Georges Bizet
Carmen
Carmen, komponiert nach dem Sujet der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée, ist Georges Bizets letztes Werk. Der Komponist verstarb wenige Wochen nach der erfolglosen Uraufführung in Paris vom 3. März 1875. Für den Opernfreund ist es heute unvorstellbar, wie dieses Werk mit seinen vielen hinreißenden »spanischen« Melodien und Rhythmen – die Bizet gleichsam »aus der Ferne« erfand, da er Spanien nie bereiste – je durchfallen konnte. Im Laufe der Zeit jedoch ist Carmen längst zu einer der beliebtesten und meistgespielten Opern geworden.
    Dieses Buch enthält neben dem Textbuch einführende Kommentare von Kurt Pahlen. Er begleitet das musikalische und das äußere wie innere dramatische Geschehen der Oper mit Hinweisen zu kompositorischer Struktur und Sinnzusammenhang. Eine kurze Inhaltsangabe und ein Abriß der Entstehungsgeschichte stellen das Werk in einen Zusammenhang mit dem Gesamtschaffen des Komponisten und seiner Biographie und bieten eine umfassende, reich illustrierte Einführung.

Kurt Pahlen, geboren 1907 in Wien, Dr. phil. (Musikwissenschaft), war in Buenos Aires Generalmusikdirektor der Filarmónica Metropolitana und Direktor des Teatro Colón sowie an der Universität Montevideo Gründer und Inhaber des Lehrstuhls für Musikgeschichte. Als Gastdirigent bedeutender Konzert- und Opernorchester, Gastprofessor vor allem südamerikanischer Universitäten und Verfassser von über 50 in zahlreiche Sprachen übersetzten Büchern mit breit gefächerter Thematik, erwarb er sich einen internationalen Ruf als Pionier des Musiklebens. Sein besonderes Engagement gilt mit jährlich mehr als 200 Vorträgen der einführenden Vermittlung des Opernrepertoires an ein breites Publikum. 1994 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Buenos Aires verliehen.
    Die Reihe Opern der Welt in der Serie Musik Atlantis · Schott gibt einen umfassenden Überblick über die Standardwerke des Spielplans.
Georges Bizet
Carmen
Textbuch (Französisch – Deutsch)
Einführung und Kommentar
von Kurt Pahlen
unter Mitarbeit von Rosmarie König
Neu durchgesehene Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Bestellnummer SDP 32
ISBN 978-3-7957-9179-7

Originalausgabe November 1978
© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt
7   Zur Aufführung
11  Textbuch (Französisch–Deutsch)
mit Erläuterungen zu Musik und Handlung
274  Inhalt
anhand der Szenen und Musiknummern
287  Zur Geschichte der Oper Carmen
338  Carmen in Schlagworten
345  Kurze Biographie Bizets
5
Georges Bizet, der Komponist der Carmen
6
Zur Aufführung
TITEL
Carmen
BEZEICHNUNG
Oper in vier Akten. Text nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée, von Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Komponiert 1873–1875 von Georges Bizet. Uraufführung am 3. März 1875 in der Pariser »Opéra Comique«. Erstaufführung in deutscher Sprache am 23. Oktober 1875 in Wien.
PERSONENVERZEICHNIS1
Carmen, Zigarettenarbeiterin,
Schmugglerin
Mezzosopran, evtl.
auch Sopran oder Alt
José, genannt Don José, zuerst Soldat,
später Schmuggler
Tenor
Escamillo,   Stierkämpfer
Bariton
Dancairo, Anführer einer
Schmugglerbande
Tenor, Bariton
oder Baß
Remendado
(eigentlich El Remendado,
»der Geflickte«, »Abgerissene«),
Schmuggler
Zuniga, Offizier der Dragoner,
Tenor
Vorgesetzter Josés
Morales, Sergeant der Dragoner,
Baß
Kamerad Josés
Frasquita, Freundin Carmens,
Bariton
Schmugglerin
Mercedes, Freundin Carmens,
Sopran
Schmugglerin
Mezzosopran
oder Alt
1 vgl. S. 8 Zur Aussprache der Namen
7
ZUR AUFFÜHRUNG
Micaela, Bauernmädchen
aus dem Heimatdorf Josés
Sopran
Lillas Pastia, Schenkenwirt,
Mitglied der Schmugglerbande
stumme Rolle
(in der Dialogfassung
aber Text sprechend)
Ein ortskundiger Begleiter, der Micaela zum Versteck der Schmuggler führt, kommt in der Rezitativfassung nicht oder nur stumm vor, hat in der Dialogfassung Text zu sprechen.
In der Textfassung weitere kleine oder stumme Rollen.
Verschiedene Chöre; der Soldaten, der Volksmenge, der Tavernenbesucher, der Schmuggler, der Zigarettenarbeiterinnen, der jungen Männer usw. Ein Kinderchor.
SCHAUPLATZ
In und um Sevilla (Andalusien, Südspanien.)
ZEIT
Zwischen 1820 und 1830, nach Angaben Mérimées zu schließen.
ORCHESTERBESETZUNG
2 Flöten (eine davon auch Piccolo), 2 Oboen (eine davon auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, verschiedenes Schlagzeug (große Trommel, kleine Trommel, Becken, Triangel, Tamburin, Kastagnetten), Harfe, Streichinstrumente wie üblich: Geteilte Violinen, Bratschen, Violoncelli, Kontrabässe.
Hinter der Bühne zeitweise 2 Trompeten und 3 Posaunen, die aus dem Orchester genommen werden können.
SPIELDAUER
etwa 3 Stunden
ZUR AUSSPRACHE DER NAMEN
Carmen:                   Im Deutschen »Karmen« mit Betonung auf dem
          a; im Französischen mit Betonung auf dem e.
José:                         Etwa wie »Chosé«, Betonung auf dem e.
Escamillo:                Esskamiljo, Betonung auf dem i.
Dancairo:                 Danka-iro, Vokale werden getrennt gespro-
8
ZUR AUFFÜHRUNG
Zuniga:


Morales:



Frasquita:

Mercedes:


Micaela:


Lillas Pastia:

Remendado:
chen, Betonung auf dem i. Im Französischen:
Dancaire oder Dancaïre (um die Aussprache
dem Spanischen anzugleichen).
Das Z wird im Spanischen wie weiches,
gelispeltes s gesprochen; Betonung auf dem u,
daher im Spanischen geschrieben: Zúniga.
Wie geschrieben, mit Betonung auf dem a ge-
sprochen. Im Französischen wird ein accent
grave auf das e gesetzt, also »Morales«, Beto-
nung auf der letzten Silbe.
Wie »Frasskita« gesprochen, Betonung auf
dem i.
Das c wird etwa wie ein ss gesprochen. Im Fran-
zösischen: Mercédès geschrieben, Betonung
auf der letzten Silbe.
Gesprochen: Mika-e-la, Betonung auf dem e.
Im Französischen daher mit einem Trema auf
dem e geschrieben: Micaëla.
Gesprochen: Liljas, Betonung auf dem i, und
paßti-a, Betonung auf dem ersten a.
Wie geschrieben, Betonung auf dem a.
9
10
Textbuch (Französisch – Deutsch)
mit Erläuterungen
zu Musik und Handlung
11
ERLÄUTERUNGEN
Licht, strahlende Mittelmeersonne, eine wogende, bunte Volksmenge in Feststimmung und hellen Gewändern (A-Dur, Allegro giocoso, Zweivierteltakt), flott und mitreißend, volles Orchester mit Schlagzeugeffekten:
Die Melodie stürmt dahin, stimmt erwartungsvoll, ist trotz des fast blendenden Glanzes stets elegant, geschmeidig, voll Grazie, Anmut, lachenden Lebens. Plötzlich rückt sie nach F-Dur, wird stahlhart im Rhythmus, und aus den schneidenden, knappen Akkorden steigt stolz und siegreich die Toreromelodie, marschmäßig, ohne kriegerisch zu sein, triumphal, ohne Brutalität. Pianissimo erhebt sie sich selbstbewußt,
elegant wie alles in diesem Vorspiel, schwungvoll:
Eine gewaltige Steigerung reißt sie ins volle Orchester; man glaubt, die jubelnde Menge der Arena zu hören. Dann, von F-Dur zurück in das sonnenüberflutete A-Dur des Beginns und auf dem Höhepunkt der strahlenden Melodie mit knappster Kadenz abgebrochen. Eine Generalpause, merkwürdig lastend. Und nun, voll herben Schmerzes (d-Moll, Andante moderato, 3/4-Takt, von den Celli in höchster Intensität gespielt), grausam fast, die »Schicksalsmelodie«, das »Todesmotiv«.
(Notenbeispiel S. 14)
12
OUVERTÜRE
NO 1. OUVERTURE
NR. 1. OUVERTÜRE
13
ERLÄUTERUNGEN
Zigeunerisch (wie behauptet wurde), andalusisch, maurisch-arabisch? Mit seiner so ins Gehör dringenden, immer wiederkehrenden, fallenden »übermäßigen Sekunde« (cis–b, gis–f, fis–es, h–as, a–ges usw.) entrückt uns das Motiv fern aus Europas Musikwelt. Im Laufe des Werkes wird es uns immer wieder packen, erschüttern. Also ein »Leitmotiv«? Gewiß, aber das bedeutet keineswegs, daß Bizet hier etwa Wagner »nachahme«. Die Idee des Erinnerungsmotivs wurde von Berlioz und Liszt vor Wagner entwickelt, wenn auch von diesem auf den Höhepunkt geführt und zum dramatischen Baustein gemacht. Das Todesmotiv wird hier im Vorspiel aufs intensivste gesteigert. Etwas Schweres, Düsteres, Tragisches tritt mit ihm in die helle Lust des Tages, der Tod, das unausweichliche Schicksal, ist plötzlich da, reckt sich riesengroß empor, verdunkelt das Licht und reißt dann plötzlich auf dem Höhepunkt ab, mit einem scharfen,
dissonanten Akkord.
14
OUVERTÜRE (NR. 1)
15
ERLÄUTERUNGEN
Und leicht, unbeschwert beginnt die Szene unter dem sich öffnenden Vorhang: Soldaten beobachten das freundlich belebte Treiben auf dem Platz (Allegretto, F-Dur, 4/4). Das Dahinschlendern der Menge ist in musikalische Bewegung eingefangen:
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1. AUFZUG / NR. 2
ACTE I
(Une place à Séville avec la porte de la manufacture de tabac; un pont praticable; le corps de garde. Le brigadier Moralès et les soldats sont groupés devant le corps de
garde. Promeneurs sur la place.)
No 2. Scène et Chœur
Chœur:
Sur la place chacun passe,
chacun vient, chacun va;
drôles de gens que ces
gens-là.
Moralès (nonchalament):
A la porte du corps
de garde,
pour tuer le temps,
on fume, on jase, l’on
regarde
passer les passants.
Chœur:
Sur la place chacun passe,
chacun vient, chacun va;
drôles de gens que ces
gens-là.
ERSTER AUFZUG
(Ein Platz in Sevilla mit dem Eingang zur Tabakfabrik; eine gangbare Brücke; das Gebäude der Hauptwache. Der Brigadier Morales und die Soldaten in Gruppen vor der Hauptwache.
Spaziergänger auf dem Platz.)
Nr. 2. Szene und Chor
Chor der Dragoner:
Diese Menge, im Gedränge,
Wie das kommt, geht und
bleibt,
Närrisches Volk umher sich
treibt.
Närrisches Volk,
närrisches Volk!
Morales (nachlässig):
Müßig hier
vor der Wache Halle,
Daß die Zeit geht hin,
Raucht man und schwatzt
und mustert alle,
Die vorüberziehn.
Diese Menge, im Gedränge,
Wie das kommt, geht und
bleibt.
Chor der Dragoner:
Diese Menge, im Gedränge,
Wie das kommt, geht und
bleibt,
Närrisches Volk umher
sich treibt.
Närrisches Volk,
närrisches Volk!
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ERLÄUTERUNGEN
Da taucht Micaela auf: Morales spricht sie in kurzen melodischen
Phrasen an.
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1. AUFZUG / NR. 2
(Micaëla est entrée et hésite un
peu.)
Moralès:
Regardez donc cette petite
qui semble vouloir nous
parler,
voyez, elle tourne,
elle hésite.
Chœur:
A son secours it faut aller.
Moralès (à Micaëla galamment):
Que cherchez-vous, la belle?
Micaëla (simplement):
Moi? – Je cherche un bri-
gadier.
Moralès (avec emphase):
Je suis là,
voilà!
Micaëla:
Mon brigadier, à moi,
s’appelle
Don José... le connaissez-
vous?
Moralès:
Don José, nous le
connaissons tous.
Micaëla (vivement):
Vraiment!
Est-il avec vous, je vous
prie?
Moralès:
Il n’est pas brigadier dans
notre compagnie.
Micaëla (désappointée):
Alors il n’est pas là.
(Micaela tritt auf und sieht sich
schüchtern um.)
Morales:
Doch seht,
da kommt mit bangem Zagen
Ein Mädchen zu uns;
irr’ ich nicht,
Sie blickt umher, scheint
zu zögern und zu fragen.
Chor der Dragoner:
Ihr beizustehn
ist unsre Pflicht.
Morales (galant zu Micaela):
Was suchst du, hübsche
Kleine?
Micaela (bescheiden):
Ich? –
Ich such’ einen Sergeant.
Morales (pomphaft):
Sieh ihn hier –
in mir!
Micaela:
Nein, Ihr seid der nicht,
den ich meine.
Don José, so wird er
genannt.
Morales:
Don José?
Er ist uns wohlbekannt.
Micaela (freudig):
Gewiß? So find’ ich ihn hier?
Sie verzeihen!
Morales:
Sergeant ist er, ganz recht,
Doch nicht in unsern
Reihen.
Micaela (betrübt):
Nicht hier? Ich dachte, ja!
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ERLÄUTERUNGEN
Hier entwickelt sich das Zwiegespräch der ein wenig schüchternen Micaela mit dem galanten Morales zu einer kleinen, marschmäßigen Melodie, die später von Micaela aufgenommen und mit dem männlichen Kontrapunkt der Soldaten gesungen
wird:
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1. AUFZUG / NR. 2
Moralès:
Non, ma charmante,
il n’est pas là,
mais tout à l’heure il y sera.
Il y sera quand la garde
montante
remplacera la garde
descendante.
Chœur:
Il y sera quand la garde
montante
remplacera la garde
descendante.
Moralès (très galant):
Mais en attendant qu’il
vienne,
voulez-vous, la belle enfant,
voulez-vous prendre la peine
d’entrer chez nous un
instant?
Micaëla:
Chez vous?
Moralès et Chœur:
Chez nous!
Micaëla (finement):
Non pas, non pas
grand merci, messieurs les
soldats.
Moralès:
Entrez sans crainte,
mignonne,
je vous promets qu’on aura,
pour votre chère personne,
tous les égards qu’il faudra.
Morales:
Mein holdes Mädchen,
er ist nicht da.
Doch warte hier und sei
nicht bang.
Er kommt hierher, ’s dauert
nicht lang.
Er kommt hierher, wenn wir
die Runde machen
Und werden abgelöst durch
neue Wachen.
Chor der Dragoner:
Er kommt hierher,
wenn wir die Runde machen
Und werden abgelöst durch
neue Wachen.
Morales (sehr galant):
Willst du auf dem Platz
da bleiben,
Liebes Kind, so zart und fein,
Langeweile zu vertreiben,
Komm unterdes zu uns
herein!
Micaela (erschreckt):
Zu euch?
Morales und Dragoner:
Zu uns!
Micaela (abwehrend):
Nein, nein, nein, nein,
ihr Herrn Soldaten,
Das kann nicht sein.
Morales:
Komm herein nur
ohne Bangen,
Ich verspreche dir bestimmt:
Freundlich wirst du hier
empfangen
In allen Ehren, wie sich’s
ziemt.
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ERLÄUTERUNGEN
Hier mündet die zumeist rezitativisch gehaltene, mit kurzen melodischen Phrasen gestaltete Szene in die Melodie (Nr. 5) zurück. Dann folgt eine kurze Stretta: Micaela reißt sich los und
eilt davon.
Eine resignierte, chromatisch absteigende Phrase des Morales bringt alles wieder in die Stimmung, wie sie vor Micaelas Besuch war,
zurück (Nr. 4).
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1. AUFZUG / NR. 2
Micaëla:
Je n’en doute pas;
cependant
je reviendrai, c’est plus
prudent.
Je reviendrai quand la garde
montante
remplacera la garde
descendante.
Moralès et Chœur:
Il faut rester
car la garde montante
va remplacer la garde
descendante.
Moralès (les soldats entourent
Micaëla):
Vous resterez!
Micaëla (cherche à se dégager):
Non pas, non pas!
Moralès et Chœur:
Vous resterez!
Micaëla:
Non pas, non pas!
Au revoir, messieurs
les soldats.
(Elle s’échappe)
Moralès:
L’oiseau s’envole,
on s’en console.
Reprenons notre passe-
temps,
et regardons passer les gens.
Chœur:
Sur la place chacun passe,
chacun vient, chacun va;
drôles de gens que ces
gens-là.
Micaela:
Ich weiß wohl
zu schätzen diese Ehr’,
Doch meine ich, ’s wird
besser sein,
Ich komm’ zurück, wenn Sie
die Runde machen
Und werden abgelöst durch
neue Wachen.
Morales und Dragoner:
Bleibe doch hier,
bis wir die Runde machen
Und werden abgelöst durch
neue Wachen.
Morales (die Soldaten umringen
Micaela):
Bleibe doch da!
Micaela (versucht sich loszu-
machen):
Nein, nein, nein, nein!
Morales und Dragoner:
Bleibe doch da!
Micaela:
Das kann nicht sein!
Auf Wiedersehn,
ihr Herrn Soldaten!
(Sie enteilt.)
Morales:
Seht hin sie eilen;
wir müssen weilen.
Freunde, kommt, laßt uns
wieder sehn
Nach Leuten, die
vorübergehn.
Chor der Dragoner:
Diese Menge, im Gedränge,
Wie das kommt, geht und
bleibt,
Närrisches Volk umher sich
23
ERLÄUTERUNGEN
Auf einen Abschluß von Chor und Orchester folgt in der Rezitativfassung sofort die Trompete, die die Wachablösung und den Kinderchor ankündigt.
Wenn überhaupt gespielt, dann nur mit Prosatexten, ohne jede Musik.
Die Textstellen, die am Rand mit einer Wellenlinie versehen sind, entsprechen den Rezitativ-Texten, die auf den deutschsprachigen Bühnen gespielt werden. Die Texte, die am Rand durch senkrechte Linien bezeichnet werden, sind Dialog-Texte, die z. B. in Frankreich immer, auf deutschen Bühnen manchmal, an Stelle der Rezitativstellen gespielt werden.
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1. AUFZUG / NR. 2
(Le mouvement des passants a repris avec une certaine animation. Parmi les gens un vieux monsieur donnant le bras à une jeune dame. Celle-ci attend quelqu’un et ce quelqu’un ne vient pas. Cette pantomime doit cadrer très exactement avec le couplet suivant.)
Moralès:
Attention! chut!
Taisons-nous!
Voici venir un vieil époux,
œil soupçonneux, mine
jalouse,
il tient au bras sa jeune
épouse;
l’amant sans doute n’est pas
loin;
il va sortir de quelque
coin.
(Un jeune homme entre
rapidement)
Ah! Ah! Ah! Ah!
Le voilà!
Voyons comment ça
tournera.
(Moralès joue imitant les trois
personnes une petite comédie.)
Moralès:
Vous trouver ici,
quel bonheur!
Je suis bien votre serviteur.
Il salue, il parle avec grâce.
Le vieux mari fait la grimace.
treibt.
Närrisches Volk,
närrisches Volk!
(Die Bewegung der Passanten nimmt zu. Unter diesen Leuten ein älterer Herr, der eine junge Dame am Arm führt. Diese Dame erwartet jemanden, der nicht kommt. Dieses Spielchen muß sehr genau mit dem folgenden Couplet übereinstimmen.)
Morales:
Achtung! Pst! Still!
Seht da den alten Gatten,
mißtrauisch, eifersüchtig
blickt er umher,
am Arm die junge Gattin;
der Geliebte kann nicht weit
sein;
der kommt von irgendwoher.
(Ein junger Mann tritt eilends
auf)
Ah! Ah! Ah! Ah!
Da ist er!
Sehen wir, wie das endet!
(Morales spielt eine kleine
Komödie, indem er die drei
Personen nachahmt.)
Morales:
Sie hier anzutreffen, welche
Freude!
Ihr ergebener Diener!
Er grüßt, er spricht mit
Anmut.
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ERLÄUTERUNGEN
Fröhliches, militärisches Trompetensignal. Zweimal: zuerst ein wenig
ferner, dann immer näher kommend.
Im übrigen geht man heute auf fast allen Bühnen zu sogenannten Mischfassungen über.
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AUFZUG / NR. 2
Mais d’un air fort
encourageant
La dame accueille le galant.
Ah! Ah! Ah! Ah!
L’y voilà!
Voyons comment ça
tournera.
(Tour les trois font un petit
tour sur la place.)
Moralès:
Ils font ensemble
quelques pas;
notre amoureux, levant
le bras,
fait voir au mari quelque
chose,
et le mari toujours morose
regarde en l’air... Le tour
est fait,
car la dame a pris le billet.
(Le jeune homme donne le bil-
let à la dame.)
Moralès et Chœur:
Ah! Ah! Ah! Ah!
Et voilà!
On voit comment ça
tournera.
(On entend au loin une marche militaire. Appel de clairon en scène. Les soldats se rangent en ligne devant le poste. La garde montante paraît; un clairon et un fifre d ’abord; puis une bande de petits gamins. – Derrière les enfants le lieutenant Zuniga et le brigadier Don Josè, puis les dra-
Der alte Ehemann schneidet
Grimassen.
Doch mit sehr ermutigender
Miene
empfängt die Dame den
Liebhaber.
Ah! Ah! Ah! Ah!
Da haben wir es!
Sehen wir, wie das endet!
(Die drei machen zusammen
einige Schritte.)
Morales:
Sie machen zusammen einige
Schritte;
unser Liebhaber hebt den
Arm,
zeigt dem Ehemann etwas,
und der Ehemann schaut
immer noch mürrisch in die
Luft...
Es hat geklappt, denn die
Dame hat ihr Briefchen
erhalten.
(Der junge Mann gibt sein
Briefchen der Dame.)
Morales und Chor:
Ah! Ah! Ah! Ah!
So ist es!
Man sieht, wie das endet!
(In der Ferne ein militärischer Marsch. Trompetensignal hinter der Bühne. Die Soldaten stellen sich vor der Hauptwache in Reih’ und Glied auf. Die aufziehende Wache erscheint; davor ein Trompeter und ein Pfeifer, dahinter eine Bande kleiner Gassenjungen. – Hinter den Kindern Leutnant
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ERLÄUTERUNGEN
Unter einer entzückenden, kindlichen und dabei die echten Soldatenmärsche imitierenden (und ein wenig parodierenden) Melodie
zieht eine Kinderschar, zusammen mit der Garde, ein:
Die Instrumentation ist ein kleines Kabinettstück: zwei Piccoloflöten in einfachstem Gegenspiel, Einwürfe einer Trompete, dann Steigerung bis zu vollem Orchester, die kindliche Melodie (einstimmig, mit eventueller Stimmteilung gegen Ende, beim Nachahmen des Trompetengeschmetters)
wächst zum flotten Militärmarsch.
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1. AUFZUG / NR. 3
gons. La garde montante va se placer vis-à-vis la garde
descendante.)
No 3. Chœur des gamins
Chœur:
Avec la garde montante
nous arrivons, nous voilà!
Sonne, trompette éclatante,
ta ra ta ta, ta ra ta ta.
Nous marchons la tête haute
comme de petits soldats,
marquant sans faire de faute,
une... deux...
marquant le pas.
Les épaules en arrière
et la poitrine en dehors,
les bras de cette manière
tombant tout le long
du corps;
avec la garde montante
sonne trompette éclatante,
nous arrivons, nous voilà,
ta ra ta ta, ta ra ta ta.
(La garde montante va se ranger à droite en face de la garde
descendante.)
Zuniga, Sergeant Don José, dann die Dragoner. Die aufziehende Wache wird sich gegenüber der
abziehenden Wache aufstellen.)
Nr. 3. Chor der Gasssenjungen
Chor:
Schnell herbeigestürmt,
wie’s Wetter,
’s kommen die Soldaten ja,
Hört der Trompete
Geschmetter:
Trateratatata!
Wenn die Wachen
aufmarschieren,
Gehn wir wie Soldaten
mit.
Laßt uns voran defilieren:
(gesprochen) Eins! Zwei!
(gesungen) im gleichen
Schritt,
Brust heraus, den Kopf
nach oben,
Und die Arme ziehet an;
Rasch, nun die Füße
gehoben.
So marschiern wir Mann
für Mann!
Wir sind da, wir sind da!
Trateratatata!
(Die aufziehende Wache stellt sich gegenüber der abziehenden
Wache auf.)
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ERLÄUTERUNGEN
Nun begleitet der Kinderchor, mit der gleichen Melodie wie vorher, das abziehende Bataillon. Die Musik geht sehr kunstvoll von der lebhaften Bewegung (singende Kinder, Abmarsch der Soldaten, Spaziergänger, immer mehr junge Männer, die das baldige Auftauchen der Zigarettenarbeiterinnen erwarten) in ein immer leiseres Verklingen über.
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1. AUFZUG / NR. 3
Moralès (à Don José):
Il y a une jolie fille qui est
venue te demander. Elle a dit
qu’elle reviendrait...
Don José:
Une jolie fille?
Moralès:
Oui, et gentiment habillée,
une jupe bleue, des nattes
tombant sur les épaules...
Don José:
C’est Micaëla. Ce ne peut
être que Micaëla.
Moralès:
Elle n’a pas dit son nom.
Moralès (à Don José):
Une jeune fille charmante
vient de
nous demander si tu n’etais
pas là!
Jupe bleue et natte
tombante.
Don José:
Ce doit être Micaëla!
(Les factionnaires sont relevés. Sonneries de clairons. La garde descendante passe devant la garde
montante.)
Chœur:
Et la garde descendante
rentre chez elle et s’en va.
Sonne, trompette, éclatante,
ta ra ta ta, ta ra ta ta.
Nous marchons la tête haute
comme de petits soldats,
marquant, sans faire
de faute,
Morales (zu Don José):
Ein hübsches Mädchen war
hier, das nach dir gefragt hat.
Sie hat gesagt, sie käme
zurück...
Don José:
Ein hübsches Mädchen?
Morales:
Ja, und nett angezogen,
blauer Rock und Zöpfe, die
auf die Schultern fallen...
Don José:
Das ist Micaela. Das kann nur
Micaela sein.
Morales:
Den Namen hat sie nicht ver-
raten.
Morales (zu Don José):
Ein junges Mädchen, voll
Liebreiz in ihrem ganzen
Wesen, fragte uns nach dir.
Blaues Kleidchen und blonde
Zöpfe.
Don José:
Das war sie, Micaela!
(Die Wachposten sind ausgewech- selt. Trompetensignal. Die abzie- hende Wache geht an der aufzie-
henden Wache vorbei.)
Chor der Gassenjungen:
Schnell herbeigestürmt
wie’s Wetter,
’s gehen die Soldaten ja,
Hört der Trompete
Geschmetter:
Trateratatata!
Wenn die Wachen
abmarschieren,
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ERLÄUTERUNGEN
32
1. AUFZUG / NR. 3
une... deux...
marquant le pas.
ta ra ta ta, ta ra ta ta.
(Soldats, gamins et curieux s’éloignent par le fond; chœur, fifres et clairons vont diminuant. Don José et le lieutenant restent
seuls en scène.)
Zuniga:
Dites-moi, brigadier?
Don José (se levant):
Mon lieutenant.
Zuniga:
Je ne suis dans le régiment
que depuis deux jours et
jamais je n’étais venu à
Séville. Qu’est-ce que c’est
que ce grand bâtiment?
Don José:
C ’est la manufacture de
tabacs...
Zuniga:
Ce sont des femmes qui
travaillent là? ...
Don José:
Oui, mon lieutenant. Elles n’y
sont pas maintenant; tout à
l’heure, après leur dîner, elles
vont revenir. Et je vous
réponds qu’alors il y aura du
monde pour les voir passer.
Zuniga:
Elles sont beaucoup?
Gehn wir wie Soldaten mit.
Laßt uns voran defilieren:
(gesprochen) Eins! Zwei!
(gesungen) im gleichen
Schritt.
Trateratatata!
(Soldaten, Gassenjungen und Neugierige entfernen sich. Chor, Pfeifen und Trompeten verklingen langsam. Don José und Zuniga bleiben allein auf der Bühne.)
Zuniga:
Sagt mir, Sergeant.
Don José (erhebt sich):
Herr Leutnant...
Zuniga:
Ich bin erst seit zwei Tagen in
diesem Regiment und war nie
in Sevilla. Was ist das für ein
großes Gebäude?
Don José:
Das ist die
Zigarettenfabrik...
Zuniga:
Und dort arbeiten nur
Frauen?...
Don José:
Ja, Herr Leutnant. Doch
jetzt sind sie nicht dort;
aber gleich, nach ihrem
Mittagessen, kehren sie
zurück. Und ich kann Ihnen
sagen, es kommen nicht
wenige Leute, um sie
Vorbeigehen zu sehen.
Zuniga:
Sind es denn viele?
33
ERLÄUTERUNGEN
34
1. AUFZUG / NR. 3
Don José:
Ma foi, elles sont bien quatre
ou cinq cents qui roulent des
cigares dans une grande
salle...
Zuniga:
Ce doit être curieux.
Don José:
Oui, mais les hommes ne
peuvent pas entrer dans cette
salle sans une permission...
Zuniga:
Ah!
Don José:
Parce que, lorsqu’il fait
chaud, ces ouvrières se
mettent à leur aise, surtout
les jeunes.
Zuniga:
Il y en a de jeunes?
Don José:
Mais oui, mon lieutenant.
Zuniga:
Et de jolies?
Don José (en riant):
Je le suppose ... Mais à vous
dire vrai, et bien que j ’aie été
de garde ici plusieurs fois
déjà, je n’en suis pas bien
sûr, car je ne les ai jamais
beaucoup regardées...
Zuniga:
Allons donc!.
Don José:
Que voulez-vous?... Ces
Andalouses me font peur.
Je ne suis pas fait à leurs
manières, toujours à railler...
jamais un mot de raison...
Don José:
Ganz gewiß, es sind vier- oder
fünfhundert, die in einem
großen Saal Zigaretten
drehen...
Zuniga:
Das muß sehenswert sein.
Don José:
Ja, aber niemand darf den
Saal ohne Genehmigung
betreten.
Zuniga:
Ah!
Don José:
Weil die Arbeiterinnen es
sich, wenn es heiß ist, bequem
machen, besonders die
jungen.
Zuniga:
Es gibt junge unter ihnen?
Don José:
Ja, Herr Leutnant.
Zuniga:
Und hübsche?
Don José (lachend):
Ich vermute es ... aber um die
Wahrheit zu sagen, ich bin
nicht sicher, denn, obwohl ich
hier schon öfters Wache
gestanden habe, ich habe sie
nie sehr genau angeschaut...
Zuniga:
Aber geht!
Don José:
Was wollen Sie?... Diese
Andalusierinnen machen mir
Angst. Ich verstehe ihre Art
nicht, immer scherzen, nie ein
vernünftiges Wort...
35
ERLÄUTERUNGEN
36
1. AUFZUG / NR. 3
Zuniga:
Et puis nous avons un faible
pour les jupes bleues et pour
les nattes tombant sur les
épaules...
Don José (riant):
Ah! Mon lieutenant a
entendu ce que me disait
Moralès?...
Zuniga:
Oui...
Don José:
Je ne le nierai pas... la jupe
bleue, les nattes c’est le
costume de Navarre... ça me
rappelle le pays...
Zuniga:
Vous êtes Navarrais?
Don José:
Et vieux chrétien. Don José
Lizzarabengoa, c’est mon
nom ... On voulait que je
fusse d’église, et l’on m’a
fait étudier. Mais je ne
profitais guère, j’aimais
trop jouer à la paume... Un
jour que j’avais gagné, un
gars de l’Alava me chercha
querelle; j’eus encore
l’avantage, mais cela
m’obligea de quitter le pays.
Je me fis soldat! Je n’avais
plus mon père; ma mère me
suivit et vint s’etablir à dix
lieues de Séville... avec la
petite Micaëla... c’est une
orpheline que ma mère a
recueillie, et qui n’a pas
Zuniga:
Und dann haben wir eine
Schwäche für einen blauen
Rock und für Zöpfe, die auf
die Schultern fallen...
Don José (lachend):
Ah! Der Herr Leutnant hat
gehört, was Morales mir
gesagt hat? ...
Zuniga:
Ja ...
Don José:
Ich leugne es nicht... Der
blaue Rock, die Zöpfe, das ist
die Tracht von Navarra, das
erinnert mich an die
Heimat...
Zuniga:
Ihr seid Navarrese?
Don José:
Und alter Christ. Don José
Lizzarabengoa, das ist mein
Name. Man ließ mich
studieren, und ich sollte
Priester werden. Doch ich
machte wenig Fortschritte,
denn ich liebte das Ballspiel
zu sehr... Eines Tages, als ich
gewonnen hatte, suchte ein
Bursche aus Alava Streit. Ich
gewann, doch ich mußte mein
Land verlassen. Ich wurde
Soldat. Mein Vater lebt nicht
mehr; meine Mutter folgte
mir und lebt jetzt zehn Meilen
von Sevilla entfernt... mit der
kleinen Micaela... das ist eine
Waise, die meine Mutter bei
sich aufgenommen hat und
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ERLÄUTERUNGEN
38
1. AUFZUG / NR. 3
voulu se séparer
d’elle...
Zuniga:
Et quel âge a-t-elle, la petite
Micaëla?
Don José:
Dix-sept ans...
Zuniga:
Il fallait dire cela tout de
suite... Je comprends
maintenant pourquoi vous
ne pouvez pas me dire si les
ouvrières de la manufacture
sont jolies ou laides...
(La cloche de la manufacture se
fait entendre.)
Don José:
Voici la cloche qui sonne,
mon lieutenant, et vous allez
pouvoir juger par vous-
même... Quant à moi je vais
faire une chaîne pour attacher
mon épinglette.
Zuniga:
C’est bien là, – n’est-ce pas,
dans ce grand bâtiment
que travaillent les
cigarières?
Don José:
C’est là mon officier,
et bien certainement –
on ne vit nulle part, filles
aussi légères.
Zuniga:
Mais au moins sont-elles
jolies?
Don José:
Mon officier, je n’en sais
rien, et m’occupe assez
die sich nicht mehr von ihr
trennen will...
Zuniga:
Und wie all ist sie, die kleine
Micaela?
Don José:
Siebzehn...
Zuniga:
Das müßt Ihr gleich sagen!
Jetzt verstehe ich, weshalb Ihr
mir nicht sagen könnt, ob die
Zigarettenarbeiterinnen
hübsch oder häßlich sind...
(Die Glocke der Zigarettenfabrik
ertönt.)
Don José:
Das ist das Zeichen, Herr
Leutnant, und Sie werden
jetzt persönlich urteilen kön-
nen. Doch ich, ich habe jetzt
an meinem Gewehr eine
Kette anzubringen.
Zuniga (zu José):
Ist nicht dort die Fabrik
unsrer köstlichen Zigaretten,
die so viele Mädchen
beschäftigt?
Don José:
So ist’s, mein Offizier! Doch
glaubet sicher mir, nirgends
findet Ihr mehr so flatterhafte
Mädchen.
Zuniga:
Mag’s drum sein, wenn sie
nur schön sind!
Don José:
Ach, davon weiß ich wahrlich
nichts, denn wenig kümmert
39
ERLÄUTERUNGEN
So, als knüpfe sie an das frühere Verklingen an, beginnt die Musik nun ebenso leise wieder. In der Fabrik hat die Glocke das Ende der Mittagspause geläutet, in weichen Streicherakkorden steigt eine Melodie
nun aufwärts, wie leichter Rauch (Allegro, C-Dur, 6/8):
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1. AUFZUG / NR. 4
peu de ces
galanteries.
Zuniga:
Ce qui t’occupe, ami,
– je le sais bien
une jeune fille charmante
qu’on appelle Micaëla.
Jupe bleue et natte
tombante,
tu ne réponds rien à cela?
Don José:
Je réponds que c’est vrai, je
réponds que je l’aime!
Quant aux ouvrières, d’ici,
quant à leur beauté,
les voici!
Et vous pouvez juger
vous-même.
(Don José s’assied et reste là fort indifferent à toutes les allées et venues le nez sur sa chaîne.)
No 4. Chœur des Cigarières
Chœur:
La cloche a sonné,
nous, des ouvrières
nous venons ici guetter
le retour;
Et nous vous suivrons,
brunes cigarières,
en vous murmurant des
propos d’amour.
mich wohl diese Gattung
Mädchen.
Zuniga:
Was dich bekümmert,
Freund, ich weiß es wohl! ’s
ist ein junges, reizendes
Mädchen; Micaela nennt
sie sich. Blaues Kleidchen
und blonde Zöpfe. – Nun,
Freundchen, gesteh, hab’ ich
recht?
Don José:
Ich gestehe, ’s ist wahr; ich
gesteh’, daß ich sie liebe! –
Doch wie gerufen kommen
von dort die Mädchen der
Fabrik. Sehet selbst und
urteilt, ob sie Euch gefallen.
(Don José hat sich gesetzt und bleibt gleichgültig gegenüber allem Kommen und Gehen; er beschäftigt sich mit seiner Gewehrkette.)
Nr. 4. Chor der
Zigarettenarbeiterinnen
Junge Leute (Tenöre):
Eilen wir herbei mit der
Glocke Tönen,
Auf die Mädchen hier
warten wir am Ort.
Gehn wir ihnen nach,
diesen braunen Schönen,
Flüstern ihnen zu manches
süße Wort.
41
ERLÄUTERUNGEN
Die Soldaten und die jungen Männer schauen den herankommenden Mädchen entgegen. Das wird mit einer sehnsüchtigen, sinnlich weichen,
zärtlichen und doch gespannten Melodie untermalt.
Dann setzt, in einer stets duftig und leicht (zweistimmig) dahinschwehenden Melodie, der Chor der Mädchen ein. Er benutzt die vorher vom Orchester gebrachte Melodie (Nr. 7), die stimmungsvoll
ausgebaut und gesteigert wird.
42
1. AUFZUG / NR. 4
(Les Cigarières paraissent la cigarette aux lèvres et descendent lentement en scène.)
Soldats:
Voyez-les...
Regards impudents,
mine coquette
fumant toutes du bout
des dents
la cigarette.
Cigarières:
Dans l’air, nous suivons
des yeux la fumée,
qui vers les cieux
monte, monte parfumée.
Cela monte gentiment
à la tête,
tout doucement,
cela vous met l’âme en
fête!
Le doux parler des amants
c’est fumée;
leurs transports et leurs
serments
c’est fumée.
Dans l’air nous suivons
la fumée
qui monte en tournant
vers les cieux!
La fumée!
(Die Zigarettenarbeiterinnen er- scheinen, die Zigarette im Munde, und kommen langsam auf die Bühne.)
Soldaten (Bässe):
Seht sie da, wie keck ohne
Scheu, diese Koketten,
Kommen lachend, rauchen
dabei ihre Zigaretten.
Zigarettenarbeiterinnen:
Sehet, wie Raucheswolken
ziehn
In die Lüfte kräuselnd dahin
Und verbreiten holde Düfte.
Sanft betäubet, schlürft den
Rauch
Mit den Lippen, und wie
im Hauch
Laßt uns süße Wonne
nippen.
Ist so ein Mann Liebe zu
schwören bereit –
Das ist Hauch!
Sagt er, daß uns ist sein
Leben geweiht –
Leicht wie Rauch!
Ein treues Herz in der
Brust –
Ist nur Hauch!
O süßer Schmerz,
Liebeslust –
Das ist ein Hauch,
so leicht wie Rauch!
Sehet wie Raucheswolken
ziehn dahin durch die Lüfte.
Ach, sie verbreiten
die lieblichen Düfte
43
ERLÄUTERUNGEN
Ein kurzer, gespannter Einwurf der Männer, die auf Carmen warten, dann ein schneidender, erregender spanischer Orchesterrhythmus, Ausrufe des
Chors, der sie erblickt hat.
Carmen wird umdrängt, von den jungen Männern bestürmt. Elegant, sehr graziös weicht sie aus. Mit ihren ersten Worten – frei, rezitativisch einsetzend – schafft sie die Distanz, die sie stets kennzeichnet. Schon diese Überlegenheit ihrer Persönlichkeit widerlegt die oft (und falsch) behauptete Dirnenhaftigkeit ihres Wesens. Mit einem Satz, einer Geste weist sie ab, mit der nächsten lockt sie. Hier schon muß es klarwerden, daß sie alle Männer in ihren Bann zu ziehen vermag. Dann setzt (Allegretto quasi Andantino, d-Moll, 2/4, mit dem Tanzrhythmus, der sowohl die Habanera als auch den Tango und andere folkloristische Tänze auszeichnet)  die weltberühmte Habanera ein.  Sie wurde, wie an
anderer Stelle erläutert, nicht von Bizet
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1. AUFZUG / NR. 4
Soldats:
Mais nous ne voyons pas la
Carmencita!
Cigarières et jeunes gens:
La voilà,
voilà la Carmencita.
(Entre Carmen. Absolument le costume et l’entrée indiqués par Mérimée. Elle a un bouquet de cassie à son corsage et une fleur de cassie dans le coin de la bouche. Jeunes gens entourent Carmen.)
Jeunes gens:
Carmen, sur tes pas nous
nous pressons tous!
Carmen, sois gentille,
au moins réponds-nous,
et dis-nous quel jour tu nous
aimeras.
Carmen (les regardant):
Quand je vous aimerai, ma
foi, je ne sais pas.
Peut-être jamais, peut-être
demain;
mais pas aujourd’hui,
c’est certain.
Und ziehn sanft sich
kräuselnd dahin:
Duft’ger Rauch,
leicht wie Hauch!
Soldaten:
Doch wir sehen nicht Carmen
in ihrer Mitte.
Zigarettenarbeiterinnen und
junge Leute:
Ah, sie kommt!
Carmen naht mit flüchtigem
Schritte.
(Carmen tritt auf. Kostüm und Auftritt sind von Mérimée genau angegeben. Sie hat ein Blumenbouquet an ihrem Mieder und eine Blume in ihrem Mund. Junge Leute umringen Carmen.)
Junge Leute:
Carmen, sieh, wir folgen am
Fuße dir!
Carmen, ach, sei artig,
gib Antwort hier!
Und nenn uns den Tag,
wo dein Sinn endlich bricht,
Und wo dein sprödes Herz
uns von Liebe spricht!
Carmen (schaut sie an):
Wann ich Liebe euch
schenk’?
Fürwahr, das weiß ich nicht.
Wohl niemals vielleicht,
’s kann morgen schon sein.
Eins weiß ich gewiß:
Heute? – Nein!
45
ERLÄUTERUNGEN
komponiert, sondern aus einer spanischen Melodiensammlung von Sebastian de Iradier entnommen, aber hier von Bizet in völlig neuem, dramatischem Geiste gestaltet. Die tiefen Streicher markieren den abgehackten, aufreizenden Rhythmus, die Singstimme wird in der Vorstrophe von den Streichern im pizzicato begleitet (was wie Gitarrenspiel wirkt), während die Singstimme leise, wie sich anschleichend, in teilweise chromatischen Wendungen ertönt, sinnlich und
spielerisch zugleich:
Mit dem Eintritt des Refrains, der vom Chor vorbereitet wird, geht die Melodie nach Dur über, in die millionenfach zitierte »Liebe, die von
Zigeunern stammet«.
(Notenbeispiel S. 48)
46
1. AUFZUG / NR. 5
No 5. Habanera
Carmen:
L’amour est un oiseau
rebelle
que nul ne peut apprivoiser,
et c’est bien en vain qu’on
l’appelle
s’il lui convient de refuser.
Rien n’y fait, menace ou
prière,
l’un parle bien, l’autre
se tait;
et c’est l’autre que je
préfère,
il n’a rien dit, mais il me
plaît.
L’amour, l’amour!
Chœur:
L’amour et un oiseau
rebelle
que nul ne peut apprivoiser,
et c’est bien en vain qu’on
l’appelle
s’il lui convient de refuser.
Nr. 5. Habanera
Carmen:
Ja, die Liebe hat bunte
Flügel,
Solch einen Vogel zähmt
man schwer.
Haltet fest sie mit Band
und Zügel,
Wenn sie nicht will,
kommt sie nicht her.
Ob ihr bittet, ob ihr befehlet
Und ob ihr sprecht und
ob ihr schweigt.
Nach Laune sie den
erwählet
Und heftig liebt,
der stumm sich zeigt.
Die Lieb, die Lieb!
Arbeiterinnen und junge Leute:
Ja, die Liebe hat bunte
Flügel,
Solch einen Vogel zähmt
man schwer.
Haltet fest sie mit Band
und Zügel,
Wenn sie nicht will,
kommt sie nicht her.
47
ERLÄUTERUNGEN
Es ist eine Melodie, der man den einzigen – grotesken – Vorwurf machen kann, sie sei zu populär geworden. Der Chor, der vorher das »Nimm dich in acht!« beziehungsvoll eingeworfen hat (denn Zigeunerliebe ist heiß und daher gefährlich), nimmt Carmens Melodie auf. Die Habanera ist – ob von Bizet oder nicht – ein ganz von ihm gestaltetes Stück seiner Partitur
geworden.
48
1. AUFZUG / NR. 5
Carmen et Soprani:
L’amour est enfant de
Bohème,
il n’a jamais connu de loi;
si tu ne m’aimes pas,
je t’aime;
si je t’aime, prends garde
à toi!...
Tenors et Basses:
Prends garde à toi!
L’amour est enfant de
Bohème!
Carmen:
L’oiseau que tu croyais
surprendre
battit de l’aile et s’envola...
L’amour est loin, tu peux
l’attendre
tu ne l’attends plus...
it est là ...
tout autour de toi, vite, vite,
il vient, s’en va, puis il
revient...
tu crois le tenir, il t’évite,
tu crois l’éviter, il le tient.
L’amour, l’amour!
Chœur:
Tout autour de toi, vite, vite,
il vient, s’en va, puis il
revient...
tu crois le tenir, il t’évite,
tu crois l’éviter, il te tient.
Carmen und Sopran:
Die Liebe von Zigeunern
stammet,
Fragt nach Rechten nicht,
Gesetz und Macht;
Liebst du mich/sie nicht,
bin ich/ist sie entflammet,
Und wenn ich/sie lieb(t),
nimm dich in acht!
Tenor und Baß:
Nimm dich in acht!
Ja, die Liebe stammt von
Zigeunern.
Carmen:
Glaubst den Vogel du schon
gefangen,
Ein Flügelschlag, ein
Augenblick
Er ist fort, und du harrst
mit Bangen,
Eh’ du’s versiehst,
ist er zurück.
Weit im Kreise siehst du ihn
ziehen,
Bald ist er fern, bald ist er nah.
Halt ihn fest, und er wird
entfliehen,
Weichst du ihm aus,
flugs ist er da!
Die Lieb, die Lieb!
Arbeiterinnen und junge Leute:
Glaubst den Vogel du schon
gefangen, Ein Flügelschlag,
ein Augenblick,
Er ist fort,
und du harrst mit Bangen,
Eh’ du’s versiehst,
ist er zurück.
49
ERLÄUTERUNGEN
Nach dem Abschluß dieser Melodie nähert Carmen sich dem völlig unbeteiligten José. Sie spricht (in Prosa) zu ihm: im Orchester erklingt leise und drohend, trotz der anscheinend sorglosen Stimmung ringsum,
das Todesmotiv (Nr. 3).
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