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Autoreninfo

Herbert Reichelt, geboren 1951 in Herne, dort im tiefen Ruhrgebiet auch aufgewachsen. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften und der Mitarbeit in einigen Forschungsprojekten an der Ruhr-Universität Bochum ab 1983 in verschiedenen Funktionen für das Wissenschaftliche Institut der AOK und den AOK-Bundesverband tätig. Seit 2012 auch schriftstellerisch unterwegs.

Haupttitel

Herbert Reichelt

Bochumer Mörderwoche

Kriminalroman

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Umschlagfoto (Kühltürme an der Jahrhunderthalle, Bochum):
© Thomas Lange, Dortmund
www.fotografie-thomas-lange.de

Umschlaggestaltung:
Lina C. Schwerin, Hamburg

eBook-Erstellung:
rübiarts, Reiskirchen

ISBN Paperback 978-3-87062-165-0
ISBN epub 978-3-87062-263-3
ISBN mobi 978-3-87062-264-0

20150930

www.cmz.de

www.herbert-reichelt.de

Tagebuchauszug

Endlich habe ich den Entschluss gefasst. Das hätte ich viel eher tun sollen. Jetzt spüre ich einen unbändigen Tatendrang – etwas, was mir so lange gefehlt hat. Mein Leben war leer geworden. Irgendetwas anzupacken, nach vorne zu schauen, das war mir unmöglich geworden. Doch nun gibt es Planung, es gibt Organisation, zielgerichtetes Handeln. Jetzt wird alles gut. Das Gefühl, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können, verleiht mir neue Kraft.

Alles andere konnte nicht zum Ziel führen. Eigentlich war das doch schon lange vorher zu erkennen gewesen. Wie war diese lange Selbsttäuschung nur möglich? Erst jetzt, da ich endlich den einzig richtigen Entschluss gefasst habe, wird mir klar, dass es keine Alternative mehr gibt, dass ich diesen Weg einschlagen muss und keinen anderen. Als Antwort kommt nun die gerechte Strafe. Und ganz besonders wird meine Strafe ihn ereilen, ihn, der meinen unbändigen Hass auf sich gezogen hat wie kein anderer …

Inhalt

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Ein neuer Dienstag

Nachwort

Dienstag

Dass diese Anrufe immer dann kommen, wenn ich mir mal einen freien Tag nehme, das ist das eigentliche Verbrechen, dachte er, als er verschlafen ins Bad schlurfte. Halb neun! Jan Kolosky hatte einmal so richtig ausschlafen wollen, und dann sollte es in die Stadt gehen, wo er sich endlich neue Hosen und Hemden zulegen wollte.

Das war unvermeidbar geworden, nachdem Dirk ihn wegen seiner abgewetzten braunen Hose aufgezogen hatte. »Die hast du doch schon getragen, als wir uns kennengelernt haben«, hatte er getönt. Das glaubte Kolosky zwar nicht, denn älter als zehn Jahre konnte die Hose nun wirklich nicht sein. Und eigentlich war sie seiner Meinung nach auch noch immer in Ordnung, wenn man von den etwas abgeschabten Rändern der Hosentaschen einmal absah.

Aber gut, er hatte sich damit abgefunden, dass er neue Kleidung brauchte, und er hatte sich extra freigenommen, damit der Einkauf an einem ruhigen Wochentag stattfinden konnte. An einem Samstag hätten ihn keine zehn Pferde ins Kaufhaus bringen können. Dazu war es viel zu voll in der Stadt. Man musste sogar auf freie Umkleidekabinen warten, und die Verkäuferinnen hatten meistens auch keine Zeit.

Aber heute würde es mit dem Einkauf dann doch nichts werden, und in den nächsten Tagen vermutlich auch nicht. Kolosky überlegte, ob ihm eine neue Leiche nicht sowieso lieber war als ein Besuch im Bekleidungskaufhaus.

Was er aber ebenso hasste wie dieses überflüssige Einkaufen, war, von einer schrillen Telefonklingel aus den Träumen gerissen zu werden. Hätten sie ihn nicht wenigstens ausschlafen lassen können? Aber dann wurde ihm bewusst, dass er ihnen das noch viel übler genommen hätte: Dirk, Hatice oder wer sonst noch am Tatort, und ihn lassen sie einfach zu Hause weiterträumen. Das hätte er ihnen so schnell nicht vergessen.

Dirk war wohl schon am Fundort der Leiche, der mit größter Sicherheit auch der Tatort war, wie er ihm gesagt hatte.

Kolosky schaute in den Spiegel. Er musste sich eingestehen, dass er ziemlich verknittert aussah. Er wäre gestern Abend wohl besser etwas eher zu Bett gegangen, und er hätte auch besser ein Glas Wein weniger getrunken. Aber was half es! Er musste jetzt, so schnell es ging, zum Fundort der Leiche fahren.

Dirk hatte ihn am Telefon bereits vorgewarnt. Er solle sich auf einen furchtbaren Anblick gefasst machen. Er selbst habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Das verhieß nichts Gutes, denn Dirk hatte in den vielen Jahren, die sie zusammenarbeiteten, schon so einiges gesehen.

Kolosky brauchte nicht lange fürs Duschen und Ankleiden. Ohne Frühstück machte er sich auf den Weg. Im Kiosk an der Straßenecke holte er sich einen »Coffee to go« und ein Schoko-Croissant. Das musste heute Morgen reichen. Er nahm beides mit zu seinem Wagen, den er nur wenige Schritte entfernt am Straßenrand geparkt hatte.

Es war März geworden. In den letzten Tagen hatte sich bereits die Frühlingssonne gezeigt. Fast fünfzehn Grad hatte es am Wochenende gegeben. Aber heute Morgen wollte die Wolkendecke noch nicht aufbrechen. Außerdem war es reichlich kalt. Das Außenthermometer seines Wagens zeigte gerade einmal vier Grad an. Gut, dass der Winter jetzt endlich zu Ende ging, dachte Kolosky. Noch mehr als die Kälte hasste er an den Wintermonaten diese ewige Dunkelheit. Es war dunkel, wenn man zur Arbeit fuhr, und bereits wieder dämmrig, wenn man in den Feierabend gehen konnte. Wenn es nach ihm ginge, könnten sich das ganze Jahr über Frühling und Sommer abwechseln.

Er nutzte die kurzen Wartezeiten vor den roten Ampeln, um an seinem Kaffee zu nippen und an dem Croissant zu knabbern. Er hatte kurz überlegt, ob er das Blaulicht auf das Dach seines alten Mercedes-Kombi setzen sollte, aber er hatte den Gedanken sofort verworfen. Denn dann hätte er während der Fahrt zwangsläufig auf Kaffee und Croissant verzichten müssen. Und am Tatort in ein Schoko-Croissant zu beißen, hielt er für keine gute Idee. Als er den letzten Bissen heruntergeschlungen hatte, griff er doch unter den Sitz und holte das Blaulicht hervor, und nach kurzer Zeit hatte er das Villenviertel von Bochum-Stiepel erreicht.

Kolosky kannte Stiepel, das zu den bevorzugten Wohngegenden in Bochum zählte, gut, auch wenn er selbst sich niemals ein Haus hier hätte leisten können. Er wohnte in Weitmar, einem ebenfalls eher bürgerlich geprägten Wohnviertel, das sich aber mit Stiepel nicht messen konnte. Er hatte es dennoch als gehörigen sozialen Aufstieg empfunden, sich in Weitmar niederlassen zu können, hinreichend weit weg von dem Industrie- und Arbeiterviertel in Bochum-Hamme, wo er aufgewachsen war.

Seine Mutter hatte immer verstanden, dass ihn nichts mehr dorthin zog. Aber sein Vater, der viele Jahrzehnte im Stahlwerk von Krupp »malocht« hatte, wie er es immer ausdrückte, hatte das nie so richtig verwunden. Er hatte immer gemeint, sein Sohn verleugne seine soziale Herkunft, und das gehöre sich einfach nicht.

Dabei wollte Kolosky sein Elternhaus keineswegs vergessen. Nach wie vor fand er sich politisch stets auf der Seite des »Kleinen Mannes« ein, und er hatte große Achtung vor der Lebensleistung seiner Eltern. Aber musste man das lebenslang damit zum Ausdruck bringen, dass man zwischen Stahlkocher-Rentnern und »Menschen mit Migrationshintergrund« wohnte und jeden Tag auf die alten Industriebrachen guckte? Ja, natürlich war auch in Hamme nicht alles düster und trostlos. Das war es seiner Meinung nach sowieso nie gewesen. Und der Westpark, den sie um die Jahrtausendwende aus dem alten Stahlwerkgelände gemacht hatten, war ein echtes Schmuckstück geworden. Die Idee, die Industriebrachen um die Jahrhunderthalle herum in eine Mischung aus Industriedenkmal, Kulturzentrum und Park umzugestalten, war gelungen umgesetzt worden, wie Kolosky fand. Aber diese kreative Landschaftsgestaltung allein änderte natürlich nichts an dem unmittelbaren Wohnumfeld, an den sozialen Strukturen und auch nichts an der hohen Arbeitslosigkeit, die hier vorherrschte. Kolosky fühlte sich nach wie vor mit dieser Gegend verbunden, in der er seine Kindheit verbracht hatte – aber wohnen wollte er dort nicht mehr.

Er genoss es einfach, dass er von seinem kleinen Balkon ins Grüne schauen konnte, und noch mehr genoss er es, dass man von seiner Wohnung aus durch das Weitmarer Holz direkt bis ins Ruhrtal hinunter wandern konnte. Das tat er auch oft und gern. Den schönen Bochumer Süden mit seinen Ausläufern in das Niederbergische Land direkt vor seiner Haustür zu haben, das war für ihn ein wichtiges Stück Lebensqualität geworden. Oft war er bei seinen Wanderungen auch durch Stiepel gelaufen und hatte dabei die eine oder andere größere Villa bestaunt. Der Wohlstand war in Stiepel schon immer zu Hause gewesen – jedenfalls solange Kolosky zurückdenken konnte. Stiepel war für ihn seit jeher eine merkwürdige Mischung aus alter dörflicher Struktur und wachsenden Villenvierteln gewesen. Die nahe gelegene Ruhr-Universität und der Bau des Kemnader Stausees mit seinem hohen Freizeitwert hatten diese Entwicklung ganz sicher befördert. Dennoch wirkte der Bochumer Vorort nicht etwa protzig. An vielen Stellen schimmerten noch immer die ursprünglichen dörflichen Strukturen durch. Und die alte Dorfkirche steuerte mit ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte sogar ein wenig historisches Flair bei.

Als Kolosky die Absperrung passierte, hatte sich bereits eine kleinere Menschenansammlung vor dem pompösen Haus im Löwenzahnweg gebildet, in dem der Mord geschehen war. Es war ein modern gestalteter zweigeschossiger Bau mit einem riesigen Pultdach, das gegenüber den benachbarten Häusern etwas zurückgesetzt in die Hanglage hinein gebaut worden war. Kolosky schätzte die Grundfläche des Gebäudes auf mindestens einhundertfünfzig Quadratmeter. Die hangabwärts führende, mit Kies bestreute Einfahrt endete vor einer breiten Freitreppe aus hellem Marmor, die zum doppeltürigen Haupteingang führte. Das Haus musste ein Vermögen gekostet haben, dachte Kolosky. Und als er vor der Garage das sündhaft teure rote Lamborghini Cabrio sah, war ihm endgültig klar, dass hier der reine Luxus zu Hause war. Auch wenn Stiepel nach wie vor zu den teuersten Wohnlagen in Bochum zählte, hätte man eine derart großzügige Prachtvilla hier nicht unbedingt vermutet.

Eine junge Mitarbeiterin vom Erkennungsdienst kam ihm bereits entgegen, als er auf die Haustür zusteuerte. »Guten Morgen«, lächelte er sie an, aber an ihrem ernsten Gesicht konnte er bereits ablesen, dass Dirk mit seiner Vorwarnung wohl nicht übertrieben hatte. »Morgen, Herr Kolosky«, brachte sie mit etwas Mühe hervor. »Das ist nichts für nüchterne Mägen.«

Als Kolosky in das Schlafzimmer trat, in dem sich bereits vier weitere Kollegen mit der Spurensicherung und der Dokumentation des Tatorts befassten, musste er schlucken, und er spürte einen starken Würgereiz. Die männliche Leiche lag splitternackt auf dem großen Bett und war von oben bis unten mit Blut bespritzt. Um die linke Hand des Opfers war eine Handschelle gelegt, die wiederum mit einem Seil am Fenstergriff befestigt war. Die Beine hatte man eng zusammengeschnürt, so dass der Mann vor seiner Ermordung praktisch bewegungsunfähig gewesen sein musste.

Das Schlimmste aber war der Anblick des rechten Arms des Opfers. Auch seine rechte Hand war wohl mit einer Handschelle fixiert worden, lag aber jetzt abgetrennt auf dem Bettrand, während der Armstumpf auf der Brust des Opfers zu liegen gekommen war. Die Handschelle entdeckte Kolosky auf dem Boden in einer Blutlache. Das Seil, mit dem sie zuvor fixiert worden war, hing schlaff vom Griff der offenen Kleiderschranktür herab.

Es war ein grauenvolles Bild, das Bild einer Hinrichtung. Kolosky hatte in seinen mehr als dreißig Jahren bei der Polizei schon vieles gesehen, Opfer von brutalen Schlägereien und Opfer mit Bauchschüssen, aber er musste Dirk Recht geben, dieser Anblick verschlug selbst ihm die Sprache.

Es dauerte eine Weile, bis Kolosky sich wieder gefasst hatte. Er selbst hatte den Eindruck, dass er minutenlang bewegungslos im Eingang zum Schlafzimmer gestanden haben musste. In Wirklichkeit hatte es wohl nur wenige Sekunden gedauert. Er sah jetzt, dass sich auch Dirk unter den Beamten befand, die mit der Spurensicherung beschäftigt waren, und er fragte: »Was wisst ihr schon?« Dirk Wendling sah auf, und er bedeutete ihm, gemeinsam das Zimmer zu verlassen.

Kolosky folgte Dirk durch das große Wohnzimmer des Hauses hinaus auf die breit angelegte Terrasse, von der man einen großartigen Blick auf das Ruhrtal und die gegenüberliegende Burg Blankenstein hatte.

Dirk setzte sich in einen der Gartenstühle, zog die Handschuhe aus und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Hast du so etwas schon einmal gesehen?«, fragte er.

Kolosky schüttelte den Kopf. »Nein, so etwas noch nie«, sagte er und meinte damit nicht nur die furchtbar zugerichtete Leiche, sondern auch das Kontrastprogramm dieses Landschaftspanoramas, das sich ihnen auf der Gartenterrasse bot. Hätten sie nicht diesen schrecklichen Mordfall zu bearbeiten, könnte man sich hier wie im Urlaub fühlen, dachte er. Wie oft war er in seiner Kindheit mit seinen Eltern nach Blankenstein gefahren? Mit der Straßenbahn! Die fuhr schon lange nicht mehr nach Blankenstein. Wann hatte man die Linie eingestellt? Kolosky hätte es nicht sagen können, aber es musste bereits Jahrzehnte her sein. Er schaute etwas wehmütig auf die gegenüberliegende Talseite. In dem »Irrgarten« dort oben waren sie als Kinder herumgelaufen. Er hatte das immer wieder aufs Neue spannend gefunden. Der »Irrgarten« war in Wahrheit nichts anderes gewesen als ein kleines Waldstück im Hang unterhalb der Burg, mit ungewöhnlich vielen kleinen Wegen durchzogen, die im Einzelfall auch tatsächlich mal als Sackgasse endeten. Ein paar Jahre später, als seine Eltern das Auto gekauft hatten – ein Opel Kadett, was sonst? –, war Blankenstein dann kein Ziel mehr gewesen. Da hatte es sie zum Wochenende eher ins Sauerland gezogen – fast immer zum Möhnesee. Er selbst aber hatte Blankenstein viel interessanter gefunden, und später war er dann oft auf eigene Faust mit seinem Fahrrad dorthin gefahren.

Kolosky riss sich aus seinen Gedanken. »Was wisst ihr bereits?«, wiederholte er seine Frage.

»Der Tote ist Dr. Markus Weindorf. Er wohnt hier. Pardon, er wohnte hier, und nach allem, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten, ganz allein – auf mehr als dreihundert Quadratmetern Wohnfläche. Eine Schande ist das, wenn du mich fragst. Da suhlt sich einer in einem solchen Luxus, während in Bochum gerade alles den Bach runter geht und die Opel-Leute auf der Straße stehen. Mein Mitleid mit dem Menschen hält sich, ehrlich gesagt, in Grenzen. Gearbeitet hat er übrigens in der Forschungsabteilung von Chenotrans.«

O Gott, dachte Kolosky, jetzt wird er mir gleich wieder einen Vortrag über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und über die bösen Wirtschaftsbosse im Besonderen halten. Mit einer raschen Nachfrage versuchte er Dirk davon abzuhalten: »Chenotrans? Das ist doch die große Pharmafirma in Riemke, nicht wahr?«

Dirk nickte. »Ja, auch wenn man bei dem Namen eher an eine Spedition denken würde.«

»Und sonst?«

»Na ja, du hast es ja selbst gesehen. Sieht aus wie eine Hinrichtung. So wie Doc Petersen nach seiner ersten Untersuchung sagt, ist ihm die Hand bei lebendigem Leib abgeschlagen worden, vermutlich mit einem Beil oder einer Axt.«

»Meine Güte! Dann muss er ja furchtbare Schmerzen durchlitten haben.«

»Wahrscheinlich schon. Der Doc meint allerdings, dass der menschliche Körper auf das Abtrennen von Körperteilen meistens mit so einer Art Notfallprogramm reagiert. Schmerzen werden durch die Ausschüttung von Stresshormonen gedämpft, und selbst die Blutung wird halbwegs eingedämmt, weil sich die Hauptarterie aufkräuselt und den Blutfluss reduziert. Dennoch ist Weindorf letztendlich wohl verblutet, und irgendwann wird ihn hoffentlich eine gnädige Ohnmacht übermannt haben.«

»Hat Petersen schon etwas zum Todeszeitpunkt gesagt?«

»Ja, der Tod ist seiner Schätzung nach vor zehn bis vierzehn Stunden eingetreten. Genaueres kann er aber wohl erst heute Abend sagen. Wir gehen davon aus, dass Weindorf gerade bei seinem Abendbrot gesessen hat, als der Täter ihn aufsuchte. Wir haben in der Küche einen Teller mit einem angebissenen Käsebrot und ein halb leeres Glas Bier gefunden. Einen Einbruch scheint es nicht gegeben zu haben. Weindorf hat seinen Mörder wohl freiwillig in die Wohnung gelassen. Er hat ihn also vermutlich gekannt.«

»Das ist ja schon mal ein Anfang. Wer hat den Toten gefunden? Und habt ihr schon mit den Befragungen der Nachbarn begonnen?«, fragte Kolosky.

»Die Putzfrau hat ihn entdeckt. Sie hat völlig hysterisch auf der Eins-Eins-Null angerufen und hatte vor Aufregung sogar Probleme, die Adresse zu nennen. Befragen können wir sie leider nicht. Sie steht unter schwerem Schock und liegt im Augusta-Krankenhaus. Mit der Befragung der Nachbarn haben wir gerade begonnen, soweit das überhaupt möglich ist. Einige der Nachbarn sind nicht zu Hause – wahrscheinlich schon unterwegs zur Arbeit. Die wir schon befragen konnten, haben nichts, aber auch gar nichts Verdächtiges oder Ungewöhnliches gesehen oder gehört. Aber was willst du hier auch hören? Dreifachverglasung! Wenn du die Fenster zumachst, kannst du hier eine Handgranate zünden, ohne dass der Nachbar das mitbekommt.«

Ganz so wird es wohl nicht sein, dachte Kolosky. Aber es half ja nichts. Wenn die Nachbarn nichts mitbekommen hatten, war das nicht zu ändern. Ihre Arbeit würde das nicht gerade leichter machen. »Bleibt aber bitte am Ball bei den Nachbarn«, mahnte er. »Es könnte ja sein, dass irgendwer von denen, die jetzt nicht da waren, doch was gesehen oder gehört hat.«

»Na klar, haben wir natürlich auf dem Zettel«, gab Dirk zurück.

»Was sagen denn die Nachbarn sonst zu Herrn Weindorf? Wohnt hier ganz allein in diesem riesigen Haus – ist das nicht merkwürdig rübergekommen?«

»Na ja, dazu wissen wir natürlich noch nichts. Mal sehen, vielleicht kann ich dir nachher mehr erzählen.«

»Was hatte Weindorf bei Chenotrans eigentlich für eine Stellung? Wenn ich mir diesen Palast hier angucke, muss er ja gut verdient haben.«

»Tja, das ist eben das Merkwürdige. Ich wäre sowieso noch darauf zu sprechen gekommen. Wir haben bei der Personalabteilung nachgefragt. Er war nicht einmal Abteilungsleiter – wenn du so willst, war er ein einfacher wissenschaftlicher Mitarbeiter, der lediglich ein kleines Forschungsteam geleitet hat. Das passt mit diesem Haus nicht wirklich zusammen. Ich habe die Überprüfung seiner Konten schon beantragt. Vielleicht finden wir da ja was – Börsenspekulationen, Erbschaft, was weiß ich?«

»Okay, Dirk. Ich schau mir nochmal den Tatort an.«

Kolosky ging wieder ins Schlafzimmer. Er musste sich überwinden, das zu tun, aber er wollte sich später nicht vorwerfen, den Tatort nicht selbst genauestens in Augenschein genommen zu haben. Überall auf dem Bett und auf der Leiche war Blut verspritzt. Er betrachtete die Szenerie jetzt noch einmal intensiv. Wenn er ein Fernsehkommissar wäre, dachte Kolosky, dann würde er jetzt bestimmt etwas ganz Wichtiges entdecken, was alle anderen übersehen hatten. Aber er stellte enttäuscht fest, dass ihm das Glück der Fernsehkommissare nicht beschieden war. Er konnte nichts entdecken, das ihnen hätte weiterhelfen können.

Schließlich sagte er Dirk Wendling, dass er ins Büro fahren würde. »Wenn du hier fertig bist, komm bitte nach. Wenn wir sonst keine verwertbaren Spuren finden, müssen wir uns wohl zuerst ein genaues Bild vom Umfeld des Opfers machen. Wir brauchen Anhaltspunkte, wo wir nach Tatmotiven suchen können.« Dirk nickte nur stumm.

Kolosky war schon ein paar Schritte gegangen, als er sich noch einmal zu Dirk umdrehte. »Hat eigentlich schon jemand die Angehörigen benachrichtigt?« Fast hätte er das vergessen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Es mochte wohl daran liegen, dass er diese Momente mit den Angehörigen hasste. Und in einem Fall wie diesem war die Überbringung der traurigen Nachricht noch gruseliger, als sie es normalerweise schon war.

Zum Glück nickte Dirk aber erneut. »Die Kollegen in Karlsruhe haben das übernommen. Weindorfs Eltern wohnen da unten. Ich habe natürlich angeboten, dass die Eltern uns jederzeit anrufen können, und ich habe die Karlsruher Kollegen auch ausdrücklich gebeten, den Eltern meine Handynummer zu geben. Bislang hat sich aber niemand bei mir gemeldet.«

»Gut, danke!«, konnte Kolosky nur gequält zurückgeben. Innerlich fiel ihm ein dicker Stein vom Herzen, dass dieser Kelch an ihm vorübergegangen war. Nicht, dass er nicht immer tiefes Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer empfunden hätte. Aber er war in diesen Situationen einfach nie fähig, die richtigen Worte zu finden.

Er ging zu seinem Wagen und fuhr los. Das grausame Hinrichtungsbild wollte ihm zunächst gar nicht aus dem Kopf weichen. Was geht in jemandem vor, der einen solchen Mord begeht? Strafe, Rache, Vergeltung, das waren die Begriffe, die ihm dazu einfielen. Sie hatten es hier mit einem Mord aus Leidenschaft zu tun. Aber dennoch musste alles detailliert geplant worden sein. Anders waren die verwendeten Utensilien und Werkzeuge nicht zu erklären. Man trägt nicht Seile, Handschellen und eine Axt mit sich herum, wenn man nicht genau weiß, wofür man sie verwenden will.

Kolosky bog in die Königsallee ein, die Verbindungsstraße zwischen dem Bochumer Süden und der Innenstadt. Im Sommer, wenn die Bäume belaubt waren, fühlte er sich hier immer wie auf einer Ausflugsfahrt ins Grüne. Mehr als drei Kilometer fuhr man auf einer von Bäumen umsäumten Straße, die die »Allee« nicht nur im Namen trug und die von der Gegenfahrbahn durch einen breiten, baumbestandenen Grünsteifen getrennt war. Heute aber waren die Bäume noch kahl. Die Baustelle hinter dem Kreisel mit der Klosterstraße und der bedeckte Himmel taten ihr Übriges, der Fahrt jegliche Freizeitstimmung zu nehmen.

Auf der Viktoriastraße konnte er einen Blick ins »Bermuda3eck« werfen, Bochums Kneipen- und Kultviertel. Die Außengastronomie war bereits vollständig aufgebaut. Spätestens das sonnige und warme Wochenende hatte dem Winter hier bereits unwiederbringlich ein Ende gesetzt. Heute würde es wohl keine großen Umsätze geben, dachte Kolosky. Aber für die folgenden Tage war ja bereits wieder besseres Wetter vorhergesagt.

Als er schließlich die Herner Straße erreichte, erschien rechts das mächtige Gebäude des Deutschen Bergbaumuseums mit dem mehr als siebzig Meter hohen Förderturm dahinter – Bochums Wahrzeichen schlechthin. Hinter dem Museumsgebäude hatte Kolosky sein Ziel, das Bochumer Polizeipräsidium, auch schon erreicht. Natürlich gab es keinen freien Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Eingangs. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als das Polizeiparkhaus in der Schillerstraße anzufahren.

Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis Dirk im Büro ankam. Kolosky nutzte die Zeit, um auf einem Schreibblock zu skizzieren, was aus seiner Sicht als nächstes zu tun war und wen man dafür brauchte. Auf jeden Fall musste eine Große Mordkommission gebildet werden, um in alle Richtungen zu ermitteln und Befragungen zu starten, damit sie sich ein Bild vom Leben und vom Umfeld des Opfers machen konnten. Kolosky wusste, was da auf sie zukommen würde, ein zähes Geschäft, mühevoll und oft frustrierend, wenn man dabei nicht so recht weiterkam. Aber irgendwie gehörte das ja auch dazu. Hätte man bei jedem Mordfall sofort eine konkrete Spur, wäre die Arbeit sicher einfacher. Aber wäre sie dann auch so interessant und spannend?

Jan Kolosky liebte seinen Beruf. Die Aufklärung von Tötungsdelikten war schon sehr früh sein heimlicher Traum gewesen, und als er endlich die Chance bekam, bei der Kriminalpolizei in den gehobenen Dienst zu kommen, hatte er versucht, so schnell wie möglich bei einer Mordkommission mitzuarbeiten.

Inzwischen war er zum Leiter des Ersten Kriminalkommissariats aufgestiegen, und wenn sein Chef ihn nicht davon abhalten würde, dann wollte er auch unbedingt die Kommission leiten, die jetzt zur Aufklärung des Mordes an Markus Weindorf gebildet würde.

Zwei seiner engsten Mitarbeiter galten für ihn dabei als gesetzt. Hatice Demirci, die jüngste Mitarbeiterin in seinem Kommissariat, sollte so ihre ersten Erfahrungen in einem Mordfall sammeln, und natürlich musste auch Dirk dabei sein.

Wie viele Tötungsdelikte hatte er zusammen mit Dirk bereits bearbeitet, und wie viele davon hatten sie letztendlich aufklären können? Wenn er jetzt spontan durchzählte, kam er auf zwölf, vielleicht waren es sogar eines oder zwei mehr. Und aufgeklärt hatten sie bis auf eine einzige Ausnahme alle. Diese einzige Ausnahme lag ihm noch heute wie ein Stein auf der Brust. Er ärgerte sich, dass sie im Fall des erschossenen Chefarztes Tischrut damals einfach keine brauchbaren Spuren finden konnten. Es war alles im Dunkeln geblieben, alle Spuren waren im Sande verlaufen. Bis heute war rätselhaft, was damals in Tischruts Haus geschehen war.

Irgendwie überkam ihn das dumpfe Gefühl, dass ihnen im neuen Fall ein ähnliches Fiasko blühen könnte. Er hätte gar nicht sagen können, warum ihm dieser Gedanke kam. Es war ja eigentlich viel zu früh für derartig depressive Prognosen. War es vielleicht die Tatsache, dass auch der Mord an Tischrut damals in solch einer großen Villa in Stiepel passiert war?

Kolosky schob den Gedanken beiseite. Jetzt galt es erst einmal, sich mit allen Kräften in die Ermittlungsarbeiten zu stürzen. Er ging nach nebenan zu Hatice und sagte ihr, dass er sie für die Große Mordkommission vorschlagen wollte. Hatice freute sich sichtlich darüber und schien das als besondere Auszeichnung zu verstehen. Kolosky hielt viel von der jungen Kommissarin. Er war sicher, dass sie eine Bereicherung für die Bochumer Kripo werden würde. Sie hatte eine außergewöhnlich gute Auffassungsgabe, und sie beherrschte bereits jetzt die IT-Instrumente, die ihnen zur Verfügung standen, wie niemand sonst in seinem Kommissariat. Immer wenn es um Datenbankabfragen oder Internet-Recherchen ging, wurde sie gern von allen Kollegen angesprochen. Dazu mochte allerdings auch beitragen, dass sie äußerst hübsch aussah, dachte Kolosky. Sie trug gern schicke, helle Kleidung, die mit ihrem dunklen Teint und den vollen schwarzen Locken einen harmonischen Kontrast bildeten. Das Tragen eines Kopftuches wäre Hatice nicht in den Sinn gekommen. Sie war eine emanzipierte junge Frau, der man zwar ihre türkischen Wurzeln ansah, die sich aber unübersehbar als Deutsche fühlte und daran auch keinen Zweifel aufkommen ließ. Wenn die Integration doch überall so erfolgreich wäre, ging es Kolosky durch den Kopf. Er berichtete Hatice, was sie bisher über den Mord und das Opfer wussten.

Als Dirk endlich im Präsidium auftauchte, hatte Kolosky bereits die wichtigsten Dinge, die zu tun waren, aufgelistet. Er bat Dirk und Hatice in sein Büro. Dirk berichtete zuerst von der Befragung der Nachbarn. Einer von ihnen hatte vor wenigen Tagen eine größere dunkelfarbige Limousine vor Weindorfs Haus gesehen, die nicht aus Bochum stammte. Das Fabrikat wusste er nicht zu benennen, und auch an das vollständige Kennzeichen konnte er sich nicht erinnern. Aber immerhin wusste er noch, dass in der Mitte die Buchstabenkombination »JA« gestanden hatte. Das war ihm in Erinnerung geblieben, weil er es so lustig gefunden hatte. Dirk hatte bereits eine Recherche veranlasst, auf welche Wagen die Kombination »Dunkelfarbige Limousine mit ›JA‹ in der Kennzeichenmitte« zutraf.

Ein anderer Nachbar hatte berichtet, dass vor etwa drei Wochen ein Mann um Weindorfs Haus geschlichen war. Weindorf sei zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen. Der Nachbar habe den Mann zur Rede gestellt, der daraufhin behauptet hätte, er sei nur durch das offene Tor hinter das Haus gegangen, um das schöne Ruhrtal-Panorama fotografieren zu können. Das habe aber mit Sicherheit nicht gestimmt. Vielmehr habe der Mann Weindorfs Haus von allen Seiten fotografiert. Der Nachbar hatte sich deshalb das Kfz-Kennzeichen seines Autos notiert und auch Weindorf über den Vorfall Bescheid gegeben. Das Kennzeichen hatte er sogar noch in der Diele liegen, es lautete »BO – FM 456«. Dirk hatte bereits ermittelt, dass das Fahrzeug, ein schwarzer Opel Corsa, auf Friedhelm Maralowski, wohnhaft in Bochum-Langendreer, zugelassen war. Diesen Maralowski mussten sie also auf jeden Fall befragen. Ansonsten hatte keiner der Nachbarn in der letzten Zeit etwas Auffälliges oder Ungewöhnliches bemerkt.

»Sehr beliebt war Weindorf in der Nachbarschaft wohl nicht«, wusste Dirk weiter zu berichten. »Er muss ein ordentliches Imponiergehabe an den Tag gelegt haben. Viele sagen, dass er die Nase ziemlich hoch getragen und immer wieder gerne von seinen beruflichen Erfolgen erzählt hat. Er hätte immer getönt: Manche können’s eben und andere nicht. Das sei wohl nicht so gut angekommen. Im Übrigen haben uns die Nachbarn noch erzählt, dass Weindorf wohl längere Zeit eine Partnerin hatte, die bis vor kurzem auch bei ihm gewohnt hat. Sie soll aber vor etwa drei Monaten ausgezogen sein. Leider konnte uns keiner sagen, wie die gute Frau heißt. Die Kollegen bemühen sich noch, das herauszufinden.«

Das Telefon klingelte. Der Rechtsmediziner Olaf Petersen hatte eine wichtige Information für Kolosky: »Tut mir leid, dass ich eure Besprechung störe«, leitete er ein, »aber ich meine, dass ihr das unbedingt wissen solltet.«

Kolosky erwiderte: »Na klar, Olaf. Wenn du das für wichtig hältst, dann ist es das auch, da bin ich sicher. Ich stelle den Lautsprecher an, damit Dirk und Hatice gleich mithören können.«

»Ich hatte das am Tatort bei der blutverschmierten Leiche gar nicht entdeckt. Erst nachdem wir den Toten hier gesäubert haben, ist mir das aufgefallen. Er hat zwei Einstiche von einer Nadel, vermutlich eine Spritze. An den Einstichrändern konnten wir minimale Reste von Etorphin und Naloxon feststellen. Etorphin ist ein Morphin, das nur in der Veterinärmedizin Verwendung findet, wenn man größere Tiere ruhigstellen muss. Naloxon ist ein Antidot zu Etorphin, mit dem man die Etorphin-Wirkung also wieder aufheben kann. Das ist auch dringend erforderlich, wenn man eine tödliche Atemdepression vermeiden will. Sagt dir die amerikanische Fernsehserie ›Dexter‹ etwas?«, fragte Petersen, und als Kolosky verneinte, fuhr er fort: »Nun, Dexter ist ein Serienmörder, der in einer Art Selbstjustiz massenweise Verbrecher mordet. Er verwendet dabei auch häufiger Etorphin, um seine Opfer zu betäuben. Vielleicht wollte ihm hier ja jemand nacheifern.«

»Das bedeutet also, dass Weindorf erst betäubt und dann wieder aufgeweckt wurde?«

»Ja, das heißt es. Es heißt aber vor allem, dass der Täter sich mit der Wirkung von Etorphin sehr gut auskennen muss. Wie gesagt, in der Humanmedizin wird das gar nicht eingesetzt. Wenn man einen Menschen in wenigen Sekunden betäuben will, ist das vielleicht eine passable Wahl, so genau weiß ich das gar nicht – aber ganz sicher nur dann, wenn man auch ganz genau weiß, was man da tut und wie man es dosieren muss. Und natürlich auch nur, wenn man kurz danach ein Antidot spritzen kann. Selbst dann bleibt es risikoreich. Na ja, wenn man vorhat, den Menschen anschließend sowieso ins Jenseits zu befördern, kann man das Risiko wohl eingehen.«

»Das hilft uns auf jeden Fall weiter. Vielen Dank, dass du uns sofort informiert hast«, beeilte sich Kolosky zu sagen. Olaf Petersen musste man sich warm halten. Ein falsches Wort oder ein vergessenes Dankeschön, und schon wurde man wochenlang von der weißen Diva geschnitten und bekam seine Informationen nur noch auf dem Dienstweg.

»Sag mal, Olaf, der Tote war ja bei Chenotrans beschäftigt. Gibt es in so einer Firma nicht zwangsläufig Leute, die sich mit diesem Etorphin auskennen?«

»Ja, ganz sicher gibt es die bei Chenotrans, mindestens mal in der Forschungsabteilung.«

»Gut. Du hast uns mal wieder sehr geholfen. Und jetzt schau mal, ob du bis heute Abend noch mehr Überraschungen zutage fördern kannst.« Kolosky grinste ins Telefon.

»Wir müssen sofort in diese Pharmafirma«, wandte er sich wieder Dirk und Hatice zu, als er das Telefonat beendet hatte. »Wer hatte dort beruflich und privat mit Weindorf zu tun? Woran hat er zuletzt gearbeitet? Gab es Rivalitäten, Feindschaften? Ist in der letzten Zeit etwas Ungewöhnliches passiert? Danach fahren wir dann bei diesem Maralowski vorbei.

Hatice, bitte sorge dafür, dass wir bei Chenotrans angemeldet werden. Wir müssen mit Weindorfs unmittelbarem Vorgesetzten reden und mit allen, die in der letzten Zeit mit ihm zusammengearbeitet haben. Außerdem wäre ein Gespräch mit der Geschäftsführung nicht schlecht. Und versuche schon mal, alles über diesen Maralowski in Erfahrung zu bringen. Und wenn du ihn erreichen kannst, dann sag ihm bitte, dass wir noch heute Nachmittag mit ihm sprechen wollen.«

BlitzBlitz

Kolosky war sofort elektrisiert. »Haben Sie die E-Mail noch?«, wollte er wissen.

»Ja, ich kann sie gerne an Sie weiterleiten. Also, es ist etwas ganz Merkwürdiges – ein Gedicht mit Reimen. Wenn ich geahnt hätte, dass es sich um eine ernsthafte Ankündigung handeln könnte …« Kolosky unterbrach ihn: »Wer kann das schon ahnen, Herr Bachte? Ich vermute, bei Ihnen gehen täglich Dutzende von E-Mails ein, mit denen kein Mensch etwas anfangen kann. Sind Sie sicher, dass da der Mord in Bochum angekündigt werden soll? Kann es nicht etwas ganz Anderes sein?«

»Nein, nein, Herr Kolosky – das ist ganz eindeutig. Wenn Sie die Mail lesen, werden Sie mir sofort zustimmen. Sagen Sie mir bitte Ihre E-Mail-Adresse. Dann leite ich sie Ihnen direkt zu.«

Kolosky gab Bachte seine E-Mail-Adresse durch und bat ihn, alles daran zu setzen, die Herkunft der Mail identifizieren zu lassen. »Und, Herr Bachte, bitte schalten Sie uns sofort ein, wenn eine weitere solche oder ähnliche E-Mail bei Ihnen eingehen sollte«, fügte er an, wohl wissend, dass er mit dieser Bitte die Frage provozieren musste, die Bachte dann auch sofort stellte.

»Sie rechnen also mit weiteren E-Mails und Mordfällen dieser Art?«

»Wer kann das schon sagen, Herr Bachte? Wir dürfen bei unseren Ermittlungen niemals etwas ausschließen – nur deshalb diese Bitte an Sie. Aber noch wissen wir ja auch gar nicht, ob die Mail überhaupt mit unserem Fall zu tun hat.« Kolosky hoffte, Werner Bachte damit die erhoffte Munition verweigert zu haben, aber er war dennoch unsicher, ob der Blitz nicht schon morgen über einen möglichen Serienmörder berichten würde – natürlich mit einem großen Fragezeichen in der Überschrift.

Das hätte er zwar gerne vermieden, aber er musste Bachte unbedingt sensibilisieren, seinen E-Mails ab sofort permanente Aufmerksamkeit zu widmen. Denn auch wenn er das zurzeit noch niemandem hätte sagen wollen – er war fast sicher, dass weitere E-Mails dieser Art kommen würden.

Kolosky hatte es in seinem gesamten Berufsleben noch niemals mit einem Serientäter zu tun bekommen. Als er von dieser Ankündigung bei der Blitz-Redaktion erfuhr, war ihm dennoch sofort klar: Niemand würde dem Blitz eine solche E-Mail schicken, wenn nicht weitere folgen sollten. Denn die erste Ankündigung musste zwangsläufig als inhaltsleeres Gefasel eines der vielen Spinner abgetan werden, die sich jeden Tag beim Blitz meldeten – ohne irgendeine Reaktion, wie es ja auch geschehen war.

Der Sinn dieser Ankündigung ergab sich erst, wenn weitere geplant waren. Es konnte als sicher gelten, dass bereits die zweite E-Mail dieser Art den Aufruhr auslösen würde, der hier offenbar gezielt geplant wurde. Und welche Adresse eignete sich dafür besser als die der Blitz-Redaktion? War hier tatsächlich ein Nachahmer dieses »Dexter« am Werk? Kolosky nahm sich vor, mehr über die amerikanische Serie in Erfahrung zu bringen.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis die E-Mail auf Koloskys Rechner eintraf. Gespannt blickte er auf den Bildschirm. Als Absender war »rainer.tisch.fuer.immer@t-online.de« angegeben. Der Text der E-Mail ließ kaum Zweifel, dass es sich um die Ankündigung der Ermordung Weindorfs handelte:

Es gibt erst Ruh

Wenn ich es tu

Jetzt kommt die Zeit

Es ist soweit

So geht nun endlich auf, die Saat

Die Hand muss ab, die Böses tat

Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als er die Zeilen las.

Die angegebene E-Mail-Adresse war ein fake, wie sich leicht ermitteln ließ. Eine solche Adresse gab es bei T-Online nicht, und soweit es sich zurückverfolgen ließ, hatte es diese Adresse auch früher nicht gegeben.

Sie mussten mehr über Markus Weindorf in Erfahrung bringen. Das war der einzige Schlüssel zur Tat, den sie im Moment in der Hand hielten. Kolosky dachte aber auch darüber nach, wer das zweite Opfer, das er bereits für ausgemacht hielt, sein könnte. Doch er sah keinen konkreten Anhaltspunkt.

Es war bereits zweiundzwanzig Uhr geworden, und er war inzwischen ganz allein im Kommissariat. Morgen früh musste unbedingt die Mordkommission zusammengestellt werden, und dann galt es, mit allen Mitteln ein vollständiges Bild von Markus Weindorf zu zeichnen.