdest mich nicht wiedererkennen, glaub mir …“ Wieder fährt er mit den Fingern suchend über seine Brusttasche. „Wir waren ziemlich verliebt, haben nicht aufgepasst und sie ist schwanger geworden. Wir haben uns geeinigt, dass wir das hinkriegen, irgendwie, aber es war stressig, weil ihre Eltern sie zu einem Schwangerschaftsabbruch überreden wollten und wir nicht wussten, wie wir alles unter einen Hut bekommen sollen, Studium, Kind, kein Geld, wir kannten uns auch noch nicht lange … Und dann –“ Steffen gibt ein seltsames Geräusch von sich, halb Grunzen, halb Seufzen, und der Schmerz darin lässt mich aufhorchen. „Wir haben uns gestritten, sie hat sich in ihrer Wut ins Auto gesetzt, ist durch die Stadt gefahren, hat einen Unfall gebaut und …“ Er fährt sich fahrig mit den Händen übers Gesicht. „Sie hat es verloren. Es wäre … es wäre ein Mädchen geworden.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hab mit allem gerechnet, aber nicht damit – dass meine beiden Betreuer mal ein Paar waren und sogar ein gemeinsames Kind erwartet haben, wo sie doch so grundverschieden sind und sich die vergangenen Monate immer wieder wegen mir gestritten haben. Doch jetzt ahne ich, warum. Diana hat Steffens Vatergefühle mir gegenüber nicht ertragen. Denn er wäre der Vater ihres eigenen Kindes geworden, wenn sie es nicht verloren hätte …

„Deshalb habe ich angefangen zu saufen, Roxy. Weil ich das nicht ertragen hab, verstehst du? Diese Schuld.“

„Du hattest doch gar keine Schuld …“, widerspreche ich mit rauer Stimme. „Sie ist gefahren, oder? Du hast sie nicht dazu gezwungen. Und außerdem … ich hab mal in einer Doku gesehen, dass manche Babys einfach nicht bleiben wollen, weil es noch nicht so weit ist, und andere die schlimmsten Unfälle überstehen – also …“

„Ja, das stimmt“, entgegnet Steffen etwas ruhiger. „Aber damals wusste ich das noch nicht. Ich dachte, wenn ich nicht mit ihr gestritten hätte, wäre sie nicht mitten in der Nacht ins Auto gestiegen und … und dann würde unser Mädchen leben.“

Sie hat dich von der Straße geholt, oder?“, spreche ich aus, was ich auf einmal tief in meinem Bauch fühle. Diana hat das für Steffen getan, was er später für mich getan hat. Indirekt habe ich also auch ihr zu verdanken, dass ich jetzt nicht mehr auf der Straße bin.

„Ja“, erwidert er düster. „Ja, sie hat irgendwann Frieden mit der Sache geschlossen. Ich hab einen Entzug gemacht, mein Studium wieder aufgenommen, und geschaut, dass ich das Leben von so vielen Kindern wie möglich retten kann, die keine guten Chancen im Leben haben. Das hat unser Baby nicht wieder lebendig gemacht, aber es hat mir geholfen, damit umzugehen. Und jetzt bin ich wieder so weit, dass ich mich dem Vatersein stellen kann, also – wenn es irgendwie geht: Hau nicht ab, Roxy. Bitte hau nicht ab.“

„Ich hau nicht ab.“ Scheu boxe ich mit der Faust gegen seinen Oberarm. „Um diese Jahreszeit ist es ätzend auf der Straße. Weißt du doch.“

„Oh ja, ich weiß es noch genau.“ Steffen lächelt vorsichtig. „Hier aber auch. Lass uns fahren, es wird langsam dunkel und – nein?“, unterbricht er sich, als er mein Zögern bemerkt. „Du willst nicht fahren?“

„Ich würde gerne noch kurz zum Stall. Anne braucht meine Hilfe mit ihrem neuen Pferd. Ist das okay?“

„Hm.“ Steffen mustert mich mit einem prüfenden Blick. „Ihr habt euch angefreundet, was?“

„Kann sein. Ein bisschen vielleicht“, erwidere ich unsicher. Ich weiß nicht genau, was Freundschaften sind und wie man sie pflegt. Aber ich mag Anne, und obwohl sie wegen mir im Krankenhaus gelandet ist und ich wegen ihr vor Gericht stand, fühle ich mich mit ihr verbunden. Als wüsste sie mehr über mich als jeder andere Mensch – und bei ihr ist das ein schönes Gefühl, kein unangenehmes. „Jedenfalls ist ihr Exmoor-Hengst seit gestern da und will sich nicht einfangen lassen.“

Steffen unterdrückt ein Schmunzeln. Offenbar ahnt er, dass ich den Hengst bestens verstehen kann. „Na, von mir aus, ich fahre dich hin. Aber zum Abendessen um sieben bist du in der WG, in Ordnung?“

„Kein Thema, danke.“ Es ist sowieso bald stockdunkel und dann werden wir Avalon auf der Weide nicht mehr sehen können. Aber ich möchte Anne nicht im Stich lassen.

„Roxy …“ Steffen wagt es, mir über den Oberarm zu streichen, und ich zucke nicht zurück. Auch das hat sich verändert. „Ich will dich nicht unter Druck setzen, aber es gibt viele Interessenten für dieses Haus und ich konnte es reservieren lassen, deshalb – sollen wir es wagen? Meinst du, du wirst dich hier wohlfühlen?“

Stumm schaue ich mich ein letztes Mal um. Es ist wirklich lausig kalt in diesen kahlen Wänden und bereits so dämmrig, dass ich kaum mehr in die Ecken sehen kann. Doch dann habe ich plötzlich eine Vision, wie ein wärmendes Feuer in dem urigen Kamin brennt und Moses davor auf seinem zerfetzten Hundekissen liegt und schnarcht und Steffen in der Küche werkelt und ich auf der halben Treppe stehe und zu ihm runterschaue – und weiß, dass er mich niemals zwingen wird, nach dem Abendessen neben ihm auf dem Sofa zu sitzen. Doch er würde mich auch niemals wegschicken, wenn ich zu ihm kommen möchte, weil ich ihn brauche. Er war für mich da, wenn es eng wurde – immer. „Ja, ich glaube … es könnte klappen.“

Ich habe keine Ahnung, ob es klappen wird. Doch so geht es mir jeden Tag, wenn ich mit Saphir in den Wald reite. Manchmal schaffen wir es nur bis zur ersten Wegbiegung. Aber wir geben nicht auf. Dann klappt es eben an einem Tag ein bisschen und am nächsten Tag wieder nicht und am dritten Tag wieder ein bisschen. Entscheidend ist, dass wir es versuchen.

„Danke, Fledermaus“, brummt Steffen so undeutlich, dass ich seine Worte nur erahnen kann, klopft mir unbeholfen auf die Schulter und geht mir voraus nach draußen in den eisigen, dichten Januarregen. „Wird schon schiefgehen.“

Ja, das wird es mit Sicherheit, immer wieder ein bisschen – und trotzdem kann ich kaum erwarten, damit anzufangen.

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Scheu und wild

„Das ist nicht gut …“, wage ich endlich auszusprechen, was ich seit Minuten denke. Im Kastanien-Gestüt war es nie gut angekommen, wenn ich mich eingemischt hatte, wenn es um Pferde ging – und noch immer fällt es mir schwer.

„Was?“ Fragend dreht Kathrin sich zu mir um und auch Wolf und Illi wenden ihre Blicke zu mir.

„Hier am Zaun zu stehen und ihn anzustarren.“

„Wir starren doch nicht“, entgegnet Illi erstaunt. „Wir schauen nur zu ihm rüber …“

„Für ihn ist es Starren“, widerspreche ich so freundlich wie möglich. „Dieses direkte Anschauen. Er fühlt sich dadurch fixiert wie von Raubtieren.“

„Ich will ihm doch nur helfen …“, wispert Anne den Tränen nahe. „Er muss untersucht werden!“

Schon den dritten Tag hintereinander versuchen wir, Avalon einzufangen und zu halftern – ohne jede Chance. Er ist wendig und geschickt und vor allem hellwach. Und wer weiß, was Halfter und Strick bedeuten. Es ergibt für mich keinen Sinn, damit überhaupt noch auf die Weide zu gehen, aber für die anderen ergibt es keinen Sinn, ohne Halfter auf die Weide zu gehen. Denn seit gestern hustet er. Und selbst aus der Ferne erkenne ich, dass sein Atem schwer geht und seine Flanken sich dabei angestrengt heben und senken. Das kann Angst sein, ich kenne diese Symptome von Saphir, wenn er gestresst ist. Doch auch ich habe Avalon vorhin husten gehört, trocken und kurz, und es klang nicht gut. Anne hat recht, er muss untersucht werden.

Es wird nur nicht gelingen, wenn jede Menge Menschen am Zaun stehen, die pausenlos durcheinander plappern und ihn immer wieder mit den Augen fixieren. Das haben wir jetzt drei Nachmittage hintereinander gemacht und es führt uns nicht weiter.

„Könnt ihr mich mit ihm alleine lassen?“

Anne zuckt leicht zusammen, als habe sie meine Frage erschreckt, und die anderen, die eben laut überlegt haben, ob sie noch einen Versuch starten, ihn mit Müsli zu locken, verstummen getroffen.

„Es ist nicht böse gemeint, aber … je weniger Menschen hier sind, desto besser, glaube ich.“

„Wir wollen Anne nur helfen!“, wendet Illi ein. „Wir haben schließlich alle Ahnung von Pferden!“

„Nein, sie hat recht.“ Anne schluckt und schiebt sich zwischen mich und die anderen, um mir das Halfter in die Hand zu drücken. „Roxy soll es versuchen. Alleine.“

Wie nebenbei lasse ich das Halfter in das nasse Gras am Zaun fallen, sodass Avalon es nicht mehr sehen kann. „Ich versuche es erst einmal lieber ohne Halfter. Er ist zu klug, er weiß genau, was wir damit vorhaben.“

Avalon wendet seinen kräftigen Hals und schaut zu uns herüber, als habe er meine Worte verstanden. Wieder fällt mir auf, wie unterschiedlich er und Saphir sind. Saphir wirkt neben ihm wie das edle Ross eines orientalischen Prinzen aus Tausendundeiner Nacht, doch auch Avalon strahlt Würde und Kraft aus. Sein Winterfell ist dicht und dunkel, und der weiße Ring um seine Augen lässt sie noch tiefer wirken, als sie ohnehin schon sind. Er gehört hier nicht her, denke ich mit einem ziehenden Gefühl im Herzen. Er muss frei sein …

Saphir war von Beginn an menschenbezogen, und sobald ich auf die Weide komme, läuft er mir hinterher wie ein Hündchen. Auch auf dem Platz arbeiten wir vollkommen frei zusammen, ohne Halfter und Strick. Aber Avalon möchte keinem Menschen hinterherlaufen. Er versteht nicht, was sie von ihm wollen und warum sie ihn aus seiner Herde gerissen haben. Und er braucht sie nicht.

„Roxy …?“, holt Anne mich fragend aus meinen Gedanken. „Was willst du jetzt tun? Morgen kommt Lubeck wieder und dann …“

„Ich weiß es nicht“, antworte ich ehrlich. „Ich überlasse das Avalon.“

Illi unterdrückt ein Stöhnen und Kathrins Lächeln kann es nicht wettmachen – denn es wirkt bemüht und nicht so, als fände sie gut, was ich sage.

„Also, ich vertraue Roxy.“ Anne klingt ein wenig trotzig, aber entschieden. „Wir sollten sie mit Avalon alleine lassen. Außerdem haben wir alles andere schon versucht, der nächste Schritt wäre eine Sedierung, und das will ich auf keinen Fall.“ Ihre Stimme bebt, doch sie schluckt ihre Tränen herunter. „Viel Glück, Roxy. Ich bin in der Hütte, wenn du mich brauchst.“

Es dauert ein paar Sekunden, bis sich auch die anderen vom Zaun lösen und zurück zu den Stallungen gehen. Sie sprechen gedämpft miteinander und wahrscheinlich geht es dabei um mich. Doch das Raunen ist nicht mit jener Feindschaft getränkt, wie ich sie auf dem Kastanien-Hof wahrgenommen habe, wenn ich ausgesprochen habe, was Saphir meiner Meinung nach braucht, sondern eher mit Ratlosigkeit und leisem Zweifel an meinen Methoden. Die keine Methoden sind.