Barbara Siwik

 

 

Aqua Tofana

 

 

 

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Aqua Tofana
Barbara Siwik

Aqua Tofana

 

McOath Castle verdiente diesen Namen eigentlich nicht. Es war nur ein kleiner Herrensitz, den ein großspuriger Vorfahre des derzeitigen Besitzers seine ›Burg‹ genannt hatte. Der Namensgeber war längst zu Staub zerfallen und vergessen, aber Castle hatte sich als Begriff für das Gebäude hartnäckig gehalten.

Archibald McOath – ein Schotte von reinstem Geblüt – war neben dem Herrensitz auch Besitzer einer international bekannten Distillery in der Nähe von Edinburgh und Bo'ness.

Die Brennerei befand sich seit ihrer Gründung im Besitz der Familie, denn ein männlicher Vertreter des großen McOath Clans fand sich immer, der das Handwerk von Grund auf erlernte und den Betrieb später übernahm. Mitunter waren sogar zwei gleichzeitig willens, dies zu tun, deshalb galt für die Übernahme der Distillery die Klausel: ›Bestmögliche Qualifikation auf dem Gebiet der Whiskyherstellung‹.

In Archibald McOath' Fall hatte es in dieser Hinsicht Schwierigkeiten gegeben, denn sein Cousin besaß die gleiche Qualifikation wie er. Aber er war seinen Konkurrenten rechtzeitig und ohne sonderlich schlechtes Gewissen mit einem geschickten Schachzug losgeworden. Viel schwerer wog für ihn mit den Jahren die Tatsache, dass er in seinem Leben zwar Glück im Geschäft, doch wenig Glück in der Liebe vorzuweisen hatte – keine Frau, keine Kinder und also auch keinen Nachfolger. Der einst weitverzweigte McOath Clan würde mit ihm aussterben und die Distillery in fremde Hände übergehen, denn die Männer seiner Vätergeneration waren im Zweiten Weltkrieg zu Wasser, zu Land und in der Luft tapfer den Heldentod gestorben, noch ehe sie die Möglichkeit fanden, Kinder in die Welt zu setzen. Was die weiblichen Familienmitglieder der gleichen Generation betraf, so blieben sie – ebenfalls dem Krieg geschuldet – aus Mangel an Männern fast alle unverheiratet.

Als in Archibalds Bekanntenkreis schon niemand mehr daran glaubte, dass der Herr auf McOath Castle je heiraten werde, brachte er von einer seiner Reisen aus Italien doch noch eine Frau mit – hübsch und wesentlich jünger als er, dazu Mutter eines halbwüchsigen Sohnes. Über die Herkunft der Lady erfuhr man nichts Genaues und daher kochte die Gerüchteküche. Die Vermutungen reichten von ›verarmte Adlige‹ bis ›Escort-Service‹.

Die Vermählung fand im engsten Bekanntenkreis des Bräutigams statt, was bedeutete, es waren der Standesbeamte, zwei Trauzeugen mit ihren Frauen und der Pfarrer anwesend. Auch die schöne Felicia schien außer dem Sohn keine Familie zu besitzen.

Nach der Vermählung lief alles wie eh und je, mit einer Ausnahme: Mrs. McOath brachte das heruntergekommene Castle in der Folge von innen und außen auf Vordermann. Geld spielte ja keine Rolle. Auch schien sie etwas vom Umgang mit den Kräften der Natur zu verstehen, denn im Gewächshaus, das zum Anwesen gehörte und bis zu ihrem Erscheinen ein verdorrtes Dasein geführt hatte, grünte und blühte es bald zur Freude des Hauspersonals, das aus einem Hausmeister, der Wirtschafterin und zwei weiteren weiblichen Angestellten bestand.

Federico Pozzi, Felicias zwölfjähriger Sohn, war für das konservative Umfeld, in dem sein Ziehvater sich bewegte, etwas gewöhnungsbedürftig: Er tauchte überall dort auf, wo er nach Meinung des Hauspersonals nicht hingehörte und verstand eins mit absoluter Gründlichkeit – die herrschende Etikette zu missachten. Nein, Abkömmling eines ›Conte XY‹ war der Bursche sicher nicht.

Archibald McOath schien Federicos unbekümmertes Verhalten nicht zu stören und falls doch, so übersah er es seiner Frau zuliebe, die ihm wenigstens dieses Kind in die Ehe mitgebracht hatte, wenn sie schon nicht schwanger wurde, trotz heftiger Bemühungen von seiner Seite.

Er befand sich aus geschäftlichen Gründen viel auf Reisen. Felicia begleitete ihn häufig, vor allem aber nach Italien. Dafür hatte sie Gründe, von denen ihr Mann nichts ahnte. An geschäftlichen Gesprächen jedenfalls nahm sie nie teil, sondern vertrieb sich die Zeit mit Annehmlichkeiten, die sich eine Lady eigentlich nicht leisten durfte – sie besuchte ihren ehemaligen Geliebten. Archibalds Aktivitäten verlor sie dabei keineswegs aus dem Auge, denn sie hatte den Eindruck, dass er neben seinen Geschäften auf der Suche nach etwas zu sein schien, das nichts mit dem Vertrieb der Marke ›McOath Castle Scotch‹ zu tun hatte, sondern familiärer Natur war. Das beunruhigte sie.

 

*

 

Wie nicht anders zu erwarten, reihte sich Federico, als die Zeit für ihn gekommen war, in die Schar der Lehrlinge der Distillery seines Ziehvaters ein. Er erwies sich als geschickt und fleißig, entwickelte ein Gespür für Ingredienzien und wurde nach Abschluss der Ausbildung von Jahr zu Jahr mehr zu Archibalds engstem Mitarbeiter. Der Schotte übertrug seinem Ziehsohn schließlich wichtige Gebiete der betrieblichen Organisation. Kurz gesagt: Zwischen ihnen bestand eine ausgesprochen gute Vater-Sohn-Beziehung.

Die Jahre gingen dahin ... und nun war etwas eingetreten, das der Herr auf McOath Castle bei allen für unabänderlich, doch in Bezug auf seine eigene Person für so gut wie unmöglich gehalten hatte: Er würde sterben.

»Wie lange habe ich noch?«, fragte er mit ärgerlicher Stimme, als der Hausarzt das Stethoskop einpackte.

Die Untersuchung hatte im häuslichen Arbeitszimmer stattgefunden und die Frage klang nicht anders, als werde Archibald durch einen seiner Mitarbeiter der Herstellungsverzug der beliebten Scotch-Marke gemeldet.

»Einen Monat, vielleicht zwei«, erwiderte der Doktor und setzte nicht minder sachlich hinzu: »Treffen Sie Ihre Anweisungen, Sir.«

»Muss ich nicht. Ist alles geordnet«, knurrte McOath.

Aber das stimmte nicht. Es gab etwas, das er nur halbherzig verfolgt und Jahr für Jahr vor sich hergeschoben hatte ...

Draußen versicherte der Doktor Felicia, sie solle sich keine Sorgen machen, das Alter ihres Ehemanns fordere seinen Tribut, manchmal eben schon bei Sechzigjährigen. Doch seine Blicke signalisierten etwas anderes.

Tatsächlich hatte McOath dem Doktor verboten, Felicia die Wahrheit zu sagen. ›Sie traktiert mich sonst mit ihren Tränken und ich bin keine Laborratte‹, lautete seine Begründung.

Am Tag darauf ließ Archibald sich wie stets in die Distillery fahren, kam jedoch bereits um die Mittagszeit und in Begleitung seines Rechtsanwalts zurück. Beide schlossen sich im Arbeitszimmer ein.

Felicia wanderte währenddessen beunruhigt durch die kostspielig eingerichteten Zimmer des Castles. Sie hatte seit Beginn ihrer Ehe damit gerechnet, dass Archibald vor ihr sterben werde. Nicht sein Tod bedrückte sie daher: McOath hatte ihr Jahr um Jahr versprochen, Federico zu adoptieren, doch es war bisher beim Wollen geblieben. Hoffentlich machte er heute sein Versprechen wahr. Dies würde für die Zukunft vieles vereinfachen.

Als der Rechtsanwalt einige Stunden später das Haus verließ, fing sie ihn auf der Freitreppe ab. »Ging es um die Adoption, Mister Gates?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Das Gesicht des Rechtsanwalts blieb unbewegt, als er sagte, er dürfe ihr leider im Detail keine Auskunft erteilen. »Aber im Prinzip wird sich alles zu Ihrer Zufriedenheit regeln, Madam«, versicherte er und strebte dem bereitstehenden Auto zu, der sicheren Zuflucht vor weiteren unbequemen Fragen.

Der Doktor irrte sich in seiner Prognose in Bezug auf die Lebensdauer: Archibald hielt sich sogar noch ein halbes Jahr aufrecht, ehe er von seiner geliebten Distillery und McOath Castle für immer Abschied nahm. Dies erledigte er nicht anders als seine Geschäfte – kurz und bündig, ohne überflüssigen Schnaufer.

Er hinterließ seiner Witwe und dem Ziehsohn testamentarisch einen Teil seines Vermögens, aber auch einen Passus mit Anweisungen darüber, wie mit dem anderen Teil des Erbes zu verfahren sei ...

Archibald McOath hatte Federico nicht adoptiert!

Nach Ansicht des Anwalts waren die Gründe dafür durchaus ehrenwerter Natur. Felicia freilich sah das anders. Sie fühlte sich nach dem Tod ihres Mannes als legitime Eigentümerin von McOath Castle und der Distillery und wollte nicht nur mit einem Pflichtteil abgespeist werden, wie umfänglich es auch sein mochte. Dass Federico nach all den Jahren treuer Pflichterfüllung die Brennerei zustand – wer wollte das bestreiten?

»Nehmen Sie es gelassen, Madam«, sagte der Anwalt begütigend, als sie dies in langer Rede vorbrachte. »Dem Recht muss Genüge getan werden. Die Klausel ist akzeptabel und verliert mit jedem Tag, der vorübergeht, ein wenig mehr von ihrer Beschränkung. De facto gehört Ihnen doch alles, denn es ist unwahrscheinlich, dass sich nach so langer Zeit des Schweigens noch irgendein Miterbe meldet. Sir Archibald und ich haben alles gründlich bedacht und exakt formuliert.«

Federico sah es ähnlich. »Die Zeit arbeitet für dich, Mama.«

Ihm war es im Prinzip völlig gleich, ob er als Haupt- oder Miterbe galt, solange ihn niemand aus der Firma und dem Castle vertrieb.

Felicia verzog sich nach der Testamentseröffnung ins Gewächshaus zu ihren Blumen und Kräutern. Das tat sie immer, wenn etwas sie stark beschäftigte oder ärgerte. Sie goss hier, beschnitt da, prüfte den Blütenstand in den Hochbeeten und in ihrem Labor die neu angesetzten Mixturen.

Bilder der Kindheit stiegen in ihr auf ... das Dorf in den Abruzzen ... die Großmutter, von der die Leute behaupteten, sie sei eine Hexe gewesen ...

Felicia hatte mit der alten Frau auf vertrautem Fuß gestanden und so dies und das von der ›nonna‹ gelernt.

Allmählich beruhigte sich wieder. Federico hatte recht – die Zeit arbeitete für sie. Dennoch schadete es nicht, sich selbst ein wenig umzutun …

 

*

 

Felicia McOath gewöhnte sich schnell an die Witwenschaft. Für sie änderte sich ja kaum etwas. Die Verbindung mit Archibald hatte von ihrer Seite nicht auf Liebe basiert.

Begegnet waren sie sich anlässlich eines Empfanges in Bologna, den der Chef der ›Grappa-Brennerei Brottolini‹ für seinen schottischen Gast ausrichtete. Sie hatte damals ihre Chance wahrgenommen, als der angegraute Schotte sich für sie interessierte, und ihrem Liebhaber Adriano Segna, der in der Stadt eine nur mäßig florierende Detektei betrieb, den Laufpass gegeben. Welche Frau blieb schon freiwillig eine schlecht verdienende Laborantin mit halbwüchsigem Sohn, wenn sie eine reiche schottische Lady werden konnte? Eine gewisse Sympathie empfand sie ja für Archibald. Die musste ausreichen, zumal diesem wohl ebenfalls vor allem daran gelegen war, sich eine Familie zuzulegen – möglichst mit eigenen Nachkommen. Dass dies für ihn im Verlauf der Jahre ein unerfüllter Wunsch blieb, dafür sorgte sie, denn sie verfolgte ihren eigenen ehrgeizigen Plan, den sie ›Federicos Zukunft‹ nannte.

Der junge Pozzi spürte Archibalds Fehlen in der Distillery an allen Ecken und Enden. Die Belegschaft war dem Senior-Chef sehr zugetan gewesen und betrachtete Federico nur als eine Art Übergangslösung. Man begegnete ihm mit Freundlichkeit und Respekt, setzte auch seine Anordnungen gewissenhaft um, jedoch in dem Bewusstsein, dass dies eben kein echter McOath war. Dass die Leute so dachten, ergab sich aus dem im Testament festgehaltenen Grund, der sich – der Himmel mochte wissen, wie es geschehen konnte – in der Distillery herumgesprochen hatte.

Oder existierten da noch Erinnerungen?

Felicia bemerkte die abwartende Haltung der Belegschaft und versuchte, sich mit Grundsatzerklärungen einzumischen. Der sonst so friedliche Sohn fuhr ihr indes energisch in die Parade. »Willst du mich vor den Leuten lächerlich machen?«, hielt er der Mutter vor. »Wie sollen sie mich respektieren, wenn sie mich, dank deinem Verhalten, als ›mummie's boy‹ erleben? Kümmere dich um dein Gewächshaus und das Castle. Ich werde mit meinen Schwierigkeiten allein fertig.«

Felicia kümmerte sich also auf ihre Art und ließ sich nach Edinburgh chauffieren. Einige Wochen darauf führte sie mit ihrem Liebhaber Adriano ein langes Telefongespräch und lud ihn zu einem Besuch nach Schottland ein. Er sagte ohne Zögern zu.

Felicia hatte nichts anderes erwartet. Sicher rechnete Adriano sich nach Archibalds Tod in Bezug auf ihre Person nun wieder Chancen aus. Man würde sehen …

 

*

 

Adriano Segna konnte es sich eigentlich nicht leisten, für längere Zeit zu verreisen. Er war als ›Schnüffler‹ zwar viel unterwegs, aber eben freischaffend, also mit schwankendem Einkommen. Schon deshalb reizte es ihn, Felicia wiederzusehen. Er hatte ihr damals nicht wirklich übelgenommen, dass sie ihm zugunsten des reichen Schotten den Laufpass gab. Jeder war sich selbst der Nächste und ihre Bindung ohnehin nur eine lose. Hoffentlich entwickelte sich diesmal etwas Festeres.

Bei seiner Ankunft am Airport in Edinburgh erwartete ihn ein Wagen mit Chauffeur. Felicia selbst empfing ihn im Castle mit einem exzellenten Dinner.

Federico interessierte sich nur höflicherweise für den Gast, obgleich er ihn aus seiner Kindheit kannte. Als möglichen Vater hatte er ihn schon damals nicht betrachtet. In gewisser Weise war er jedoch froh über Adrianos Anwesenheit, denn es bedeutete, dass die Mutter für eine Weile von ihrem Lieblingsprojekt abgelenkt wurde, das sie als ›seine Zukunft‹ bezeichnete. Gleich nach dem Dinner verschwand er daher in Archibalds Arbeitszimmer, seinem bevorzugten Aufenthalt.

Für Felicia und Adriano verging der Abend in der Bibliothek bei Scotch und dem Plaudern über alte Zeiten.

Zwei Tage lang unterhielt Madam ihren Besuch mit Ausflügen in die Umgebung, einem Trip nach Bo'ness und mit der Besichtigung der Distillery. Endlich, am Abend des zweiten Tages – wiederum beim Scotch – kam sie auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen.

Adriano war nicht dumm. Schon während des Gesprächs über Sterben und Erben am Abend seiner Ankunft hatte er schnell begriffen, dass Felicia ihn nicht aus neu erwachter Leidenschaft nach Schottland gerufen hatte. Auch zeigte sie keine Neigung, die Nacht mit ihm gemeinsam zu verbringen.

›Lascia il gatto fuori dal sacco‹ sagte man in Italien, wenn jemand endlich zur Sache kam. Und an diesem Abend nun ließ Felicia ›die Katze aus dem Sack‹. Eigentlich war es schon ein zu Leopardengröße mutierter pechschwarzer Kater, der sich schnurrend und knurrend wie eine Schlinge um Adrianos Hals legte. Zugleich ließ Felicia durchblicken, dass aus ihnen beiden etwas werden könne, wenn sich die Sachlage mit der Distillery erst einmal geklärt habe.

»Wir sind beide im besten Alter. Was hättest du in Bologna schon aufzugeben?«, schmeichelte sie.

Nein! Adriano hatte weder etwas auf- und erst recht nicht viel auszugeben. Hier indes schien ihm das Glück gewissermaßen auf die Zehen zu treten. Nur – im Leben war eben nichts umsonst zu haben!

»Ich glaube, du stellt dir die Sache zu einfach vor«, warnte er. »Es verbleiben nur wenige Monate, ehe die Frist abgelaufen ist, die im Testament vorgeschrieben wurde. Und was dir vorschwebt, benötigt Zeit.«

Felicia schob ihm eine Art Tagebuch hin. »Ich habe nach Archibalds Tod seine persönlichen Aufzeichnungen gefunden«, sagte sie lächelnd. »Dadurch klärten sich für mich nicht nur einige Dinge, die mir bislang rätselhaft waren, die Notizen lieferten auch wichtige Anhaltspunkte für mein Vorhaben. Ich beauftragte umgehend eine größere Detektei in Edinburgh mit Nachforschungen. Was man herausfand, dürfte als Grundlage für weitere Aktivitäten ausreichend sein. Du als mein langjähriger Vertrauter bist dafür genau der Richtige.«

Sie beugte sich zu Adriano hinüber und küsste ihn.

Von da an gab es aus seiner Sicht keinen Grund mehr, Felicia irgendeinen Wunsch abzuschlagen.

In dieser Nacht blieb das Bett im Gästezimmer unberührt, denn Adriano träumte in ihren Armen von Sorglosigkeit und Reichtum.

 

***

 

Der Zuschauerraum des ›Frankfurter Schauspielhauses‹ war bis auf den letzten Platz gefüllt. Man gab Goethes ›Faust‹.

Die Kerker-Szene näherte sich dem Höhepunkt und das Spiel damit dem Ende der Tragödie.

Die Gretchendarstellerin Eliza Burger war eine bemerkenswerte Schauspielerin und die Vorstellung nicht zuletzt deshalb ausverkauft. Gleiches Interesse brachte das Publikum auch dem Faust-Darsteller entgegen, der sie soeben beschwor: »Besinne dich! Nur einen Schritt, so bist du frei!«

Mephisto drohte ungeduldig, Faust zu verlassen, sofern dieser ihm nicht endlich folge. Dessen Blick aber war auf Gretchen gerichtet, die ihn wie einen Geist anstarrte. In ihren Augen lag blankes Entsetzen, als sie in höchster Not aufschrie:

»Dein bin ich Vater … rette mich …

ihr Engel … ihr heiligen Scharen ...

lagert euch umher ...

mich zu bewahren.«

Röchelnd presste sie mit letzter Kraft aus sich heraus:

»Heinrich … mir graut’s … vor dir!«

Manchem Zuschauer lief bei diesem Szenario ein Schauer über den Rücken. Im grauen Büßerhemd, das Haar aufgelöst, sank Gretchen aufs Strohlager. Es schien, als wolle Faust zu ihr hineilen, aber Mephisto zerrte ihn mit sich.

Langsam senkte sich der Vorhang, doch vergeblich wartete das textkundige Publikum auf den letzten, verzweifelten Ruf Gretchens:

›Heinrich … Heinrich …‹

Nach einem Augenblick atemloser Stille brandete Beifall auf. Die Schauspieler erschienen jedoch lange nicht vor dem Vorhang, um den Applaus dankend entgegenzunehmen.

Ungeduldig skandierte das Publikum schließlich: »Gret-chen, Gret-chen, Gret-chen ...«

Endlich ließen sich Mephisto und Faust mit Frau Marthe sehen. Sie verbeugten sich mit einstudiertem Lächeln.

Das Publikum applaudierte, wurde unruhig und skandierte erneut: »Gret-chen, Gret-chen ...«

»Wir müssen's ihnen sagen«, zischte der Faustdarsteller Gert Becker, während er sich automatisch verbeugte. Sein Kollege Rolf Tender bejahte dies und schickte zugleich ein arrogantes Mephisto-Lächeln in die tobende Menge.

Entschlossen trat Becker zwei Schritte vor und hob die Hand. Der Tumult verebbte. Seine Stimme klang angestrengt, als er informierte: »Verehrtes Publikum! Diese Begeisterung ehrt Eliza Burger sehr. Leider kann sie den Beifall nicht persönlich entgegennehmen. Sie erlitt einen Schwächeanfall.«

Ausrufe des Bedauerns wurden laut, Blumen für die Schauspielerin auf die Bühne gereicht.

Eliza Burger würde sie nie erhalten – sie war tot.

 

*

 

Die Zeiger der Uhr standen auf Mitternacht.

Erregt schritt der Direktor des ›Frankfurter Schauspielhauses‹ im Büro auf und ab. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Er sprach mit sich selbst. Das tat er stets, wenn ihn etwas überforderte. Und was am heutigen Abend geschehen war, reichte weit über seine Vorstellungskraft hinaus.

»So ein Unglück«, murmelte er zum wiederholten Mal. »Eine Katastrophe. Nicht zu fassen.«

Schließlich sank er doch in den Schreibtischsessel und starrte auf die leere Tischplatte. Wie ein Film liefen die Ereignisse des Abends vor seinem inneren Auge ab ...

Gegen zweiundzwanzig Uhr war er – wie üblich – zur letzten Szene hinter der Bühne erschienen. Dort standen zwei Techniker und die Nebendarsteller. Wenige Meter vor ihnen gebärdete sich die Burger, als werde sie wirklich von Furien gejagt.

Auch ihn hatte ein Schauer erfasst, als sie die Himmelsgeister anrief, als sie ganz zuletzt … nein, da spielte ihm die Textkenntnis einen Streich, wie man ihm versichert hatte. Im Unterschied zu den anderen glaubte er nämlich, den Nachruf ›Heinrich! Heinrich!‹ gehört zu haben. Tatsächlich aber war dies nicht geschehen.

Jedenfalls – nach Beckers und Tenders Abgang und dem Fallen des Vorhangs hätte auch die Burger auftauchen müssen, aber sie kam nicht. Becker war deshalb noch einmal auf die Bühne zurückgekehrt und bald darauf mit entsetztem Gesicht erschienen, die offenbar ohnmächtige Eliza auf den Armen.

›Ich weiß nicht, was passiert ist‹, hatte er gerufen und die schlaffe Last in die helfend ausgestreckten Arme der beiden Techniker gleiten lassen. Dann war er mit Tender und den anderen Darstellern vor den Vorhang geeilt, um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen.

So war es nun mal im Theater – die Show musste laufen, selbst wenn die Welt einstürzte, was ja der Wahrheit in diesem Fall ziemlich nahegekommen war, wie sich bald herausstellte.

Während Becker das Publikum informierte, hatten die Techniker die Schauspielerin in den Aufenthaltsraum getragen und er hatte per Handy seinen Hausarzt angerufen, der in der Nähe wohnte. Der war auch in kürzester Zeit erschienen und hatte festgestellt, was allen inzwischen klar geworden war – Eliza lebte nicht mehr.

›Die Polizei muss her‹ hatte der Arzt gesagt und jemand – ja, wer eigentlich? – hatte im Präsidium angerufen.

Das Publikum ahnte von den Vorgängen hinter der Bühne nichts und verließ das Theater unangefochten. Wer hätte es daran hindern sollen?

Nach Meinung der Polizei war dies sein Fehler und hatte dem potenziellen Mörder zu einer leichten Flucht verholfen. Die Beamten befanden sich auch jetzt noch im Gebäude ...

An dieser Stelle fiel dem Direktor ein, dass es ein ›morgen‹ und ›übermorgen‹ für das Schauspielhaus gab, an dem ›Faust‹ aufgeführt werden musste – und zwar in veränderter Gretchenbesetzung. Das bedurfte dringend eines Arrangements und war etwas, woran er sich festhalten konnte, etwas, worauf er sich verstand.

Trotz später Stunde griff er zum Telefon ...

Am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand.

»Auch das noch!«, stöhnte der Direktor. Aber er konnte der Larivière schließlich nicht vorschreiben, wo sie sich nachts aufzuhalten hatte. Dabei war sie ihm zwei Stunden zuvor quasi in die Arme gelaufen.

 

*

 

Der Anruf aus der Zentrale des Präsidiums erreichte Kommissar Jens Rust, als er sich gerade die Bettdecke über die Ohren ziehen wollte.

»Tod auf offener Bühne?«, rief er überrascht aus. »Das ist ja was ganz Neues. Aber warum gleich die Mordkommission? Jagt doch erst mal Hippe hin.«

Hippe war der Gerichtsmediziner.

»Der ist schon unterwegs«, erklärte die Kollegin am anderen Ende der Leitung. »Und Ingo Petermann auch.«

Petermann war Rusts engster Mitarbeiter.

Seufzend fuhr der Kommissar in alles, was sich ein ordentlicher Bürger überzog, wenn er unter die Leute ging, und machte sich auf den Weg. Das Auto lohnte nicht, zu Fuß waren es nur zehn Minuten bis zum Schauspielhaus.

Petermann erwartete ihn gähnend am Hintereingang des Gebäudes. »Wird nicht lange dauern«, vermutete er. »Sie haben die Tote eben abgeholt. Ist gleichsam aufs Stichwort gestorben. So was nennt man einen brillanten Abgang.«

»Lass die dummen Scherze, Ingo«, knurrte Rust. »Du landest wegen so was noch mal gehörig in den Nesseln.«

Petermann winkte gelassen ab und ging Rust voraus zu den Garderoben der Schauspieler.

Die Tür zu einem größeren Raum stand offen. Drinnen hockten in Sesseln und auf einer Liege einige Männer und Frauen und unterhielten sich in gedämpftem Ton.

»Schauspieler, Maskenbildnerinnen, Techniker«, erklärte Petermann leise. »Zum Glück gibt’s im ›Faust‹ keine Massenszenen, sonst wär's voller.«

Rust erinnerte sich dunkel, dass da sehr wohl ein ›Osterspaziergang‹ mit Volksgetümmel vorkam und ließ eine entsprechende Bemerkung über Massenandrang los.

»Mensch! Das Problem löst man heute mittels Bildwerfer und Geräuschkulisse«, wurde er von Petermann belehrt. »Wann warst du zuletzt im Theater?«

Die Antwort blieb Rust erspart, denn Hippe tauchte auf.

»Und?«, fragte der Kommissar.

»Na ja! Der Direktor hatte schon seinen Hausarzt gerufen. Der stellte den Tod der Schauspielerin fest. Ich konnte das lediglich bestätigen. Mehr weiß ich morgen, wenn ich sie auf dem Tisch hatte«, erklärte der Rechtsmediziner.

»Besteht Hoffnung, dass es ein natürlicher Tod war?«

Hippe zuckte die Schultern. »Jens, du kennst doch das Procedere: Erst vergewissern, danach ad acta legen und Schluss oder eben nicht.« Er zog die Jacke an. »Ich geh' dann mal und hau' mich wieder aufs Ohr.«

Rust und Petermann betraten den Aufenthaltsraum. Das Gemurmel verstummte. Erwartungsvoll blickten die Anwesenden ihnen entgegen. Rust stellte die Frage aller Fragen: »Wer hat Frau Burger zuletzt lebend gesehen?«

»Wir und ein volles Schauspielhaus«, meldete sich ein junger Mann und zeigte erst auf sich, dann auf einen Kollegen. Er stellte sich als Gert Becker, der andere als Rolf Tender vor.

»Wir standen gemeinsam mit Eliza auf der Bühne, als es passierte«, erklärte Becker sichtlich bedrückt. »Ich spürte schon zu Beginn der vorletzten Szene, dass ihr Spiel anders wurde – hektischer, mühevoller im Ausdruck. Das Publikum hielt es gewiss für beeindruckende Darstellung, aber als Insider erkennt man, was echt und was einstudiert ist. Elizas Beklemmung, das Entsetzen – beides war echt.«

Tender bestätigte die Aussage Beckers mit Kopfnicken. »Es ist sicher nur Zufall, dass sie es noch bis zum Ende der Szene schaffte, jedenfalls so, dass dem Publikum nichts auffiel«, ergänzte er. »Eliza hätte eigentlich nochmals nach Faust rufen müssen, doch zu diesem Zeitpunkt war sie schon tot.«

»Das wussten wir da freilich noch nicht«, präzisierte Becker. »Rolf und ich gingen von der Bühne ab, wie es die Regie vorsah. Der Vorhang senkte sich und Eliza hätte nun ebenfalls hinter den Kulissen erscheinen müssen. Weil sie nicht kam, sah ich nach ihr und fand sie reglos auf dem Stroh liegend, anders als eingeübt: Die Augen offen und starr, der Mund geöffnet.« Beckers Stimme wurde rau. »Da ahnte ich … sie … sie konnte nur … sie war tot.«

»Befand sich außer Ihnen noch jemand auf der Bühne?«, fragte Petermann.

Der Schauspieler schüttelte den Kopf. »Nein! Ich nahm Eliza auf die Arme und trug sie hinter die Kulissen.«

Zwei weitere Männer meldeten sich. »Wir haben sie ihm abgenommen«, bestätigte der eine.

»Gert sagte, sie sei ohnmächtig«, ergänzte der andere. »Wir brachten Eliza in diesen Raum und der Direktor rief den Arzt.«

Rust blickte sich suchend um. »Wo ist denn der Direktor?«

»Der geht wie ein Löwe im Büro auf und ab«, spottete eine der Frauen. »Von dem ist nicht viel zu erwarten.«

»Gibt ja für ihn auch nichts zu sagen«, urteilte eine zweite.

»Frau Burger hatte doch sicher eine eigene Garderobe?«, fragte Rust in die Runde.

»Ja«, meldete sich eine junge Frau. »Ich bin …«, sie korrigierte sich, »ich war für ihre Maske zuständig. Möchten Sie sich im Raum umsehen?«

Der Kommissar nickte und die beiden verließen die anderen.

Petermann bat Tender und Becker, ihn zum Direktor zu begleiten und wandte sich dann an die Leute: »Haben Sie noch eine Weile Geduld. Ich lasse Ihnen mitteilen, wann Sie sich morgen hier einstellen müssen.«

 

*

 

Die Garderobe der Schauspielerin war nicht groß. Das galt wohl für alle Räume dieser Art. Ein Fenster gab es nicht, nur elektrische Beleuchtung. Die Einrichtung bestand aus einem Toilettentisch, vollgestellt mit Schminktöpfen und jenen Utensilien, die für die Herstellung einer Maske benötigt wurden. Vor diesem Tisch befand sich ein Stuhl, zusätzlich gab es einen Wandspiegel, der vom Boden bis fast zur Decke reichte, und einen Kleiderständer für die Kostüme. Auf einem Beistelltisch standen ein Glas, eine halbvolle Flasche Wasser und ein Strauß roter Rosen, die bereits welkten.

Auf dem Hocker lag eine schwarze Abendhandtasche aus Lackleder. An der Längsseite des Raumes bemerkte Rust einen Wandschrank. Er war leer bis auf ein rotes Abendkleid, einen eleganten Abendmantel in der Farbe der Handtasche und ein Paar hochhackige Schuhe, ebenfalls schwarz.

Die Maskenbildnerin beobachtete den Kommissar stumm von der Tür her. Als er nachdenklich auf die Kleidung starrte, sagte sie: »Eliza hatte nach der Aufführung eine Verabredung. Es ging um einen Vertrag. Genaueres weiß ich nicht.«

Rust erwiderte, er habe schon an etwas Ähnliches wie ein Abendessen gedacht, zog Gummihandschuhe über und öffnete die Handtasche. Behutsam schüttete er den Inhalt neben das Glas und die Wasserflasche: Parfüm, Lippenstift, Puderdose, Geldbörse, Papiertaschentücher, ein Schlüsselbund.

»Fehlt etwas?«, fragte er die junge Frau und zeigte auf die Utensilien.

»Wie soll ich das wissen?«Ihre Antwort klang vorwurfsvoll, dann setzte sie freundlicher hinzu: »Doch falls Sie das in Bezug auf den Raum meinen: Hier fehlt nichts. Das hätte ich bemerkt.«

Sie wollte nach der Vase mit den welkenden Rosen greifen, eine reine Verlegenheitsgeste, aber Rust hielt sie davon ab. »Nichts anrühren!«, warnte er. »Darum muss sich die Spurensicherung kümmern.«

»Um welkende Rosen?« Die Maskenbildnerin schüttelte verständnislos den Kopf. Auf Einfälle kamen diese Kriminalisten!

Sie traten wieder in den Gang hinaus. Rust schloss die Tür ab und sicherte sie mit einem Siegel. »Bringen Sie mich zum Büro des Direktors«, bat er.

Die junge Frau wies auf eine Tür. »Es liegt gleich am Ende des Ganges«, sagte sie, wandte sich um und ging in den Aufenthaltsraum zurück.

Rust öffnete die angegebene Tür und trat ein.

Falls der Direktor an diesem Abend wirklich ›neben sich‹ gestanden hatte, so war davon inzwischen nichts mehr zu merken. Er sprach sachlich und ruhig mit Petermann.

Rust stellte sich zu den beiden Schauspielern, die an der Wand lehnten, und beschränkte sich vorerst aufs Zuhören.

Wie sich herausstellte, wusste der Direktor kaum etwas über Eliza Burgers Privatleben und nur das Übliche über ihre berufliche Entwicklung: Sie besaß einen Vierjahresvertrag, der nach dieser Spielzeit ausgelaufen wäre. Davor war sie in München in den ›Kammerspielen‹ aufgetreten. In der zu diesem Theater gehörenden Schauspielschule hatte sie auch ihre Ausbildung absolviert. Elizas Mutter war ebenfalls Schauspielerin gewesen, der Vater hatte zumindest im Theater gearbeitet und mehr gab es nicht zu sagen.

»Es sei denn, Sie wissen noch etwas«, wandte der Direktor sich an Becker.

Rust blickte fragend. »Gibt es dafür einen Grund?«

»Oh, man glaubt hier, ich sei … mit Eliza … liiert«, antwortete der Schauspieler zögernd. Entschlossener fuhr er fort: »Ich gebe zu, sie gefällt … gefiel mir und manchmal schien es, als könnte aus uns beiden etwas werden. Aber sobald ich deutlicher wurde, zog sie sich zurück. Deshalb blieb unser Verhältnis immer in der Schwebe.«

»Vielleicht gab es schon einen Bewerber«, warf Rust ein.

Er dachte an den welkenden Rosenstrauß in der Garderobe.

Becker schüttelte den Kopf. Er schien zu wissen, worauf der Kommissar hinauswollte. »Das glaube ich nicht. Blumen als Aufmerksamkeit sind in unserem Beruf nichts Außergewöhnliches. Auch heute erhielt Eliza welche aus dem Publikum. Aus München trafen für sie gelegentlich rote Rosen ein. Die letzten stehen noch in der Garderobe.«

»Kennen Sie den Namen des Absenders?«

Becker hob die Schultern. »Keine Ahnung. Falls jemals ein schriftlicher Gruß dabei war, finden Sie den vielleicht in Elizas Wohnung.«

»Was wissen Sie über die Eltern der Schauspielerin?«

»Nicht viel mehr als bereits gesagt wurde. Die Mutter starb vor einigen Jahren an Krebs.« Becker blickte seinen Kollegen fragend an. »Wie war das gleich mit dem Vater?«

Tender berichtete, der Mann sei nach Amerika gegangen, um dort eine Stelle als Bühnenbildner an irgendeinem Theater anzutreten. »Er beabsichtigte, Frau und Tochter nachzuholen, ließ aber nie wieder etwas von sich hören. So ungefähr hat Eliza es mal erzählt. Sie schloss gerade das Gymnasium ab, als der Vater von der Bildfläche verschwand.«

»Dann ist der Gute wohl eher ans Tellerwaschen als auf die Bühne geraten«, platzte Petermann heraus und kassierte dafür einen missbilligenden Blick von Rust.

Diesmal bewirkte die Laxheit des Kollegen jedoch eine gewisse Auflockerung der beklemmenden Situation und entlockte zumindest Tender und dem Direktor ein schiefes Grinsen.

»Das wär’s erst mal«, beendete Rust das Gespräch. »Wir melden uns morgen wieder mit den Kollegen der Spurensicherung. So tragisch der Tod der jungen Frau ist, ich hoffe, er hatte natürliche Ursachen.«

Er wandte sich an den Direktor. »Informieren Sie die Herren und Damen im Aufenthaltsraum, dass sie sich morgen ab zehn Uhr vormittags hier zur Verfügung halten. Und bitte, auf der Bühne nichts verändern!«

Verstohlen gähnend machte er Petermann ein Zeichen und die beiden Männer verließen das Büro, in Gedanken schon in ihren Betten.

*

 

Rust erschien am Morgen noch vor Petermann im Polizeipräsidium. Er war Leiter der Ermittlungsgruppe II des Morddezernats. Im Gegensatz zu seinem Kollegen, der ausgeruht und in bester Laune kurz nach ihm eintraf, hatte er unruhig geschlafen und Blödsinn geträumt, ein Zeichen, dass ihm tausend Dinge im Kopf umgingen, die nicht zusammenpassen wollten. Ein vages Gefühl sagte Rust, dass sich ›Tod im Theater‹ – entgegen aller Hoffnung – zu ›Mord im Theater‹ entwickeln werde und er sollte recht behalten.

Gegen neun Uhr rief Hippe an. Die beiden Kommissare fuhren zu ihm ins ›Kühlhaus‹. So wurde das Gebäude der Rechtsmedizin sarkastisch im Kollegenkreis genannt.

Petermann fragte lakonisch: »Fall zu den Akten?«

»Leider nein«, erwiderte der Doktor. »Ihr bekommt Arbeit. Die junge Frau wurde vergiftet. Wollt ihr's wissenschaftlich exakt oder belletristisch ausführlich haben?«

»Wenn wir schon ermitteln müssen, dann mach du es wenigstens kurz«, verlangte Rust. »Was daraus folgt, zieht sich von ganz allein in die Länge.«

Hippe nickte zustimmend. »Es war eine Art ›Aqua Tofana‹.«

»Und?«, fragte Petermann, weil der Doktor offenbar nichts hinzuzufügen gedachte.

»Na, kürzer geht's nicht.« Hippe grinste hinterhältig.

Rust winkte resigniert ab. »Also mach's schon belletristisch, du Korinthenkacker! Was ist das für ein ›Aqua Torf‹ oder so?«

Der Doktor blieb sarkastisch. »Was immer man im Allgemeinen gegen Mord ins Feld führen kann – dieser Täter tötet mit Stil. Er lieferte uns quasi ›Faust‹, der Tragödie Nachspiel.

›Aqua Tofana‹ ist das klassische Gift der frühen Neuzeit, sehr beliebt vor allem bei Mörderinnen. Lästige Ehegatten, untreue Liebhaber, auch unliebsame Thronerben fielen dem Teufelszeug zum Opfer. Es besteht aus einer Mischung aus Arsen, Antimon, Bleioxyd und Belladonna, ist geruchlos, farblos, geschmacklos und wirkt zeitverzögert, je nachdem, wie viel man dem Opfer verabreicht. Bereits wenige Tropfen haben eine tödliche Wirkung. Die junge Frau hatte keine Chance zu überleben. Teuflisch, teuflisch! Und – wie gesagt – passend zum Szenario. Erhältlich ist das Gift nirgendwo, soviel ich weiß. Das Originalrezept ist nicht mal mehr bekannt. Aber wer das Zeug für diesen Mord zusammenbraute, kannte sich bestens mit Gift aus. Vielleicht war's ein Buschdoktor aus Übersee oder ein Einbalsamierer oder eine übriggebliebene Hexe.«