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Autoreninfo

Winrich C.-W. Clasen, Jahrgang 1955, schreibt unter dem Pseudonym Paul Schaffrath seit 2011 Kriminalromane. Seit einem Studium der Romani­stik, Evangelischen Theologie und Kunstgeschichte in Bonn arbeitet er als Verleger in Rheinbach. Bonner Testament ist sein dritter Roman.

Haupttitel

Paul Schaffrath

Bonner Testament

Rheinland-Krimi

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 by CMZ-Verlag
An der Glasfachschule 48, 53359 Rheinbach
Tel. 02226-9126-26, Fax 02226-9126-27, info@cmz.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto:
Häuser in der Bonner Südstadt

Trotz intensiver Nachforschungen konnte der Rechteinhaber dieses Fotos
nicht ausfindig gemacht werden; er wird eine Vergütung im üblichen Rahmen
erhalten, wenn er sich mit dem Verlag in Verbindung setzt.

Umschlaggestaltung:
Lina C. Schwerin, Hamburg

eBook-Erstellung:
rübiarts, Reiskirchen

ISBN Paperback 978-3-87062-251-0
ISBN epub 978-3-87062-265-7
IBSN mobi 978-3-87062-266-4

20170318

www.cmz.de

www.paul-schaffrath.de

Motto

People tell me it’s a sin
To know and feel too much within
I still believe she was my twin, but I lost the ring
She was born in spring, but I was born too late
Blame it on a simple twist of fate

Bob Dylan

Inhalt

Montag, 25. Oktober 2010 – Rheinbach

Mittwoch, 3. November 2010 – Oxford

Montag, 25. Oktober 2010 – Rheinbach

Mittwoch, 3. November 2010 – Oxford

Montag, 25. Oktober 2010 – Rheinbach

Mittwoch, 3. November 2010 – Oxford

Montag, 25. Oktober 2010 – Rheinbach und Bonn

Mittwoch, 3. November 2010 – Oxford

Montag, 25. Oktober 2010 – Bonn und Rheinbach

Mittwoch, 3. November 2010, und Donnerstag, 4. November 2010 – Oxford und Abingdon

Montag, 25. Oktober 2010, und Dienstag, 26. Oktober 2010 – Bonn

Donnerstag, 4. November 2010 – Oxford und Horspath

Dienstag, 26. Oktober 2010 – Rheinbach

Freitag, 5. November 2010 – Oxford

Dienstag, 26. Oktober 2010 – Rheinbach und Bonn

Freitag, 5. November 2010 – Oxford

Freitag, 29. Oktober 2010 – Bonn

Freitag, 5. November 2010 – Oxford

Freitag, 5. November 2010 – Bonn

Freitag, 5. November 2010 – Oxford und Bonn

Samstag, 6. November 2010 – Warendorf und Kleinbüllesheim

Freitag, 5. November 2010, und Samstag, 6. November 2010 – Oxford, Horspath und Abingdon

Sonntag, 7. November 2010 – Warendorf und Bonn

Sonntag, 7. November 2010 – Oxford

Sonntag, 7. November 2010 – Warendorf und Bonn

Montag, 8. November 2010 – Oxford

Montag, 8. November 2010 – Bonn

Montag, 8. November 2010 – Oxford und Bonn

Dienstag, 9. November 2010 – Bonn und Rheinbach

Dienstag, 9. November 2010 – Bonn

Dienstag, 9. November 2010 – Bonn

Dienstag, 9. November 2010 – Bonn

Danksagung

1

Montag, 25. Oktober 2010 – Rheinbach

Punkt 8:45 Uhr ließ sich Krüger, Anwärter auf den Thron des Bornheimer Spargelkönigs, auf den gepolsterten Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. Er wußte noch nicht, daß der vor ihm liegende Fall ein lahmes Pferd, einen vermögenden Antiquitätenhändler und ein rheinisches Provinzgymnasium einschließen würde.

Das Wochenende des Ersten Kriminalhauptkommissars war fröhlich gewesen – ein paar Einkäufe mit Carmen am Freitagnachmittag, ein etwas, nun: längerer Morgen am Samstagvormittag, ein Spaziergang im Kottenforst am Sonntagvormittag und ein Film im WOKI am Sonntagabend. Jetzt hatte ihn die rauhe Wirklichkeit wieder im Griff, und er saß am Montagmorgen in seinem Büro im Polizeipräsidium in Bonn-Ramersdorf. Während er den Post­eingangsstapel betrachtete, der trotz der Tatsache, daß es zur Zeit keine Kapitaldelikte gab, die Tendenz hatte, über freie Tage eher anzuwachsen, als gleich groß zu bleiben, versuchte er, das Telefon zu hypnotisieren und sein Klingeln zu verhindern, um noch etwas den Erinnerungen an Mußestunden nachzuhängen.

Das Telefon klingelte.

Krüger seufzte und griff zum Hörer. Der gleichzeitige Blick zur Uhr über seiner Bürotür informierte ihn, daß es 10:15 Uhr war, digital; seine analoge Armbanduhr, deren Zeitanzeige er gewohnheitsmäßig verglich, zeigte ihm etwa zwanzig nach zehn. Alte preußische Angewohnheit, dachte er; pünktliches Erscheinen machte Untergebene wie Vorgesetzte nervös.

»Ja, ich bin’s. – Sag das noch mal. – Und wer hat sie gefunden? – Nicht die Schülerin, die Leiche, meine ich. – Wo kann ich dich treffen? – Okay. Bis Rheinbach brauche ich etwa vierzig Minuten. Dann bis gleich.«

Krüger steckte den Hörer ins Empfangsteil zurück, leitete seine E-Mails an die Poststelle um und griff nach seinem Winterjackett. Draußen war es inzwischen leider kühler, als er es gerne hätte. Er lief nach unten, grüßte die Kollegin am Empfang und ging zu seinem Auto, das er im Parkhaus abgestellt hatte. Bis er dort angekommen war, fror er, denn vom Architekten war das Gebäude natürlich ans Ende der kleinen Reihe der zum Polizeipräsidium gehörenden Bauten platziert worden.

Um zehn nach elf fuhr er auf den Parkplatz des St. Joseph-Gymnasiums in Rheinbach. Er hatte etwas länger gebraucht, weil eine Tagesbaustelle auf der Nordbrücke den Verkehrs­fluß über den Rhein verlangsamt hatte. Außerdem hatte er in dem Voreifelstädtchen etwas suchen müssen, bis er den Hauptzugang zum Schulgelände am Stadtpark gefunden hatte, der sinnvollerweise in einer Einbahnstraße lag.

Der Kommissar stellte seinen Dienstwagen, einen dunkelroten älteren VW Passat Diesel, den er nur ungern fuhr, auf einem freien Platz am Ende der Parkplatzreihe gegenüber dem Neubau ab.

Zwei Fünftkläßlerinnen, jedenfalls waren sie ziemlich klein, kamen auf ihn zu. »Sind Sie auch vom Film?«

Krüger kam nicht ganz mit. Film? Egal. Er ignorierte die Frage und erkundigte sich statt dessen nach dem Haupteingang. Da die beiden Mädchen sich nicht einig wurden und er es eilig hatte, ließ er sie nach einem kurzen Gruß stehen und steuerte auf den beeindruckenden Altbau zu.

Gerade noch rechtzeitig entdeckte er an der Seite des Neubaus die vier Stufen zu zwei unscheinbaren Glastüren, die wohl nicht ordentlich schlossen – zumindest klaffte ein Längsspalt zwischen ihnen. Das war der Haupteingang. Oder waren Eingänge an Schmalseiten eines Gebäudes immer Nebeneingänge?

Krügers Kollege, Hauptkommissar Markus Schneider, wartete schon in der Eingangshalle. Einige Schülerinnen, die entweder den Unterricht schwänzten oder eine Freistunde hatten, beobachteten die Beamten aus sicherer Entfernung.

»Bist du allein?« fragte Krüger.

»Die Spurensicherung ist unterwegs; die Kollegen mußten erst ihren Kram zusammenpacken. Du kennst doch Schiller und Buchner; manchmal kehren sie auf halbem Weg um, um vergessene Handschuhe oder so etwas einzuladen. Jaja, unsere Dichter …«

Der Spitzname lag natürlich nahe bei den Nachnamen, dachte Krüger, der die beiden durchaus schätzte. Beabsichtigte Schusseligkeit sollte wahrscheinlich die manchmal allzu gräßliche Routine überdecken. »Wo ist sie denn?«

»Wenn sie jetzt noch nicht da ist, wahrscheinlich im Stau.«

Krüger guckte ungläubig: »Du hast sie wieder laufenlassen?«

»Sie ist doch noch gar nicht hier«, sagte sein Kollege.

»Wer jetzt?«

»Ach, du meinst die Schülerin, die die Leiche … Entschuldigung, ich dachte, du redest noch von der Spurensicherung.« Schneider, der genau wußte, was Krüger wissen wollte, grinste. »Sie sitzt im Lehrerzimmer bei einem heißen Tee und der Vertrauenslehrerin. Das Mädchen ist ziemlich fertig.«

»Gut, dann lassen wir sie da noch etwas sitzen. Kannst du mir den Toten zeigen?«

»Der liegt im Altbau, wahrscheinlich schon ein paar Tage. Ich sage eben dem Hausmeister Bescheid; alleine finde ich das nie wieder.« Schneider griff zu seinem Mobiltelefon und wählte eine Nummer. »Ja, wir sind hier vorne, neben Ihrem Empfang. – Gut, wir warten.«

Wenig später kam ein jüngerer Mann mit blauer, schon ziemlich verschlissener Latzhose, dunkelrotem, kurzärmeligen Poloshirt und schütterem, blonden Haar von draußen herein. Er streckte die Hand aus: »Karsten Schröder. Ich bin hier der Hausmeister. Und Sie?«

Krüger ergriff die Hand und stellte sich vor. Dann sagte er: »Gut, gehen Sie bitte voraus?«

Schröder nickte und drehte sich um, um die Eingangstür aufzustoßen. Krüger konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Auf dem breiten Querträger der Latzhose war eines dieser dämlichen Abimotti aufgedruckt, mit deren Erfindung die Abiturienten vor der Abschlußprüfung Wochen zubringen konnten, statt sich auf den Lernstoff zu konzentrieren: »A bissel vui – 13 Jahre Bau sind genug«. Unterhalb der Gürtellinie stand noch »Abitur 1998 Landsberg«.

Ein bayrischer Hausmeister im Rheinland? Und dann noch aus der Stadt mit dem bundesweit bekannten Gefängnis? Krüger wunderte sich. Laut sagte er: »Sie haben Abitur in Bayern gemacht?«

»Nur versehentlisch«, sagte Schröder. Den rheinischen Akzent mußte er anscheinend nicht imitieren. »Mein Vater ist bei der Bundeswehr; wir haben damals in Landsberg gewohnt. Aber am Rhein fühle ich mich wohler.« Er stieß die Glastür zum Altbau auf. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, die Herren.«

Schneider ging hinter ihm her. Krüger aber blieb draußen stehen und sah sich um. Was für ein wunderbares Biotop, dachte er. Ein Altbau, der wohl kurz nach der Jahrhundertwende, der zum zwanzigsten, errichtet worden war, mit weißen Mauern und roten Dachziegeln, Fenstern mit Quer- und Längsstreben – es fehlten nur noch Butzenscheiben –, und einer großen Freitreppe, die zu einer Art Terrasse in Höhe des ersten Stockwerks führte. Gegenüber lag eine häßliche Turnhalle, vor ihr ein sehr kleines, halbrundes Amphitheater. Ein paar Rosenbeete. Der Platz vor dem Altbau war asphaltiert, allerdings hatte man damit wohl einen Praktikanten beauftragt – es gab Schlaglöcher und diverse Unebenheiten. Richtung Autoeinfahrt auf das Gelände standen dem Neubau zahlreiche Einfamilienhäuser gegenüber, die aus einem Musterhauskatalog zu stammen schienen; Krüger konnte eine toskanische Villa, ein Fachwerkhaus und ein postmodernes Gebäude mit schrägem Dach ausmachen. Wer die Bauten wohl genehmigt hatte, fragte er sich, so dicht neben der Schule und so dicht aufeinander. Vielleicht war das aber auch nur die Siedlung für in Ruhestand gegangene Lehrer, mit Blick auf ihren alten Arbeitsplatz und mit einer Teilverwirklichung ihrer architektonischen Träume.

»Kommst du?« Markus Schneider war wieder nach draußen gekommen.

»Jaja«, sagte Krüger. »Ist ja sehr nett hier, aber das kann wohl nur sehen, wer die Schule schon hinter sich hat, nicht, wer sie gezwungenermaßen jeden Morgen unausgeschlafen aufsuchen muß.«

»Sieht jedenfalls besser aus als in Köln-Chorweiler.«

Krüger lachte und folgte seinem Kollegen ins Gebäude.

Am Ende des kleinen Flurs, von dem rechts und links alte Holztüren wahrscheinlich zu Klassenräumen führten, wartete der Hausmeister vor einer alten Steintreppe, die nach rechts in die oberen Stockwerke führte. Nach der Hälfte machte die Treppe eine Hundertachtzig-Grad-Wendung. Krüger überlegte, wie es wohl funktionierte, wenn in den Pausen eine Mädchenklasse von oben nach unten und eine andere von unten nach oben wollte. Wahrscheinlich war zu diesem Zweck auf halber Höhe eine Glocke befestigt, so daß sich nach ihrer Betätigung die Treppe in eine Einbahnstraße mit jeweils wechselnder Richtung verwandeln ließ.

»Wir müssen in den zweiten Stock«, sagte Schröder.

Schneider seufzte und trauerte augenscheinlich seinen auch in diesem Sommer wieder verpaßten Waldläufen nach. Krüger dagegen hatte sich unter Carmens wohltuendem Einfluß einiger überflüssiger Pfunde entledigt und folgte dem Hausmeister leichtfüßig.

Die steinernen Treppenstufen endeten jeweils vor leicht knarrenden Holzdielen, mit denen die langen Flure ausgestattet waren und über die Hunderte von Schülerinnengenerationen gelaufen waren. Fenster mit Rundbögen ließen das Tageslicht auf weiße Wände und leere Bilderrahmen fallen. Krüger hoffte, daß sie bald wieder gefüllt werden würden, denn eine Schule ohne Bilder konnte er sich nicht vorstellen.

Er schnupperte. Komisch, nach Bohnerwachs und abgestandenem Kohl roch es überhaupt nicht, wobei er mit diesem Geruch die Leseerlebnisse seiner Kindheit um den englischen Internatsschüler Jeremy verband. Auch nicht nach Weihrauch; dabei hatte hier bis 2007 ein katholischer Schwesternorden die eine Hälfte des Gebäudes bewohnt. Aus dem »Kloster der Schwestern Unserer Lieben Frau« sei das heutige Mädchengymnasium hervorgegangen, hatte ihm Schneider am Telefon gesagt. Die Großbuchstaben hatte Krüger hören können.

»Hier längs«, sagte Schröder und marschierte zügig den Gang entlang.

Zwischen den Fenstern waren Vitrinen eingelassen, die einige undefinierbare Kunstobjekte enthielten – wahrscheinlich aus einem Leistungskurs, in dem man sein inneres Selbst in Ton formen oder auf Papier bringen konnte, dachte Krüger. Zu seiner Zeit hatte es nur in Ansätzen Kurse gegeben, ansonsten ganz normale Schulstunden, in denen einer redete (der Lehrer), die anderen schwiegen und man nur die Vorgaben für eine gute Note umsetzen mußte. Zumindest im Christianeum in Hamburg war das so gewesen, als er es besucht hatte.

Der Hausmeister hatte inzwischen das nach rechts abgehende großzügige Treppenhaus erreicht, dessen Hauptschmuck neben dem alten Holzgeländer ein großes buntes Glasfenster war, das wahrscheinlich am besten im Dunkeln von draußen zur Geltung kam, wenn es von den Treppenhauslampen erleuchtet wurde.

An beiden Gangseiten – vor und nach der Treppe – standen Stühle; zwischen ihnen war mit Bindfaden ein Schild befestigt. Ruhe bitte – Dreharbeiten konnte man lesen. Jemand hatte wohl mitgedacht, um nicht das gesamte Gymnasium in Aufruhr zu versetzen. Auf der anderen Seite des Treppenhauses wiederholten sich Stuhl-Ensemble und Hinweis.

Schröder hielt vor dem uniformierten Polizisten an, der etwas verloren neben der Eingangstür zu einem zur Turnhallenseite der Schule gelegenen Raum stand und tatsächlich salutierte, als er Krüger sah. »Keine besonderen Vorkommnisse, Sir!« fügte er seiner Armbewegung hinzu.

»Lewis?« fragte der Kommissar, der von Carmen in einem Crashkurs auf den neuesten Stand britischer Krimi-Fernsehserien gebracht worden war.

»Nein«, sagte der Polizist. »Haldenhauer. Thorsten mit th Haldenhauer.«

»Wegtreten«, sagte Schneider und verbiß sich ein Grinsen.

»Tür ist offen«, sagte der Polizist und trat zur Seite.

Krüger und Schneider betraten einen Raum, der aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Nur Dämmerlicht erhellte ihn, das aus den kleinen Fenstern gegenüber der Eingangstür fiel. Wahrscheinlich waren die Scheiben zum letzten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg geputzt worden. In der Mitte des kleinen Saals, den man durchaus so nennen konnte, stand ein verschlissenes rotes Sofa. Ein Polster war eingerissen; das andere wies eine tiefe Sitzkuhle auf. Auf dem niedrigen Tisch davor vergilbten Prospekte, ein Bonner General-Anzeiger aus dem Jahre 2008 verdeckte halb einen gut gefüllten Aschenbecher – fast ausschließlich Gauloises ohne Filter –, und neben einem umgefallenen leeren Karton vergammelten zwei einsame Butterkekse.

»Hübsch häßlich ist es hier«, sagte Krüger.

»Hast du beim letzten Tatort auch gesagt«, sagte Schneider. »Variier doch mal dein Repertoire.«

»Seit wann sprichst du Französisch?« sagte Krüger, wollte das beginnende Sprachgeplänkel aber nicht fortsetzen. Stattdessen angelte er zwei durchsichtige Plastiküberschuhe aus einer Jackett­tasche und gab sie Schneider. Er selbst setzte sich auf einen hinfällig aussehenden Sessel, dessen linke Armlehne fehlte, und streifte ebenfalls zwei Überzieher über seine italienischen Slipper. Nachdem er zwei Plastikhandschuhe angezogen hatte, stand er wieder auf.

»Ich dachte, Rauchen sei auf öffentlichem Gelände verboten?« Schneider wies auf den Aschenbecher.

»Ist es auch«, sagte Krüger, »aber das hier ist ein privates Gymnasium.«

Schneider lachte. »Und da gelten dann andere Regeln, oder? Aber der Hausmeister sagte vorhin, nur die Lehrer hätten einen Schlüssel zu diesem Raum.«

»Du meinst, das ist das offizielle Inoffizielle Raucherzimmer?« Krüger sah seinen Kollegen herausfordernd an. »Das habe ich gerade kursiv ausgesprochen.«

»Habe ich gehört. Ja, kann schon sein. Der Minister muß ja nicht alles wissen und schon gar nicht der Erzbischof als oberster Dienstherr. Wenn der in seinem Palais qualmt, muß er das ja nur sich selber beichten.«

»Nicht ablenken. Wo ist denn jetzt der Tote?«

Schneider deutete auf das Ständerwerk an der Schmalseite des Raumes, das zum Teil schon Rigipsplatten enthielt. Davor standen und lagen mehrere Tapetenrollen, zwischen denen ein Herrenschuh hervorsah. »Das hier soll mal ein Musikraum werden, sagte der Hausmeister vorhin.«

Schröder steckte seinen Kopf zur Tür hinein. »Sie haben gerufen?«

Krüger schüttelte den Kopf. »Neugier ist eine Zier, doch weiter kommt man …«

»Ohne ihr«, sagte der Hausmeister und zog die Tür wieder zu.

»Vielleicht würde der Musikraum aber auch einen Stock tiefer entstehen, hat Schröder vorhin noch hinzugefügt«, sagte Schneider. »So genau wisse man das nie bei den Artichekten des Erzbistums.«

»Hat er echt Artichekt gesagt?« Krüger grinste, der noch sehr gut die einzige brauchbare Achtziger-Jahre-Fernsehserie – neben Alf – namens Hey Dad in Erinnerung hatte, in der die Sekretärin des Helden, eines alleinerziehenden Architekten, in jeder Folge Schwierigkeiten hatte, den Beruf ihres Arbeitgebers korrekt auszusprechen. Er trat vor die Tapetenrollen und bückte sich. »Wenig zu sehen. Außer den teuren Schuhen, die sehen maßgeschneidert aus. Und einem blau angelaufenen Gesicht.«

»Wie war das mit deiner sprachlichen Präzision?« Schneider stupste ihn freundschaftlich an. »Maßgeschneiderte Schu—«

»Können wir nicht einmal einen ganzen Tag ohne den Duden Nummer Neun verbringen?« Krüger seufzte. »Auch wenn es mich freut, daß du mir aufmerksam zuhörst, was meine ansonsten fast fehlerfreie Sprache …«

»Geht klar, Chef.« Schneider, der seinem Freund selten ins Wort fiel, kannte die folgenden Ausführungen zu Genüge. Er hatte sich ebenfalls gebückt und schob vorsichtig eine Tapetenrolle hoch, die die Hose des Toten verdeckte. »Ich weiß ja nicht, Chef. Braune Schuhe, Hose in chamois …«

»Schon wieder Ausländisch«, murmelte Krüger, beließ es aber dabei.

»Braunes Jackett, Poloshirt, crèmefarben …«

»Und nochmal. Ich glaube, den Bericht schreibe doch lieber ich, damit ihn auch Langenargen versteht. Unser aller Chef stammt doch vom Land und außer Hochdeutsch …«

Schneider sagte: »Zwanzig Jahre Bretagne-Ferien. Und acht Fortbildungen in England. Sagt er jedenfalls.«

Krüger wollte noch etwas hinzufügen, aber sein Freund ignorierte ihn. »Sieht fast nach einem dressman aus«, diktierte er in sein Mobiltelefon.

»Und jetzt noch Englisch.« Krüger seufzte theatralisch. Dann wurde er wieder ernst. »Weißt du schon, um wen es sich handelt?«

Schneider schüttelte den Kopf. »Die Schülerin, die ihn gefunden hat, war völlig hysterisch. Erwürgt hat sie gesagt. Mit einem Strumpf. Und das mehrfach hintereinander.«

»Okay. Ehe wir hier noch mehr von unseren Bazillen hinterlassen, verlassen wir den Tatort lieber wieder und hören uns mal an, was das Mädchen zu sagen hat.«

Schneider setzte zu einem weiteren Satz an, doch Krüger legte den Finger auf die Lippen. Er bereute seine Flapsigkeit – immerhin war ein Mensch gestorben; wie es aussah, gewaltsam und damit vor seiner Zeit. Respekt war eine Eigenschaft, die Krüger durchaus besaß, aber manchmal gingen ihm einfach die Pferde durch, und lose Bemerkungen waren sicher auch eine (erlaubte?) Möglichkeit, um den Erschütterungen des Todes zu begegnen. Das wollte er jedenfalls für sich gelten lassen.

Der Kommissar ging mit großen Schritten zur Tür, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Er zeigte auf ein über der Tür angebrachtes Plakat, das man nur sehen konnte, wenn man wußte, wo es sich befand, oder wenn man auf der Rauchercouch saß. In roten Druckbuchstaben war unmißverständlich zu lesen: Wolfgang, du bist tod!

»Rechte Schreibung ist einfach viel zu schwierig«, murmelte Schneider.

2

Mittwoch, 3. November 2010 – Oxford

Blackmore legte den Guardian beiseite und sah aus seinem Büro­fenster. Kein interessanter Film, kein aufregendes Buch, keine wichtige neue CD – nichts hatte sich in der Zeitung gefunden, was ihn aus seinem grauen Alltag hätte reißen können. Und Elogen über Jonas Kaufmann, den neuen deutschen Star-Tenor in Großbritannien, hatte er schon zu Genüge gelesen. Stattdessen hatte sein Chef, Chief Constable James Thorowgood, ihn gebeten, der neuen Kollegin, DC Alison Fisher, etwas über die Schulter zu gucken und ihren allzu großen Enthusiasmus, was die sofortige Lösung aller Fälle anging, zu bremsen.

Er seufzte.

Außerdem regnete es. Und Julie war verreist – Julie Boulton, die Mutter der ermordeten Studentin Jessica, in die er schon während des Studiums verliebt war, die er dann aber aus den Augen verloren hatte. Nach ihrer Scheidung hatte sie wieder ihren Mädchennamen King angenommen. Nachdem er den Fall der ermordeten Studentin (und einiger anderer Opfer) vom Frühjahr mithilfe des deutschen Kommissars Krüger gelöst hatte, waren er und Julie einander wieder ein bißchen näher gekommen. Aber jetzt war sie nicht greifbar.

Noch ein Seufzer.

Es klopfte. Blackmore wollte unwillig »Nein!« rufen, verpaßte aber den Moment, weil die Tür schon aufgegangen war und Rosie ihren hübschen Kopf hereinsteckte.

»Sir, wir müssen sofort los. In der Turl Street gibt es einen Toten.«

Blackmore musterte seine Kollegin. Detective Sergeant Rosie Mannering war wie stets im Dienst korrekt gekleidet: graues Kostüm, weiße Bluse, flache Schuhe. Eigentlich langweilig, aber bunt ging nur selten während der Arbeitszeit – bei Verabschiedungen älterer Kollegen zum Beispiel. Oder bei Hochzeiten von Angehörigen der Hierarchie.

Er stand auf, nahm sein Jackett vom Bügel am Türhaken, zog es über und schloß den mittleren Knopf.

Rosie grinste. »Stil hat schon was, oder?« Sie drehte sich um, in der Gewißheit, daß ihr Vorgesetzter, Detective Chief Inspector John Blackmore, ihr schon folgen würde.

Unten auf dem Parkplatz ging Blackmore schnurstracks zu seinem dunkelblauen Mercedes der E-Klasse und drückte auf den automatischen Schlüssel. Zwei Piepgeräusche und ein Klacken folgten.

»Sir, wollen Sie wirklich die halbe Meile fahren, um dann in der schmalen Turl Street einen Parkplatz zu suchen?« fragte Rosie. »Außerdem müssen Sie dort wieder irgendwelchen Politessen erklären, warum Sie in der Innenstadt von Oxford mit dem Auto unterwegs sind, statt wie jeder anständige Einwohner oder Tourist entweder zu Fuß zu gehen oder Fahrrad zu fahren. Oder den Bus zu nehmen.«

Blackmore seufzte erneut. »Sie haben ja recht.« Mit einem weiteren Klacken schlossen sich die Türen des Mercedes wieder, nachdem Blackmore seinen Regenmantel von Marks & Spencer aus dem Kofferraum genommen und übergezogen hatte. Rosie hatte inzwischen einen Schirm aufgespannt, was für eine Engländerin untypisch war, aber ihr Kostüm in Form hielt.

Die beiden Kommissare folgten St Aldate’s, der alten, zum Zentrum von Oxford führenden breiten Straße, die auch der Polizeiwache ihren Namen gegeben hatte. Am Christ Church College wichen sie einer Gruppe spanischer Touristen aus, die unterhalb des Tom Tower den Gehweg blockierte und trotz Nieselregens versuchte, im Gegenlicht den Turm zu fotografieren.

»Was ist denn eigentlich los?« fragte Blackmore.

Obwohl Rosie gut trainiert war und zweimal in der Woche in Old Marston Joggen ging, hatte sie Mühe, den ausladenden Schritten ihres Vorgesetzten zu folgen. Wenn sie sich jemals mit ihm befreunden müßte – würde, korrigierte sie sich –, dann aber nur, wenn er seinen Schritt dem ihren anpaßte; sonst würde das nichts mit dem Unterhaken werden. Aber mit Fünfzig war er sowieso zu alt für sie, fand sie.

»Also, heute morgen hat der Inhaber von Morgan & Price, dem zweitältesten Antiquariat in Oxford, seinen Laden in der Turl Street aufgeschlossen.«

»Das macht man doch für gewöhnlich morgens, als Ladenbesitzer, oder?« Blackmores Laune stieg, wie immer, wenn Rosie in der Nähe war. Er genoß einfach die Nähe seiner Kollegin mit ihrem scharfen Verstand und schnellen Witz, auch wenn er oft anderer Meinung war und bisweilen den Ansichten ihrer Generation nicht mehr folgen mochte. Gute zwanzig Jahre Unterschied waren manchmal ein Menschenleben. »Und, by the way, welches ist der älteste Buchladen in Oxford?«

»Antiquarische Buchladen«, verbesserte Rosie ihn. »Das war Thornton’s in der Broad Street, schräg gegenüber von der alten Kirche St Mary Magdalen. Das Haus war schmal, mehrere Etagen, selbst auf den Treppenstufen lagen Bücher, über die man vorsichtig steigen mußte. Und …«

»Waren Sie mal drin?«

Rosie wurde rot. »Nicht direkt.«

Eine typische Antwort ihrer Generation, dachte Blackmore; wie geht denn nicht direkt, halb drin oder halb draußen?

»Mein Freund James hat da mal in den Semesterferien gearbeitet. 2003 haben die dann ihr Ladengeschäft geschlossen und sind jetzt nur noch virtuell in Faringdon vorhanden. Schade eigentlich.« Sie sah versonnen nach oben und war mit ihren Gedanken augenscheinlich entweder beim jungen Freund oder bei alten Schinken.

Blackmore schmunzelte innerlich. Irgendwann war auch er mal jung gewesen. »Jedenfalls hat der Besitzer von Morgan & Price seinen Laden aufgeschlossen.«

»Genau. Donald Morgan sagte am Telefon, er habe sich gewundert, warum sein Angestellter, ein gewisser Gerry Adams, noch nicht da war; gewöhnlich sei er immer der erste. Er hat dann das gußeiserne Gitter vor dem Ladenfenster zur Seite geschoben, die Kaffeemaschine angeworfen und ist nach oben gegangen.«

»Oben?«

»Das Antiquariat ist praktisch Thornton’s im Kleinen: alle Stockwerke voller Bücher, bis auf die Treppenstufen, das geht wegen feuerpolizeilicher Vorschriften nicht mehr, verwinkelt, unter dem Dach, wo man sich nur gebückt aufhalten kann …«

»Waren Sie schon da?« Blackmore, der von der Gewissenhaftigkeit seiner DS überzeugt war, traute sogar das ihr zu – zeitgleich mit dem Anruf im Laden aufzutauchen und … Weiter kam er mit seinen Gedanken nicht.

»Nein, aber James hat dort auch mal gearbeitet«, fuhr Rosie fort. Sie errötete wieder. So häufig hatte sie ihren Freund im Dienst noch nicht erwähnt. »Jedenfalls ging Morgan in den zweiten Stock, um nach einer bestellten Erstausgabe zu suchen. Und dort fand er dann Adams. Ziemlich tot. Der Angestellte lag auf dem Rücken, einen zusammengeknoteten Damenstrumpf um den Hals.«

Wie ging denn ziemlich tot? Blackmore beschloß, der Sergeantin die Bücher einiger stilsicherer Autoren zur Lektüre zu empfehlen, stolperte in seinen Überlegungen aber schon beim ersten Namen. Dickens? So redete heute doch kein Mensch mehr. Hemingway? Nee, keine Frauenlektüre. Ross Thomas vielleicht, aber der war Amerikaner. Egal jetzt – back to business.

Beim Carfax Tower bogen Blackmore und seine Kollegin nach rechts in die High Street, deren hohe Verkehrsdichte seit vielen Jahren vorbei war. Dafür gab es jetzt Taxis, Busse, Lieferwagen und Hunderte von Fahrrädern. Und natürlich die ganzjährig auftretenden Touristengruppen. Eigentlich kamen die meisten Besucher der alten Universitätsstadt aus den Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland; gefühlt waren das aber immer Asiaten, dachte der DCI. Aber vielleicht auch nur deswegen, weil sie anders aussahen. Und schon wieder war er in das alte Rollenmuster hineingerutscht: Alle Nichteuropäer waren Ausländer; dabei lebten sie vielleicht schon in der dritten Generation hier, wie die Pakistaner, deren Großeltern in den vierziger und fünfziger Jahren eingewandert waren, weil es in der Textilindustrie Arbeitsplätze gab. Aber jetzt schweife ich ab, dachte Blackmore. Assoziationsketten waren schon etwas Großartiges.

Hinter »The Mitre« begann die Turl Street, in deren Verlauf drei der ältesten Oxforder Colleges lagen, Exeter, Lincoln und Jesus. Die alten Geschäfte waren längst Läden gewichen, wie man sie inzwischen leider in allen großen Touristenanziehungsorten der Welt kannte: ein preiswerter Juwelier, Sportklamottenbedarf, Kostümverleih und -verkauf, Andenken, die zumeist aus T- und Polo-Shirts mit den Wappen der Oxforder Universitätscolleges bestanden, und Schuhe. Zumindest letztere waren urenglisch und wurden von der ehrwürdigen Firma Ducker & Sons seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts angeboten. Am Ende der Straße lag quer die Broad Street mit weiteren Colleges und natürlich mit Blackwell’s, dem großen, inzwischen zu einer nationalen Buchhandelskette gewachsenen Unternehmen.

Rosie stupste ihren Chef in die Seite. »Hey, wo sind Sie denn? Sie kennen das doch alles hier, und trotzdem erstarren Sie in Ehrfurcht, sobald Sie ein College in weniger als zehn Metern Entfernung sehen.«

Blackmore lachte. »Ich überlegte gerade, ob ich als Student lieber bei Blackwell’s mit modernen Büchern oder bei Thornton’s mit uralten Schmökern gearbeitet hätte.«

»Und zu welchem Schluß sind Sie gekommen?«

»Keine Ahnung. Als Student habe ich jahrelang in einem Plattenladen ausgeholfen. War eine tolle Zeit.« Er hob ratlos die Schultern und schwieg.

Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht, das Rosie, die ihm gegenüberstand, nicht ganz einsortieren konnte. Trauer um die verlorene Jugend? Ein falsch eingeschlagener Berufsweg, der Blackmore zur Beschäftigung mit den Auswüchsen der Gesellschaft gezwungen hatte? Oder Trauer über das Verschwinden eines ganzen Kulturzweiges, nämlich der Schallplatten, zugunsten schnell konsumierbarer Musik über den Kopfhörer des Mobiltelefons? Rosie nahm sich vor, irgendwann ihren Chef bei einem Pint Ale danach zu fragen.

»So, wir sind da«, sagte die junge Frau und deutete auf ein Haus zwischen einem Juwelier und einem Studentencafé.

Die Erdgeschoßverkleidung aus Holz stammte noch aus viktorianischer Zeit. Sie schien regelmäßig gepflegt zu werden; kleinere Risse waren ausgebessert, und alles war vor nicht allzu langer Zeit poliert worden. Über dem von der Holzverkleidung dreifach unterteilten Schaufenster hing ein gleich breites, hellbraun lackiertes Holzschild, das in den bunten Farben der dreißiger Jahre und mit Schatten hinter den dadurch plastisch wirkenden Buchstaben die Namen »Morgan & Price« annoncierte, gefolgt von einem hochgesetzten »Est. 1987«. Zwei Messinglampen über dem Schild versuchten, durch ihren Schein etwas Farbe in den Nieselregen zu bringen.

Das Schaufenster allerdings müßte mal wieder geputzt werden, dessen war sich der DCI sicher. Blind war der falsche Ausdruck, aber Staub und leichte Schlieren verhinderten einen ungetrübten Blick auf die ausgestellten Bücher. Blackmore sah eine der tausend Dickens-Ausgaben, die in den zwanziger Jahren auf den Markt geworfen worden waren, ein aufgeschlagenes Heft des Strand Magazine, in dem Conan Doyle seine Sherlock-Holmes-Geschichten veröffentlicht hatte, daneben Shakespeares Werke, einbändig – das mußte dann schon sehr klein gedruckt sein –, und einen kleinen Stapel Vogue-Illustrierter. Alles in allem das übliche Sammelsurium für Touristen. Mit viel Glück konnte man aber in einem solchen Laden in einem Hinterzimmer eine Rarität entdecken.

Links gab es zwei Türen; die eine führte geradeaus ins Haus, durch die andere, leicht schräg stehende Glastür betrat man den Laden.

Auf dem Glas der Eingangstür klebte ein Zettel, auf den jemand hastig Wegen Krankheit geschlossen geschrieben hatte. Blackmore drückte trotzdem gegen die Ladentür. Wie erwartet, ging sie auf. Drinnen klingelte eine am Türrahmen befestigte kleine Glocke, woraufhin ein älterer Mann hinter einem querstehenden Bücherregal hervorkam.

»Wir haben geschlossen. Der Hinweis ist doch nicht zu übersehen, oder?« Er deutete auf das Papier, versuchte aber, angesichts potentieller Kunden nicht zu unhöflich zu sein.

Blackmore hielt seinen Dienstausweis in der Hand. »DCI Blackmore. Das ist meine Kollegin, Ms Mannering.«

»Entschuldigen Sie. Das ging aber schnell. Donald Morgan«, sagte Donald Morgan.

»Und wo ist Mr Price?« fragte Rosie.

Morgan sah beschämt zu Boden. »Den gibt es gar nicht. Ich fand, daß sich ein Doppelname für meine Firma einfach besser anhört. So ähnlich wie Ducker & Son oder Ede & Ravenscroft

Rosie lachte. »Price & Waterhouse war schon besetzt, oder? Dann säßen Sie allerdings mit wesentlich mehr Geld auch nicht hier, sondern in London.«

Blackmore blieb ernst. »Wo ist denn jetzt der Tote?«

»Darf ich vorangehen?« Morgan drehte sich um und verschwand zwischen zwei überladenen Bücherregalen, hinter denen ein schmale Treppe nach oben führte.

Der DCI hatte Mühe, ihm zu folgen. Nur große Schritte zu beherrschen, reichte eben nicht. Und wieder nahm er sich vor, seine Mitgliedschaft im Fitness Center zu erneuern oder wenigstens morgens an einem der zahlreichen Zuflüsse des Bayswater Brook, der später in den Cherwell mündete, entlang joggen zu gehen. Als er endlich im zweiten Stock ankam, sagte er atemlos: »Der ich für Sportgekletter nicht gestaltet bin …«

Rosie grinste. »Fast exakt. Richard III., wenn ich mich nicht sehr irre.«

Blackmore nickte und holte tief Luft.

»Wir mußten den Anfangsmonolog in der Schule auswendig lernen.«

»Wir nicht. Bei uns waren das die entsprechenden Zeilen bei Macbeth

»Ich kann ihn, glaube ich, immer noch. Soll ich?« Die Sergeantin konnte ziemlich spitzbübisch lächeln.

»Lieber nicht. Mord und Totschlag paßt zwar vom Thema her, aber wir konzentrieren uns lieber auf unsere Aufgabe hier.«

Im zweiten Stock war etwas mehr Platz; es sah sogar ganz gemütlich aus. Zwei Fenster gingen nach vorne raus; mit etwas Mühe konnte man ins Lincoln College gegenüber hineinsehen. Um zu lüften, mußte man die untere Fensterhälfte nach oben schieben und hoffen, daß sie nicht wieder herunterkam, wenn man den Kopf hinausstreckte. In dem wunderbaren Film A Chump in Oxford tat Stan Laurel genau das, woraufhin natürlich die Fensterhälfte nicht einrastete, sondern beim Herunterkommen seinen Kopf traf – so daß er sich für einen englischen Grafen hielt. Blackmore beschloß, das Risiko nicht einzugehen, und ließ das Fenster trotz des Geruchs geschlossen.

Ein altes Tischchen trennte die beiden schiefen Sessel, vor denen ein Teppich, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, Falten warf. Mitten darauf lag ein älterer Mann, den erwähnten Damenstrumpf um den Hals. Seine Hände waren in einer Abwehrbewegung erstarrt; augenscheinlich hatte er noch versucht, das Zusammenknoten des Strumpfes zu verhindern.

Blackmore schnupperte. Es roch nach Zigarettenrauch, leicht süßlich. Entweder waren das Kleine-Jungs-Zigaretten, womöglich Mentholzeug, oder aber … Er schnupperte erneut. Wohl doch eher eine Zigarre, deren Geruch er noch von seinem Großvater erinnerte. Wenn er als kleiner Junge morgens ins großelterliche Wohnzimmer trat, hing immer noch der Duft der Abendzigarre des alten Herrn im Raum, etwas, das sich in Blackmores Gedächtnis eingebrannt hatte und untrennbar mit seinem Lieblingsgroßvater verbunden blieb.

Er trat vorsichtig näher und musterte den Toten. Er mochte Ende Fünfzig, Anfang Sechzig sein, wenn man aufgrund der Halsfalten, der Leberflecke auf den Händen und der leicht ergrauten Schläfen die richtigen Schlüsse zog. Der graue Bart war auf den Millimeter exakt gestutzt. Was den Kommissar erstaunte, war die sorgfältige Kleidung: hellgraue Anzughose, dunkelrote Weste, silberne Uhrkette, Krawatte, dunkelgraues Anzugjackett, geputzte schwarze Schuhe. »Ist das seine übliche Kleidung?« fragte er.

Morgan nickte. »Gerry sah immer so aus.« Er selbst schien weniger Wert auf passende Kleidung zu legen. Der Antiquar trug das für seinen Berufsstand übliche braune Tweedsakko mit Lederstücken an den Ellenbogen, dazu eine grüne Cordhose, deren Streifen ziemlich abgeschabt waren, und Turnschuhe. Auf eine Krawatte hatte er verzichtet; an ihrer Stelle fand sich ein seit den siebziger Jahren aus der Mode gekommenes Halstuch mit gelb-rotem Paisleymuster. Plötzlich schluchzte er auf und ließ sich schwerfällig auf einen der beiden Sessel sinken, der unter seinem Gewicht ächzte.

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?« fragte Rosie, stets praktisch veranlagt.

»Danke, es geht gleich wieder. Das ist doch ein ziemlicher Schock, Gerrys Tod, meine ich.« Morgan wischte sich eine Träne aus dem Auge.

»Wie lange kannten Sie sich?«

»Fast eine gefühlte Ewigkeit. Ich bin nur fünf Jahre jünger als Gerry …«

Und siehst doppelt so alt aus, dachte Rosie. Dabei müßte doch das tägliche Treppensteigen zur dauernden Körperertüchtigung ausreichen, aber vielleicht war immer Gerry nach oben gelaufen, der deutlich schlanker war.

»… aber wir sind wie zwei Brüder, waren, muß man ja jetzt sagen.« Eine weitere Träne folgte. Morgan schwieg.

»Wo haben Sie sich denn kennengelernt?«

»Beim letzten Konzert von Led Zeppelin in England. 1979 oder 1980 muß das gewesen sein. In Knebworth. Wir hatten uns beide ein neues Bier geholt, haben dann nach dem Konzert weitergetrunken und sind uns seitdem immer wieder solange über den Weg gelaufen, bis Gerry vor drei Jahren, weil er gerade wieder ohne Beschäftigung war, fragte, ob ich nicht etwas für ihn hätte. Hatte ich. Und da er sehr belesen ist, ist er, nein, war er ein echter Gewinn für die Firma.«

Blackmore bückte sich. Neben dem Toten lag eine offene Brieftasche, ihr Inhalt teilweise verstreut, als habe der oder die Täterin etwas gesucht. Was sofort ins Auge fiel, war ein dunkelroter deutscher Reisepaß.