Dunkle Seiten X

 

Horror, Mystery und Dark Fantasy

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Medien GbR
Redaktion „Dunkle Seiten“
Obertor 4
D-98634 Wasungen

www.twilightline.com
dunkle-seiten@twilightline.com

1. Auflage, April 2018
ISBN 978-3-944315-97-3
eBook-Edition

© 2018 Twilight-Line Medien GbR
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

 

 

Der Jubiläumsband

 

Fressen oder gefressen werden

Humbug

Der Aussichtsturm

Silberblatt auf Efeu

Die Bibel des Teufels

Familientradition

Im Garten der Wünsche

Tote leben länger

Das Mädchen im Fuchsbau

Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?

Der Rhythmus des Lebens

Aus Liebe zum Detail

Der Jubiläumsband

Oliver Henzler

 

 

Es gibt wenige Dinge in meinem Leben, für die ich mich wirklich begeistern kann. Gleichförmig vergehen die Tage, stumpfsinnig verrichte ich meine Arbeit im Büro und die Hausarbeit trägt auch nicht gerade zu meiner Erbauung bei. Meine letzte Beziehung liegt schon einige Zeit zurück und meine greise Mutter erteilt mir ständig neue Aufträge, die zu erledigen sind. Ein Leben fernab aller Höhen und Tiefen, denn ich muss nicht fürchten Hunger und Durst zu leiden, oder abends kein warmes Bett zu finden. Doch gerade diese Eintönigkeit, der Mangel an Angelegenheiten, die mich wirklich berühren, ist es, der eine große emotionale Leere in mir entstehen lässt. Literatur ist das Einzige, was in der Lage ist, dieses Vakuum zumindest zu verkleinern. Wann immer es geht vertiefe ich mich in ein Buch. Doch nicht jedes ist dafür geeignet. Krimis langweilen mich, auch wenn manche wirklich gut geschrieben sind. Auf schwülstige Liebesromane habe keine Lust und die Lebensgeschichten anderer Menschen interessieren mich nicht. Phantastische Literatur ist dagegen genau richtig. Sie entführt mich in Welten, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat oder schildert mir unerhörte Begebenheiten, die meine Haare zu Berge stehen lassen. Genau wie die Reihe „Dunkle Seiten“. Daher freue ich mich, dass der Jubiläumsband gerade erschienen ist. Ich muss ihn nur noch in meinen Besitz bringen. Dann kann ich die schon eingerichtete Lücke in meinem Bücherregal schließen. Dort stehen alle bisher erschienenen Bände, auch die Sonderbände sind vorhanden, jeder einzelne.

Erfüllt von dem Gedanken an morgen gehe ich zu Bett und schlafe selig ein. Als ich aufwache, steht die Sonne schon am Himmel. Es scheint ein herrlicher Herbsttag zu werden. Die Vorfreude ist riesengroß. Noch schnell die üblichen Verrichtungen, Waschen, Anziehen, Frühstücken. Dann schnappe ich mir meinen großen Rucksack und verstaue alle meine Schätze darin, die vollständige Sammlung der „Dunkle Seiten“. Schließlich sollen alle Brüder anwesend sein, wenn sie dem neuen Familienmitglied vorgestellt werden. Noch schnell eine Jacke angezogen und den Tornister auf den Rücken gepackt, dann bin ich bereit. Leicht ist er nicht und ich habe eine weite Strecke vor mir. Aber an einem so schönen Tag sind Zweifel nicht angebracht. Ich werde die Werke schon sicher an das Ziel bringen.

 

***

 

Mein Weg führt mich über weites Land. Sanft geschwungene Hügel mit Maisfeldern, soweit das Auge reicht. Kein Mensch ist zu sehen. Ich folge dem Weg blind, weil ich weiß, dass er mich zum Ziel führt. Ein kleines, weißgetünchtes Häuschen taucht zu meiner Linken auf. Es ist die erste Station eines Kreuzweges. Weitere Häuschen säumen den Weg zu der höchsten Erhebung weit und breit, die von einer Wallfahrtskirche mit einem mächtigen Zwiebelturm gekrönt wird. Auch sie strahlt in einem makellosen Weiß in den azurblauen Himmel. Frohgemut steige ich den Hügel empor, werfe einen ehrfürchtigen Blick in jedes Häuschen, die die Passion Christi nachstellen. Mein Kreuz ist der Rucksack auf meinen Schultern, in dem von jeder Ausgabe nicht nur die Broschur, sondern auch das rare Hardcover stecken. Trotzdem fällt es mir leicht, mich auf dem steilen Weg hochzubewegen, denn ich weiß, jeder Schritt bringt mich dem Abschluss ein Stückchen näher.

Die letzten Meter zu der Kirche bestehen aus einer breiten Treppe, die unmittelbar vor dem Hauptportal endet. Es wird von zwei Säulen flankiert und ist mit einem Dreiecksgiebel gekrönt, der die Inschrift „O MARIA HILF!“ trägt. Ein Stich durchfährt mein Herz, denn ich fühle mich an meine Kindheit als Ministrant erinnert. Sollte ich meinen Weg kurz unterbrechen, um der Jungfrau Maria in einem stummen Gebet zu huldigen? Ich bringe es nicht über mich, einfach an dem Eingang vorbeizugehen und meine Strecke ohne Unterbrechung fortzusetzen. Zu tief haben sich die Rituale meines Lebens unter der Herrschaft meiner strenggläubigen Eltern in meinen Geist eingeprägt. Deshalb versichere ich mich der Existenz des Rucksacks auf meinen Schultern und ziehe an einem Flügel der Tür. Sie ist nicht verschlossen und gewährt mir Einlass. Im Inneren fällt mir sofort der mächtige, prunkvoll ausgeschmückte Hochaltar mit der Gnadenstatue als Mittelpunkt ins Auge. Schnell sinke ich auf die Knie und schlage ein Kreuz. Eine große Hand legt sich mir auf die Schultern. Ich zucke zusammen, denn für einen Moment habe ich meine Mission vergessen und bin mir des Inhalts in dem Beutel auf meinem Rücken nicht mehr bewusst. Mit einer Drehung komme ich wieder hoch und blicke in die Augen eines Priesters. Ein älterer Mann, der in einer Soutane steckt.

Er nickt mir freundlich zu und spricht mich mit tiefer Bassstimme an: „Mein Sohn, schön dass du gekommen bist! Ich sehe, du schätzt die reichhaltige Ausstattung unserer Kirche. Du musst einen weiten Weg hinter dir haben und dein Gepäck scheint schwer zu sein. Gleichwohl hast du unserer „Maria Hilf“ einen Besuch auf deiner Reise abgestattet. Das ehrt und zeichnet dich als einen guten Katholiken aus. Deshalb möchte ich dich auf deinem weiteren Weg stärken. Die Beichte wäre ein probates Mittel dazu. Sag mir, seit wann warst du nicht mehr zur Beichte?“

Die Frage kommt vollkommen überraschend für mich. Eine Antwort zu geben, fällt mir schwer. Meine letzte Beichte muss schon sehr lange zurückliegen, denn ich erinnere mich kaum mehr. Drei Jahre? Vier? Der Priester scheint meine verzweifelte Suche nach einer Antwort zu spüren, denn er erlöst mich: „Mein Sohn, ich sehe, sie liegt schon einige Zeit zurück. Komm, eine Sündenvergebung im Namen Christi wird deine Reise erleichtern!“

Die Aufforderung kommt mir angesichts meiner Mission äußerst ungelegen. Eigentlich will ich nur noch weiterziehen, doch mein religiöses Erbe zwingt mich dazu, der Einladung des Priesters Folge zu leisten. Deshalb gehe ich ihm ohne Widerworte in einen der Beichtstühle am Rand des Hauptschiffs der Kirche nach. Hastig schiebe ich den Vorhang des hölzernen Kastens beiseite, nehme den Rucksack von meinen Schultern, stelle ihn in eine Ecke und nehme Platz. Mein Plan ist, einige unbedeutende Sünden zu bekennen, losgesprochen zu werden und schnell zu verschwinden. Für ein Bekenntnis meiner wahren Sünden ist keine Zeit.

„Mein Sohn, du bist gekommen deine Sünden zu bekennen“, setzt der Priester nun an. Ich kann ihn durch das Gitter kaum sehen, er ist nur ein dunkler Schatten mit einer sonoren Stimme. „Was sind die Sünden, die du gekommen bist zu bekennen?“ will er wissen.

Ich beginne, mit schnellen, dürren Worten einige meiner Verfehlungen zu schildern. Eine Kollegin gegenüber dem Chef in Misskredit gebracht, Schwarzfahren, meine Mutter belogen. Das ist alles und ich warte auf die Lossprechung. Doch unvermittelt setzt der Priester an: „Mein Sohn, was befindet sich in deiner Tasche?“

Die Frage trifft mich wie ein Peitschenhieb. Warum will der Geistliche das wissen und was geht es ihn an, welchen Schatz ich transportiere? Doch auf die Erkundigung eines Priesters nicht einzugehen, wage ich nicht. Deshalb rücke ich mit der Sprache heraus und schildere unwillig, welchen Inhalt der Stoffbeutel hat.

„Was sind das für Geschichten, die in den Büchern enthalten sind?“, gibt sich der Geistliche mit einer bloßen Aufzählung der Gegenstände nicht zufrieden. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als auch das Konzept der „Dunkle Seiten“ darzulegen. Auch das ist dem Mann nicht genug, er bohrt nach, will den Inhalt einiger Geschichten geschildert haben. Ich denke angestrengt nach, dann habe ich mir den Ablauf einiger Storys vergegenwärtigt und lege los. Es bereitet mir nun sogar ein gewisses Vergnügen, die Geschichten in ihrer Vielfalt nachzuerzählen, auch wenn dadurch ein nicht unerheblicher Zeitverlust eintritt.

Als ich geendet habe, bemerke ich eine heftige Reaktion des Gottesmannes. Er scheint aufgestanden zu sein, ich höre den Stoff seiner Soutane heftig rascheln.

„Das ist Teufelswerk!“ schreit er hinter dem Gitter. „Gottlose Geschichten über Zerstörung, Mord und unzüchtiges Verhalten. Solche Bücher darf es nicht geben! Sie müssen zerstört werden, um weiteren Schaden von den Menschen zu nehmen. Gib sie mir, mein Sohn, und ich werde angemessen damit verfahren!“

Die gebellten Worte des Priesters rufen blankes Entsetzen bei mir hervor. Ich wünsche mir, mich verhört zu haben. Doch die heftigen Bewegungen in der Kabine neben mir lassen keinen Zweifel. Die Aufforderung ist ernst gemeint. Dabei habe ich absichtlich keine Geschichten von Marc Gore erzählt. Auch den Inhalt des Sonderbandes „Horrotika“ von Richard von Schöneberg habe ich wohl wissend nicht erwähnt. Kurz schwanke ich, wie ich reagieren soll. Dann raffe ich mich auf und tue, was ich nie gedacht hätte, tun zu müssen. Ich widerspreche einem Geistlichen!

„Nein!“ Klar und deutlich schreie ich dem Pfaffen entgegen, was ich von seinem Vorschlag der Bücherverbrennung halte. „Das sind Geschichten von Menschen, deren Phantasie keine Grenzen kennt. Wo die Wirklichkeit aller anderen aufhört, fangen sie erst an. Auch das ist Kunst, ob es der Kirche passt oder nicht!“

Unwillkürlich springe ich auf und greife nach meinem Rucksack, den ich wie einen Schutzschild vor mich halte, als ich den Beichtstuhl mit einem Sprung verlasse und kopflos bis zu einer der Säulen in der Mitte des Kirchenschiffs renne. Gerade noch rechtzeitig, denn als ich mich umdrehe, steigt Rauch aus dem Kasten auf. Nicht nur das, er beginnt sich zu bewegen, wie wenn in seinem Inneren starke Kräfte wirken würden. Behände werfe ich mir meinen Tornister auf den Rücken und ducke mich hinter dem gewaltigen Pfeiler. Gebannt beobachte ich, wie das hölzerne Dach des Beichtstuhls Feuer fängt und sich eine Hitzewelle auf mich zubewegt. Mit der steigenden Temperatur steigt auch die Vibration des Häuschens. Der Priester, oder was auch immer es ist, scheint zu rasen und zu toben. Ein unmenschliches Heulen dringt aus seinem Inneren. Unfähig mich aus der Kirche zu retten, starre ich auf den weiteren Verlauf des Geschehens, das immer bedrohlicher wird. Mir ist klar, dass sich die enorme Anspannung, unter der der Beichtstuhl steht, entladen muss. Deshalb ducke ich mich noch tiefer hinter der Säule und lege meine Arme schützend um den Kopf. Dann ist es soweit. Der Beichtstuhl explodiert. In einer gewaltigen Entladung fliegen zersplitterte Holzstücke an mir vorbei. Der Knall des berstenden Holzes wird von den hohen Wänden des Kirchenschiffs zurückgeworfen, wieder und wieder. Unwillkürlich halte ich mir die Ohren zu, um die enorme Lautstärke abzumildern. Dann wird es wieder still. Nur das Knacken brennenden und schwelenden Holzes erfüllt noch den Raum. Ich wage es aufzublicken und meine Ohren freizugeben. Ein Bild der Verwüstung bietet sich mir. Den Beichtstuhl gibt es nicht mehr. Seine Einzelteile sind überall verstreut, bis zum Altar sehe ich Rauch aufsteigen. Nur wenige Zentimeter neben mir liegt eine Soutane. Ich wage kaum sie anzusehen, denn was mit ihrem Träger geschehen ist, weiß ich nicht. Mit meiner Stiefelspitze bringe ich sie in eine Position, in der ich das Stück Stoff gut betrachten kann. Sofort fällt mir auf, dass es eigentlich keine Soutane ist, nur ein schwarzer Umhang. Weder ist sie tailliert geschnitten noch weist sie Knöpfe zum Schließen auf. 33 müssten es sein, doch kein einziger ist vorhanden. Von einem Zingulum ist ebenfalls nichts zu sehen. „Das kann kein Priester gewesen sein“, durchfährt es mich. Plötzlich schlagen Flammen aus dem Kleidungsstück. Rauch breitet sich aus, nicht nur von der Soutane. Überall in der Kirche brennt oder schwelt es. Ich berühre einen Träger meines Rucksacks zum Beweis seiner Anwesenheit und verlasse die Kirche eiligen Schrittes, um meinen Weg fortzusetzen.

Erst als ich mich am Fuß des Hügels befinde, blicke ich mich um. „Maria Hilf“ steht in Flammen. Ihr kann höchstens noch die Feuerwehr helfen.

 

***

 

Meine Strecke führt mich nun durch ödes Land, bis sich am Horizont die Umrisse von Baumkronen formen. Mit festem Schritt nähere ich mich dem Wald vor mir. Woher ich weiß, dass ich den Forst durchschreiten muss, ist mir nicht klar, scheint aber auch nicht wichtig zu sein. Der Pfad führt direkt auf die dunklen Eichen zu, deren Äste sich abweisend über den Eingang in das Gehölz beugen. Ich versichere mich abermals der Anwesenheit des Rucksacks auf meinem Rücken, ducke mich unter dem Geäst hindurch und trete ein. In meinem Kopf spuken Bilder der Wälder, wie sie einst Tolkien ersann, und genauso sieht es in diesem aus. Die schiere Höhe der Bäume und das dichte Blattwerk weit oberhalb von mir lassen nur wenig Tageslicht bis zum Boden dringen. Der Pfad ist deutlich sichtbar, doch muss ich aufpassen, nicht über eine der zahlreichen Wurzeln zu stolpern oder auf einem der glitschigen Steine auszurutschen. Schließlich gelange ich zu einer Lichtung, in deren Mitte sich eine Gestalt befindet. Ich fürchte mich nicht, denn ihre Körperhaltung verrät, dass sie mir nicht feindselig gegenübersteht. Das Mädchen scheint zudem ohne Ausrüstung zu sein, denn ich erblicke kein Gefäß und auch keinen Beutel, die sie mit sich führt. Einen Meter vor ihr halte ich an und blicke in ihr Gesicht. Es kommt mir merkwürdig vertraut vor. Kurz muss ich überlegen, dann weiß ich woher ich sie kenne. Mein Märchenbuch aus früher Kindheit war mit einer Vielzahl von Illustrationen versehen, darunter auch diejenige einer Elfe. Nie würde ich ihr Antlitz vergessen, das ich so oft mit meinen kindlichen Augen betrachtet habe. Die ebenmäßig ausgebildeten Züge, das lange, blonde Haar, aus dem kleine spitz zulaufende Ohren schauen. Dieser Anblick übte seit jeher die Faszination einer unbekannten Welt auf mich aus. Große rehbraune Augen blicken mich interessiert an. Kein Wort dringt aus ihrem süßen Mund, die schmalen Lippen bleiben geschlossen. Die weißen Hände knöpfen mit feingliedrigen Fingern das Diadem auf, das ihren Umhang über der Brust zusammenhält. Das Kleidungsstück rutscht ihr von den schmalen Schultern und bleibt auf dem Waldboden liegen. Das stört sie nicht, denn sie beginnt unmittelbar danach damit, ihr seidenes Gewand, dessen Stoff mit allen Farben des Waldes gefärbt zu sein scheint, abzustreifen. Der Teil stand entschieden nicht in meinem Märchenbuch, doch gebannt folgen meine Augen der Szene. Auch dieses Kleidungsstück fällt herab und bildet einen Ring um ihre bloßen Füße. Sie macht einen kleinen Schritt nach vorne über den Stoff und steht nun dicht vor mir. Das Tragen von Unterwäsche scheinen Elfen nicht für notwendig zu halten, denn das Wesen ist nun vollständig nackt. Die wohlgeformten, apfelförmigen Brüste mit den kleinen Warzenhöfen passen ausgezeichnet zu dem Fabelwesen. Die Scham ist dunkelgrün, wie das Blattwerk der Bäume ringsum. Es streckt sich und umfasste seine Brüste lasziv mit beiden Händen und hält sie mir entgegen. Ein angenehmer Duft nach getrockneten Blättern steigt in meine Nase und ich nehme die erregten Brustspitzen mit ungläubigem Staunen wahr. Dieses ganz und gar Elfen untypische Verhalten erregt mich gleichwohl ansatzlos und ich beginne, ohne nachzudenken meinen Rucksack abzustreifen, um auch ihn dem Boden zu überlassen. Ein Griff an die Früchte des Mädchens scheint nur noch einen Augenblick entfernt, als ich ihren Blick bemerke, der nun nicht mehr nur in mein Gesicht gerichtet ist. Er scheint sich vielmehr auch für das Ding zu interessieren, das ich auf meinem Rücken trug und das nun auf dem Boden steht. Meine Muskeln spannen sich wieder und ich fasse den ersten klaren Gedanken seit der Begegnung mit der Märchenfigur. Ich bin kurz davor, in eine Falle zu tappen, auch wenn es ein süßer Hinterhalt ist. Entsetzt hebe ich den Tornister wieder auf und schultere ihn, was die Elfe mit einem enttäuschten Augenaufschlag quittiert. Als ich entschlossen an ihr vorbeieilen will, ist sie bereits verschwunden. Auch ihre Kleidung hat sich aufgelöst und sollte wieder ihren grazilen Körper bedecken, damit die Erscheinung mit meinen Kindheitserinnerungen übereinstimmt.

 

***

 

Als ich den Waldrand am anderen Ende des Gehölzes erreiche, ist mein Blick auf den Boden eines Tales unverstellt. Mir bietet sich ein pittoreskes Bild. Ein kleines Flüsschen schlängelt sich durch den Einschnitt, auf beiden Seiten gesäumt durch eng verflochtenes Buschwerk, daher ist der Verlauf gut auszumachen. Über eine sanft abfallende Wiese ist das Gewässer leicht zu erreichen und es zieht mich dorthin, denn die bisherigen Begegnungen haben Kraft gekostet und ein Schluck zu trinken sowie eine kleine Abkühlung werden mir guttun. Doch um an das kühle Nass zu gelangen, muss ein Hindernis überwunden werden, das sich dem Bach gleich durch das Tal schlängelt. Wie häufig wird der Talboden als Transportweg genutzt. Neben einer Straße, die leicht erhöht auf der gegenüberliegenden Hangseite erbaut worden ist, zieht sich auch das Stahlband einer Eisenbahnlinie durch das Gelände. Sicher keine Hauptstrecke, nur ein Gleis und ohne Elektrifizierung. Bemerkenswert daran ist nur, dass auf dem Gleis ein Zug steht. Ein Nahverkehrszug, wie es mir scheint. Eine rote Lokomotive mit drei angehängten ebenso rot lackierten ehemaligen Silberlingen. Nichts Besonderes, aber den Haltepunkt kann ich mir nicht erklären. Mitten auf der Strecke, ein Signal ist weit und breit nicht zu sehen. Warum also hält das Gefährt genau hier?

Unbeweglich verharre ich auf meiner Position am Waldrand und beobachte. Nichts tut sich, niemand ist zu sehen, nur das sonore Brummen des Dieselmotors der Lokomotive dringt gleichförmig zu mir herauf. Deshalb entschließe ich mich, hinter dem Zug das Gleis zu überqueren, um an das kühle Nass zu gelangen. Ich ziehe erneut an den Trägern des Rucksacks, damit ich sicher bin, dass er und sein wertvoller Inhalt sich noch auf meinem Rücken befinden und trete hinaus aus der dunklen Schattenwelt der Bäume in das gleißende Licht der Sonne, die das Tal hell und freundlich erscheinen lässt. Wie auf Wolken nähere ich mich der roten Schlange, die unbeweglich dasteht. Bis auf den leerlaufenden Motor der Lok ist kein Geräusch auszumachen. Entgegen meinem Plan, das Hindernis schnellstmöglich zu umgehen, nähere ich mich ihm von der Seite vorsichtig an. Schon als Kind war ich von Zügen begeistert. Meine erste Modelleisenbahnanlage hatte mir mein Vater gebaut, wohl mehr für sich als für mich, doch war meine Leidenschaft für den Eisenbahnverkehr damit entfacht. An einem Zug einfach vorbeizugehen, bringe ich daher nicht übers Herz.

Klein komme ich mir im Vergleich zu dem Stahlkoloss vor, denn ich befinde mich nicht auf einem Bahnsteig, sondern auf dem Grasboden neben dem Schotterbett und das Gleis liegt daher einige Zentimeter höher. Wie im Traum blicke ich an den Waggons entlang. Ein Fahrtverlaufsschild zeigt mir, dass der Zug auch Wasungen anfährt. Ohne nachzudenken ist mir klar, dies ist das Ziel meiner Reise. Dann mache ich eine beunruhigende Entdeckung. Die Tür eines Waggons steht offen. Sind die Fahrgäste ausgestiegen und ist der Zug leer? Oder spricht die rote Schlange eine Einladung aus, einzusteigen, Platz zu nehmen und bis in das kleine Städtchen mitzufahren? Ein verlockendes Angebot, denn ich bin müde und will die Sache nun hinter mich bringen. Eine innere Stimme warnt mich den Zug zu betreten, obwohl es für mich ein Leichtes wäre, den Abstand zur untersten Trittstufe zu überwinden. So zögere ich und blicke zu den Scheiben der Fenster hoch. Es ist schwer auszumachen, ob sich jemand in den Wagen befindet, denn ich halte mich deutlich unterhalb der Scheiben auf. Kein Laut dringt aus dem Innern, daher komme ich zu dem Schluss, dass der Zug entweder nur schwach besetzt oder leer ist. Ich trete einige Schritte zurück, um einen besseren Blickwinkel auf die Fenster zu haben. Der Nutzen hiervon ist nur gering, denn das Glas reflektiert das Licht der Sonne, weswegen nur lauter helle hintereinander angeordnete Rechtecke auszumachen sind.

Plötzlich nehme ich eine Bewegung in dem mir am nächsten gelegenen Fenster wahr. Für einen Augenblick scheint sich eine Fratze an das Glas zu pressen. Zu schnell ist sie verschwunden, um Einzelheiten auszumachen. Die Zeit ist jedoch ausreichend, zwei hervorstechende Eigenschaften der Erscheinung wahrzunehmen: Ein rötlicher Teint und zwei kleine Hörner auf einem kahlen Schädel. Ruckartig verschwindet der Dämon vom Fenster und mein Gehirn signalisiert den Beinen, sich in Bewegung zu setzen, weg von der Höllenmaschine vor mir, die es unzweifelhaft auf mich, und noch schlimmer, den Inhalt meines Rucksacks abgesehen hat. Erneut habe ich mich von meinem Ziel durch eine Kindheitserinnerung abbringen lassen. Ich wundere mich über meinen Leichtsinn und habe keine Erklärung dafür.

Eher zufällig fällt mein hektischer Blick auf die offene Tür des Zugs und umgehend weiß ich, was sogleich geschehen wird. Das Tor in die diesseitige Welt steht offen und anstatt das ich es durchsteige, wird sich eine Kreatur der Finsternis augenblicklich in das grüne Tal ergießen und meine Mission zum Scheitern bringen. Ohne nachzudenken stürme ich auf die Tür zu, es sind nur wenige Schritte, die mir wie eine Marathondistanz vorkommen. Mit einer entschlossenen Bewegung greife ich nach dem Rahmen der Tür und lege alle meine Kraft in den folgenden Stoß. Gott sei Dank sind die Waggons alt und die Zugänge können noch von Hand geschlossen werden. In dem Moment, als sich die Tür schwerfällig in Bewegung setzt, biegt eine tückische Gestalt um die Ecke aus dem Abteil. Die Luft erkaltet und ein widerwärtiger Geruch dringt aus dem Eisenbahnwagen. Dankbar registriere ich den sich schnell verkleinernden Spalt zwischen Angel und Tür, die schließlich mit einem lauten Geräusch ins Schloss fällt. Ich höre, wie etwas gegen deren Inneres schlägt, dann wird die Luft von dem aufbrummenden Motor der Lokomotive erfüllt. Mit einem Ruck setzt sich der Zug in Bewegung. Gelähmt vor Entsetzen beobachte ich, wie die Waggons Fahrt aufnehmen. In die Fenster zu blicken wage ich nicht mehr. Bald passiert mich der letzte Wagen und ich schaue stumm auf das Ende des Zuges, hinter dessen geschlossener Tür ein namenloses Wesen seine Klaue erhebt und auf mich zeigt.

 

Im weiteren Verlauf traue ich mich nicht mehr, neben den Gleisen entlang dem Ziel zuzustreben, aus Angst, der fahrplanlose Zug könnte erneut das Tal befahren, dieses Mal in die andere Richtung. Deshalb ziehe ich mich wieder in den Wald zurück, auch wenn ich mir alles andere als sicher bin, dort auf keine Kreaturen zu treffen, die es auf meinen Rucksack abgesehen haben. Doch nichts geschieht, außer, dass mich immer mehr das Gefühl überkommt, wie in Watte gepackt zu sein.

***

 

Es dauert nicht lange und ich erreiche das Ortsschild von Wasungen. Obwohl ich in meinem Leben noch nicht hier gewesen bin, kann ich den Weg zu meinem Ziel im Schlaf finden. Durch namenlose und menschenleere Straßen schwebe ich der Altstadt des thüringischen Städtchens entgegen. Schließlich stehe ich vor dem Gebäude, das von vorneherein mein Ziel war. Ungläubig sinke ich auf die Knie. Es ist unzweifelhaft das richtige Haus. Ich kann das verblichene und halb abgerissene Schild am Eingang noch sehen. Twilight-Line Verlag GbR steht dort zu lesen. Doch dieses Haus dient sicher schon lange keinem Verlag mehr als Domizil. Ich bin zu spät. Mein Weg hierher muss ewig gedauert haben, weil ich mich Kindheitserinnerungen hingegeben habe. Mir ist klar, meine Sammlung wird damit unvollständig bleiben. Mein Beutel rutscht mir ein letztes Mal von den Schultern. Tränen schießen mir aus den Augen und rinnen meine Wangen hinab. Die salzige Flüssigkeit brennt und ich fühle, wie mein Gesicht auf dem feuchten Untergrund immer nasser wird. In der kindlichen Hoffnung, all meine Entbehrungen und Schreckmomente aus der Erinnerung zu tilgen, schließe ich die Augen.

Die Kirchenglocken der nahen Ortskirche läuten. Deshalb öffne ich die Augen wieder. Es dauerte eine Weile, bis ich begreife, die Feuchtigkeit wird von meinem Kopfkissen abgegeben, in das ich geweint habe. Die Umrisse eines Fensters lassen mich langsam verstehen, dass ich in meinem Bett liege und es draußen hell geworden ist. Dann überfällt mich die letzte Erkenntnis. Die Kirchenglocke in meinem Traum ist tatsächlich die Wohnungsklingel. Jemand muss sie betätigt haben, der Einlass in meine Wohnung begehrt. Ich stehe auf, greife nach meinem Morgenmantel, den ich mir schnell überwerfe und schwanke zur Tür. Draußen steht der Hermes-Bote und hält mir ein kleines, dünnes Päckchen unter die Nase. Ich quittiere den Erhalt, drehe mich um und lese auf dem Weg zurück in meine Wohnung den Absender der Post: Twilight-Line Verlag

 

 

Fressen oder gefressen werden

Iolana Paedelt

 

 

Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte ich Jan leise, als wir in unserem VW Golf die Landstraße entlangfuhren. Unsere Scheinwerfer durchbrachen den dichten Nebel wie dünne Schichten aus Eis. Die Dunkelheit presste gegen die Autoscheiben und ich merkte, wie die Kälte bei jedem Atemzug sich mehr und mehr in meinem Körper ausbreitete. Seit Stunden waren wir mittlerweile im Auto unterwegs.

Vor ein paar Monaten hatten wir uns entschlossen ein altes Herrenhaus zu kaufen. Hauptsächlich wegen der Lage, weit von jeglicher richtigen Zivilisation und naturnah. Nicht nur der riesige Garten, der an den Wald der Umgebung angrenzte, sondern auch der kleine Teich hatte mich verzaubert. Oder vielleicht war es auch einfach nur das Holz, aus dem das Haus gefertigt war. Gut, vielleicht hatte auch der günstige Preis unseren Entschluss beeinflusst. Ich war jedenfalls froh, endlich aus der Großstadt rauszukommen, für mich als Schriftstellerin bedeutete unser neues Haus das Paradies. Ein Ort der friedvollen Stille, an dem ich endlich zur Ruhe kommen und mich auf meine Arbeit konzentrieren konnte. Eine Erleichterung nach dem, was wir das letzte Jahr durchgemacht hatten. Manische Depressionen und Burn-out. Nicht gerade Diagnosen, mit denen man gesegnet ist. Mein Therapeut hatte mir die ländliche Ruhe empfohlen und ich wusste, dass das einzige, was mich aus meinem Tief holen konnte, meine Arbeit war. Jan jedenfalls begann gleich Hals über Kopf auf Häusersuche zu gehen. Er hat die Großstadt schon immer innerlich verabscheut. Nach einigen Tagen Suche wurde er fündig und ehe ich es mich versah, war der Kaufvertrag unterzeichnet und wir bereiteten unseren Umzug vor. Wir hatten unsere Möbel schon vor ein paar Tagen mit dem Möbeltransporter zu dem Haus gebracht und es eingerichtet. Nur das Nötigste, Kleidung, etc., hatten wir heute abgeholt und zogen jetzt endgültig um.

„Jan, ich kann mich nicht erinnern hier vorbei gekommen zu sein“, murmelte ich und ließ meinen Blick die Landschaft entlangschweifen. Die ursprüngliche Autobahn lag mittlerweile Meilen hinter uns, vor uns mit Nebelschwaden durchzogene Dunkelheit, weit und breit keine Menschenseele. Kein Auto, kein Nichts.

„Papperlapapp, alle Wege führen nach Rom“, antwortete er lachend.

Ich blickte ihn aus den Augenwinkeln an. „Hast du das Auto abgeschlossen?“

Als Antwort zeigte er schmunzelnd auf das gelb leuchtende Symbol des verschlossenen Schlosses. Ich wandte meinen Blick wieder der Landschaft zu und versuchte etwas durch die Dunkelheit zu erkennen, doch der dichte Nebel verhüllte alles wie durch einen Schleier. Nur ab und zu, wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man die Silhouetten der am Straßenrand stehenden Bäume erkennen.

„Also, ich muss gerade an diese eine moderne Sage denken“, Jan sah mich an und fügte dann hinzu, „lass uns hoffen, dass der Sprit nicht ausgeht.“

„Sehr witzig“, antwortete ich. „Und selbst wenn er es täte, wärst du es ja dann, der den Weg bis zur nächsten Tankstelle laufen muss, dabei geköpft wird und dessen abgetrennter Kopf gegen meinen Wagen geschlagen wird.“ Ich schenkte ihm ein Grinsen.

„Wow, deine Liebe erwärmt den ganzen Wagen“, eröffnete er sarkastisch, um dann hinzuzufügen, „aber vergiss nicht, mein kopfloser Körper wird dich trotzdem finden.“ Dramatisch griff er nach meiner Hand und schüttelte sie.

Ich lachte und lehnte meinen Kopf an die kalte Fensterscheibe. Ich hatte das Gefühl, der Nebel wurde immer dichter. Meine Augen waren gerade dabei zuzufallen, da huschte etwas an mir vorbei, ein schwarzer Schatten. Schlagartig öffnete ich meine Augen, in diesem Moment machte unser Wagen eine Vollbremsung. Ich hörte Jan leise fluchen und sah geradeaus. Mitten vor uns auf der engen Landstraße liefen vier Personen. Sie trugen Wanderkleidung und jeweils einen Rucksack auf dem Rücken.

„Boah, fast hätte ich die übersehen“, murmelte Jan. „Aber wenigstens können wir jemanden nach dem Weg fragen.“

„Das ist jetzt nicht dein ernst, oder?“, meine Stimme klang entsetzt.

Jan sah mich mit einem verwunderten Blick an. „Was ist denn in dich gefahren?“

Ich merkte, wie der Wagen immer langsamer wurde, bis wir schließlich auf der Höhe der ersten Person anhielten. Jan ließ meine Fensterscheibe herunter. Der Wanderer sah mich direkt an. Seine blauen Augen waren leer, fast seelenlos. Adern zogen sich unter seiner blassen Haut durch, es schien fast, als würden sie jeden Moment rausspringen. Er trug, wie die Anderen schwarze Kleidung.

„Sie sehen verloren aus“, seine Stimme war körperlos, es schien als käme sie von jemandem, den man nicht sehen kann. Jan lehnte sich vor und durchbrach so den Blickkontakt zwischen mir und dem Mann.

„Ich habs ja gesagt, wir hätten eine Karte mitnehmen müssen“, er schenkte dem Mann ein freundliches Lächeln. „Können Sie uns sagen, ob wir richtig sind, wenn wir nach Mort wollen?“

Wie paralysiert saß ich in meinem Sitz, mein Blick steif gerichtet auf den Fremden. Ein schwarzes Loch der Angst breitete sich in meinem Magen aus und fraß sich seinen Weg durch meinen restlichen Körper. Meine Finger kribbelten und eine Gänsehaut zog sich von meinem Rücken hoch bis zu meinem Kopf.

„Oh, Sie sind fast da“, entgegnete der Mann, seine Stimme genauso tot wie vorher. Ich hatte das Gefühl jedes seiner Worte raubte mir die Luft, es fiel mir schwer zu atmen.

„Siehst du, Liebling, alles halb so schlimm“, flüsterte Jan mir zu.

„Fahren Sie einfach immer weiter geradeaus. Irgendwann kommen Sie an eine Tankstelle“, der Mann machte eine Pause. „Sie haben dann das Ziel erreicht“, fügte er mit einem Grinsen hinzu. Ein Grinsen, was mir meine Nackenhaare zu Berge stehen und mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Super, wissen Sie vielleicht auch noch, wo man da was um die Uhrzeit zu essen kriegt?“, fragte Jan weiter.

Schlagartig verschwand das Grinsen aus dem Gesicht des Fremden. „Es gibt einen Imbiss neben der Tankstelle, der hat immer offen.“

Jan nickte. „Kommen Sie aus Mort?“, fragte er.

Gott, dachte ich, fahr doch jetzt einfach weiter. Der leere Blick wanderte wieder zu mir.

„Ja.“

„Sollen wir Sie mitnehmen?“, Jans Frage brachte mein Herz fast zum Stillstand.

„Nein. Wir finden den Weg schon.“ Der Mann lächelte mich an. Jan bedankte sich und ließ die Scheibe wieder hoch, endlich setzten wir unsere Fahrt fort.

„Nette Leute“, stellte Jan fest, er schien gut gelaunt zu sein.

„Wie bitte? Hast du die nicht gesehen, ganz normal waren die ja wohl nicht. Wer läuft denn überhaupt mitten in der Nacht bei Nebel und ohne Licht auf der Straße umher?!“

„Mort ist berühmt für seine schönen Nächte, die Natur und den Sternenhimmel. Es ist üblich, dass Leute hier wandern.“ Jan sagte es so, als sei es das Normalste der Welt.

„Nachts?!“ wiederholte ich und sah ihn verwundert an, das konnte er doch nicht ernst meinen.

Er zuckte nur mit den Achseln. „Vielleicht ist der Nebel im Wald nicht so dicht.“ Und damit war die Unterhaltung beendet.

Wie der Fremde es erklärte, erreichten wir nach einiger Zeit die Tankstelle und den dazugehörigen Imbiss. Selbst innerhalb des Ortes war der Nebel vorhanden. Wir tankten unseren Wagen auf und kauften uns etwas zu essen. Ab hier kannten wir den Weg.

 

Klong, Klong, Klong. Der Klang eines dumpfen Schlags riss mich aus meinen Träumen. Wie der Klang eines tropfenden Wasserhahns, nur lauter und intensiver drang er in meine Ohren und bohrte sich bis in die hintersten Kammern meines Geistes. Schlagartig fuhr ich aus meinem Bett hoch, meine Augen weit aufgerissen. Um mich herum Dunkelheit, es war immer noch mitten in der Nacht, vielleicht hatte ich eine Stunde geschlafen. Meine Hand tastete sich durch die Dunkelheit bis zu meinem Nachttisch und ich drückte auf die Lampe in meinem Wecker, um die Uhrzeit zu sehen. 3:23, das grelle Licht, das von meinem Wecker ausging, blendete meine Augen. Neben mir hörte ich nur Jans Schnarchen.

Klong, Klong, Klong. Das seltsame Geräusch ertönte wieder. Du bildest dir das nur ein, Claire, deine Phantasie geht gerade mit dir durch. Doch das Geräusch erklang wieder. Klong, Klong, Klong. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn, ich bildete es mir doch nicht ein, Plötzlich war ich hellwach. Ich würde diesem Geräusch nachgehen, koste es was es wolle. Langsam stand ich auf. Als meine Füße den klammen Boden berührten, bekam ich eine Gänsehaut. Klong, Klong, Klong. Ich war mir eindeutig sicher, dass dieses Geräusch nicht aus meinem Schlafzimmer kam. Ich bewegte mich auf die Schlafzimmertür zu, sie knarrte leise, als ich sie öffnete. Klong, Klong, Klong. Das Geräusch kam vom Ende des Flurs. Vorsichtig tappte ich den Flur herunter. Klong, Klong, Klong. Das Klopfen wurde schneller. Langsam konnte ich orten, woher es kam. Es kam aus dem Bad. Mein Herz raste und ich atmete hastig. Klong, Klong, Klong. Je näher ich kam, desto lauter und schneller wurde es. Mittlerweile stand ich vor der Badezimmertür, meine Hand lag auf dem Türknauf. Ich atmete tief ein, riss die Tür auf und schaltete sofort das Licht an. Klong, Klong, Klong. Der Duschkopf schlug rhythmisch gegen die Plastikverkleidung der Badewanne. Ich atmete auf, ein Stein fiel mir vom Herzen. Vielleicht sollte ich doch das Genre meiner Geschichten ändern. Ich bückte mich runter zur Badewanne, hob den Duschkopf und hängte ihn wieder dahin, wo er hingehörte. Dann drehte ich mich zum Waschbecken und ließ mir kaltes Wasser über die Pulsadern laufen. Mein Blick fiel auf den Spiegel vor mir und ich betrachtete mein Gesicht. Schwarze Augenränder und fette Tränensäcke. Gott, war ich müde. Das Rauschen des Wassers aus dem Wasserhahn beruhigte meinen Geist. Ich wollte ihn gerade ausstellen, da merkte ich wie das Wasser dreckig wurde. Es lief langsamer aus dem Wasserhahn und stoppte dann plötzlich. Verwundert stellte ich den Wasserhahn aus und dann wieder an. Nichts kam. Ich stellte den Wasserhahn wieder aus und wartete. Dabei fiel mein Blick auf den Spiegel. Plötzlich flackerte das Licht und ich erkannte hinter mir, in der vollen Badewanne liegend, eine junge Frau. Ihr rasselnder Atem erfüllte das Bad. Sie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sofort drehte ich mich um, sie war wirklich da. Ihr schönes Gesicht war blutverschmiert und um ihren Hals waren dunkellilafarbene Blutergüsse. Erst jetzt bemerkte ich, dass in ihrer Brust eine riesige Wunde klaffte aus der Blut in die Badewanne floss und das Wasser dunkelrot färbte. Ihre Augen waren genauso seelenlos wie die des Mannes aus dem Wald. „Sieh, was er mir angetan hat!“, schrie sie. Ihre Stimme war verzerrt und ihr Gesicht verformte sich zu einer hässlichen Fratze. Entsetzt wich ich zurück, meine Brust hatte sich zusammengezogen und ich bekam keine Luft mehr. Ich hatte das Gefühl mein Herz würde gleich aus meiner Brust springen. Das Licht flackerte und als ich hinsah war die Frau weg. Genau in diesem Moment ging der Wasserhahn wieder an. Schnellatmend drehte ich mich um, doch es war nicht Wasser, welches dieses Mal aus der Öffnung heraussprudelte. Es war zähflüssiger und dunkelrot. Es war Blut.

„Jetzt beruhig dich doch“, sagte Jan eindringlich. Er stand vor mir, während ich auf der Bettkante saß. Besorgnis zeichnete sich in seinem Gesicht ab.

„Nein ich beruhige mich nicht! Was auch immer das gerade war, ich werde hier nicht weiter wohnen. Ich… ich“, außer Atem versuchte ich mich zu sammeln. „Ich weiß doch was ich gesehen habe.“

„Du oder die Pillen?“ fragte Jan und nickte zu dem orangen Döschen auf meinem Nachtschrank. „Dir ist klar, dass Antidepressiva manchmal Halluzinationen hervorrufen. Und dann noch der ganze Stress mit dem Umzug…“, er setzte sich neben mich und nahm mich in den Arm. „Ich denke du bist einfach fertig mit der Welt.“

„Oh ja, danke für die Einschätzung, Freundchen.“ Ich entriss mich seiner Umarmung und stand auf. „Ich weiß, was ich gesehen hab. Ich kenn den Unterschied zwischen Realität und Wahn.“

„Ja und wir wissen beide, dass das nicht das erste Mal ist, dass du wegen Medikamenten nachts wach wirst und durchdrehst.“

„Ach ich dreh jetzt wieder durch. Ist klar. Jetzt soll ich wieder die Bekloppte spielen? Warum sollte ich mir denn bitte eine tote Frau vorstellen?!“ Ich musste mich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschreien.

„Vielleicht ist es eine Verarbeitung deines eigenen Suizidversuchs“, entgegnete Jan.

„Du bist einfach unglaublich“ schnaubte ich. Dann griff ich sein Kissen und seine Decke und drückte sie ihm in die Hand. Er sah mich verwirrt an. „Viel Spaß auf der Couch.“

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte war Jan schon arbeiten. Auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel, auf den er schnell eine Entschuldigung gekrakelt hatte, bevor er das Haus verließ. Anscheinend war die Couch doch nicht das Bett seiner Träume. Ich kochte mir Kaffee, goss ihn mir in meine Lieblingstasse und setzte mich an den Küchentisch. Die Bilder der letzten Nacht schwirrten durch meinen Kopf. Nein, ich hatte mir das nicht eingebildet, aber Geister? Geister waren mindestens genauso unrealistisch. Tief versunken in dieses innere Dilemma hörte ich erst beim dritten Läuten die Türklingel. Ich öffnete die Tür und vor mir stand eine ältere Dame. Körperlich sah man ihr ihr Alter nicht an. Sie hatte blondiertes Haar und trug ein weißes Kleid mit Blumenmuster. Erst die Falten in ihrem Gesicht verrieten sie.

„Guten Morgen, ich bin Marie, ich wohne nebenan“, sagte sie zuckersüß mit einem Lächeln auf ihrem faltigem Gesicht. In ihren Händen hielt sie einen Teller mit Keksen. „Wissen Sie, es ist so schön, dass in dieses alte Haus endlich mal wieder Leben kommt. Sagen Sie, planen Sie Kinder?“