Andrew Cartmel

Killer Rock

Thriller

Aus dem britischen Englisch von
Susanna Mende

Herausgegeben von
Thomas Wörtche

Suhrkamp

Für Ben Aaronovitch, meinen Mitstreiter.

Killer Rock

DAILY CHRONICLE – Samstag, 21. Januar 1967

Sängerin tot – Kind vermisst

Nichts könnte die Sittenlosigkeit der sogenannten ›psychedelischen Musikszene‹ Großbritanniens besser veranschaulichen als das grausame Ableben der Popsängerin Valerie Drummond, alias ›Valerian‹. Viel wurde über diesen schrecklichen Vorfall geschrieben (siehe Titelgeschichte Seiten 1-3), während das Schicksal ihres kleinen Sohnes kaum Beachtung fand. Tatsächlich ist es ein uneheliches Kind, wofür der Junge nichts kann. Er wurde von den Menschen in seiner nächsten Umgebung im Stich gelassen, einer Clique egoistischer, hedonistischer Abenteurer, denen die Wirklichkeit nicht genügte. Auch nicht das ehrliche Licht des Tages. Sie brauchen den verzerrenden Glanz ›bewusstseinserweiternder‹ Drogen. Nur dass diese Drogen bewusstseinszerstörend sind. Die gleichen Drogen, die bereits andere Popstars das Leben gekostet haben, wie Brian Jones von der berühmten Rockband The Rolling Stones und viele aus Drummonds engem Kreis. Es schaudert einen, wenn man an das Schicksal des armen kleinen Jungen denkt …

1

Die Entdeckung

Mein Freund Tinkler ist ungefähr in meinem Alter, um einiges fülliger als ich, und sein Gesicht erweckt den Eindruck, als wäre er Mitglied irgendeines verruchten Clubs von Cherubim.

Heute war sein Geburtstag.

»Wie meinen?«, fragte er und sah uns an, die Hand theatralisch auf der Brust. »Ein Geschenk, sagt ihr? Für mich? Ihr wusstet, dass heute mein besonderer Tag ist?«

»Du hast es höchstens fünfzigmal erwähnt. Jedenfalls hat Nevada für dich eine Schallplatte in einem Secondhandladen gefunden.«

»Welche denn?«

»Ich weiß nicht. Sie hat sie mir nicht gezeigt.«

»Eine Rarität«, sagte Nevada. »Eine echte Rarität.«

»Dann gib doch her«, sagte Tinkler.

Sie ging ins Schlafzimmer, um die Platte zu holen, die sorgfältig in elegantes schwarz-goldenes Geschenkpapier gehüllt war, kam zurück und reichte sie mir. »Du darfst sie ihm geben«, sagte sie. »Ich habe sie entdeckt und bin für den großartigen Fund verantwortlich, ich hatte die ganze Mühe mit dem Bezahlen und Verpacken und das alles, aber du darfst sie ihm geben.«

Als ich nach der verpackten Schallplatte griff, nahm ich den Hauch von etwas Penetrantem und trotzdem Flüchtigem wahr – einen durchdringenden und muffigen Geruch.

Ich schnupperte daran.

Es war der Geruch einer alten Schallplatte. Genau so roch ein LP-Cover aus Pappe nach ungefähr fünfzig Jahren. Mir wurde flau. »Mein Gott«, sagte ich. »Es scheint wirklich eine Rarität zu sein.«

Nevada sah mich an. »Das erkennst du am Geruch?«

Tinkler riss mir die Platte aus der Hand und packte sie aus. Wobei »auspacken« eine ziemliche Untertreibung war. Er zerrte an dem Geschenkpapier wie der sittlich verwahrloste Gutsherr am Mieder der züchtigen Kammerzofe. Papierfetzen flogen in alle Richtungen.

Nevada sah ihm mit leuchtenden Augen zu. »Ich wusste, dass du sie haben willst, Tinkler, du hast nämlich ein Bild davon an der Wand hängen. Ein gerahmtes Bild vom Cover, an deiner Wohnzimmerwand. So sehr willst du diese Platte.«

Tinkler hielt die LP jetzt in seinen Händen.

Schwer zu sagen, wer mehr überrascht war, er oder ich.

Es war All the Cats Love Valerian, das letzte Album der großen britischen Rockband aus den Sechzigern, die angeblich von allen diesen Katzen geliebt wurde. Valerian war ein Wildfang und die typische Hippiebraut, die splitternackt auf einem Perserteppich in einem Raum voller antiker Möbel lag, auf denen überall Katzen saßen. Es war ein großartiges Foto, das Album war damals tatsächlich wegen Valerians provozierender Nacktheit verboten worden – obwohl ihm ein paar der strategisch platzierten Antiquitäten einen gewissen Anstand verliehen.

Es war eine äußerst seltene Schallplatte.

»Heilige Scheiße«, murmelte Tinkler.

»Der Barde hätte es nicht besser ausdrücken können«, sagte Nevada. Und dann mit Blick zu mir: »Du hast nicht geglaubt, dass es der echte McCoy ist, oder?«

Das stimmte. »Na ja …«

»Zweifle nie an mir«, sagte sie selbstzufrieden, nahm das Cover und studierte es. »Haben die Katzen Valerian tatsächlich geliebt? Sie muss sie jedenfalls geliebt haben, wenn sie so viele hatte. Sofern es ihre waren.«

Ich trat zu ihr. »Nein, es war nur ein Shooting. Der Titel ist ein Wortspiel.«

»Was?«

»Der Titel.«

»Weil?«

»Weil alle Katzen tatsächlich Valeriana officinalis lieben, bekannter als Baldrian. Das ist ein Kraut, Katzen lieben es. Sie sind ganz verrückt danach. Rollen darin herum. Schnüffeln daran. Fressen es.«

»Wie Katzenminze?«, fragte Nevada.

»Ganz genau. Katzenminze und Baldrian sind die Lieblingsdrogen von Katzen.«

»Wo wir von Drogen sprechen«, sagte Tinkler, »habt ihr das gesehen?« Er wühlte in seiner Tasche und zog ein Stück Zeitung heraus. Es war die Titelseite eines Boulevardblattes mit der fetten Überschrift STINKY STANMER KOKAINORGIE.

»Mein Gott«, sagte Nevada.

»Er ist jetzt dein Nachbar, weißt du?«, sagte Tinkler.

»Wie?«

»Er ist im Kloster.« Er nickte in Richtung Fenster und dem dahinterliegenden Garten. Direkt auf der anderen Seite unserer Gartenmauer befanden sich die eleganten weißen Zinnen von Londons führendem Entzugs- und Rehabilitationszentrum für Promis.

Nevada ließ das Zeitungsblatt sinken, das sie aufmerksam studiert hatte. »Was? Wieso ist er nicht hinter Gittern?«

Tinkler schüttelte den Kopf. »Bestimmt war niemand scharf darauf, sich von einem winselnden Promi das Gefängnissystem durcheinanderbringen zu lassen.«

»Kann ich verstehen«, sagte ich.

»Schade«, bemerkte Nevada. »Ich dachte, er müsste in den Knast.« Sie ging auf und ab. Irgendwie nahm sie das persönlich. »Du meine Güte. Er ist gleich nebenan? Wir werden ihn nie los.« Sie warf mir einen Blick zu. »Er wird dauernd hier herumlungern, wird versuchen, mich anzubaggern und deine Ideen zu stehlen und überhaupt allen auf die Nerven gehen.«

Tinkler grinste. »Blitzmeldung. Wenn er auch nur einen Fuß vor die Klosteranlage setzt, ist der Deal hinfällig, und er kommt in ein echtes Hochsicherheitsgefängnis, mit vielen furchteinflößenden Zellengenossen und einer Menge Vergewaltigungen unter der Dusche.«

Das rückte die Sache in ein anderes Licht. Nevada blieb stehen und strahlte.

»Ich mag das Wort ›hinfällig‹«, sagte sie.

* * *

Pflichtgemäß schrieb ich am nächsten Tag einen Beitrag über den epochalen Fund von All the Cats Love Valerian, den ich allein Nevada zugutehielt. Als ich damit fertig war, drückte ich auf Senden, der Blogeintrag war abrufbar. Ich hörte Nevada in der Küche zustimmend grunzen, als sie ihn auf ihrem iPhone las. Dann zog sie im Flur ihre Jacke an und spähte durch die Tür zu mir herein.

»An wem zweifelst du nicht?«

»An dir.«

»Ganz genau.« Sie warf mir eine Kusshand zu und ging. Auf Shopping-Tour. In Second-Hand-Läden.

In gewisser Weise war es meine Schuld.

Ich hatte Nevada mit der Welt der Second-Hand-Läden bekannt gemacht. Auf der Suche nach seltenen Schallplatten wühlte ich regelmäßig sämtliche Läden im Südwesten Londons durch. Das war mein Business. Während sie mich bei dieser Suche oft begleitet hatte, fand sie raus, dass die Geschäfte keine muffigen Höhlen parasitären Insektenlebens waren, für die sie sie gehalten hatte, sondern, ganz im Gegenteil, Fundgruben für spektakuläre Haute-Couture-Teile zu niedrigen Preisen.

Seit wir zusammenlebten, hatte sie sich angewöhnt, sie regelmäßig zu durchstöbern, und kam stets mit einem Paar Louboutin-Sneaker oder einem unglaublich preisgünstigen Lendenschurz oder so was von Dolce & Gabbana zurück.

Ich setzte mich wieder an meinen Blog und ergänzte ein paar Details. Ich fügte ein bisschen Hintergrundinformation über Valerian hinzu, erwähnte jedoch nicht ihr trauriges Schicksal oder was mit ihrem kleinen Sohn passiert war.

Darüber war schon genug geschrieben worden.

Das Telefon klingelte. Es war Nevada. »Es ist Herbst«, sagte sie.

»Ja. Ich hab’s bemerkt.«

»Das ist ideal.«

»Was meinst du?«

»Ich habe eine Idee. Für Tinklers Geburtstagsparty.«

»Ach ja?«, sagte ich. »Verrat sie mir.«

»Es ist eine Überraschung. Auch für dich. Und Clean Head. Für alle.«

»Ich glaube, Tinkler verkraftet nicht noch mehr Überraschungen«, sagte ich.

Ich erwachte mitten in der Nacht, und sofort war mir klar, dass etwas nicht stimmte. Fanny maunzte vorwurfsvoll, als ich mich unter der Decke bewegte. Die kleine Opportunistin hatte sich wegen meiner Körperwärme an mich geschmiegt. Was seltsam war, weil sie seit kurzem Nevada den Vorzug gab. Ich rollte herum und streckte die Hand nach Nevada aus.

Sie war nicht da.

Ich tastete nach dem Wecker und hielt ihn mir dicht genug vors Gesicht, um die Uhrzeit entziffern zu können. Drei Uhr morgens. Eine gottvergessene Stunde, zu der man jede Hoffnung fahren lässt, die Alten und Schwachen sterben und einem – augenscheinlich – die Freundin abhandenkommt.

Ich rief nach ihr, warf einen Blick ins Badezimmer und in die Küche, aber ich spürte, dass die Wohnung leer war. Ich zog mir etwas an, während ich mit wachsender Besorgnis in den anderen Räumen nachsah.

Auf einmal wusste ich, wo sie war. Ich ging wieder in die Küche, zog die Vorhänge zurück und spähte hinaus. Da war sie. Ich zog mir Schuhe und Schal an – es war eine kalte Nacht – und ging zu ihr.

Mein bescheidenes Heim ist Teil einer Gruppe quadratisch angelegter Gebäude auf der leicht erhöhten Betonplattform einer weitläufigen Siedlung, wie die Councils von London sie errichten ließen, bevor sie es besser wussten. In den letzten Jahren war ziemlich viel daran gemacht worden, und was jetzt eine großflächige Senke in direkter Nachbarschaft war, voller niedriger Gebäude, Tannen und gewundener Fußwege, war früher einmal ein Parkplatz und darunter die gigantische Heizungsanlage der Siedlung gewesen. Über ein Geländer am Rand konnte man in die Senke hinabblicken.

Genau dort stand Nevada jetzt.

Ich ging zu ihr. Sie sah mich an, nahm meine Hand und blickte wieder hinunter. »Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie. Ihre Hand war kalt.

»Böse Träume?«

»Böse Erinnerungen.«

Die Senke wurde von hohen Straßenlaternen beleuchtet. Ihr gelbes Licht verlieh ihr einen gespenstischen Schimmer. Licht, in dem eine Blutlache pechschwarz aussah.

Natürlich war dort unten kein Blut mehr. Es war längst beseitigt worden – in einem seltenen Anfall von Gründlichkeit der örtlichen Behörden.

Ich blickte Nevada an und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass sie Angst hatte. Das war in zweifacher Hinsicht seltsam, weil sie damals nicht nur keine Angst gehabt, sondern auch unser beider Leben gerettet hatte.

Als ich später an diesen Moment zurückdachte, überlegte ich, ob es vielleicht nicht die Vergangenheit war, die ihr Angst gemacht hatte, nicht das, was geschehen war, sondern das, was noch kommen sollte …

Ich spürte, wie sie zitterte, und schlang meine Arme um sie.

»Keine Sorge«, sagte ich und zog sie fest an mich. »Es ist vorbei.«

Ich wusste nicht, dass es gerade erst anfing.

2

Dinnerparty

Während ich mich üblicherweise ums Kochen kümmerte, bereitete Nevada manchmal aufwendige Nachspeisen für besondere Anlässe zu, und wie sich herausstellte, sollte das die Überraschung für das Geburtstagskind sein.

»Ich backe eine Torte. Eine Torte für Tinkler«, verkündete sie eines Morgens. Dann kaufte sie nach und nach die Zutaten dafür ein, was sich aus irgendwelchen Gründen als langwierig erwies und heimlich stattfand. Doch schließlich war sie bereit, mit dem Backen loszulegen.

Die Torte, die unter strikter Geheimhaltung zubereitet wurde, roch zum Zeitpunkt, als unsere Gäste zu Tinklers Party eintrafen, gut. Als Erstes erschien eine elegante Gestalt im weißen Trenchcoat mit einer Flasche Wein unter dem einen und einer Papprolle unter dem anderen Arm.

Dabei handelte es sich um Agatha DuBois-Kanes, besser bekannt unter ihrem inzwischen vertrauten Spitznamen Clean Head. Wir hatten sie, eine wunderschöne Frau mit kaffeebrauner Hautfarbe und rasiertem Schädel, in ihrer Eigenschaft als Taxifahrerin kennengelernt, als sie eins der berühmten schwarzen Taxis der Londoner Flotte fuhr. Diesmal hatte sie sich von einer Kollegin herfahren lassen. Heute Abend würde sie sich nicht ans Steuer setzen.

»Ich hab vor, mich ordentlich volllaufen zu lassen«, sagte sie, als sie mich zur Begrüßung küsste und mir die Weinflasche reichte. Sie roch gut. Ich wollte sie gerade nach der Papprolle fragen, als es schon wieder klingelte. Es war das Geburtstagskind persönlich, herausgeputzt mit einem Blazer von Hugo Boss, einem Pullover von Paul Smith und Hosen von Woodhouse, die Nevada bei diversen Rundgängen durch Second-Hand-Läden ergattert hatte. Es überraschte mich nicht, dass er sich in Schale geworfen hatte. Tinkler hegte eine unerwiderte Leidenschaft für Clean Head.

Das Abendessen verlief gut, wie üblich begann ich mich zu entspannen, nachdem die anderen gierig ihre Teller leergeputzt hatten und um Nachschlag baten. »Was ist das für ein Käse?«, fragte Tinkler. »Ich glaube, ich habe eine widernatürliche Zuneigung zu ihm entwickelt. Kann ein Mensch einen Käse lieben? Würden wir zusammen glücklich werden?«

Ich suchte die Platten für den Abend aus. Hauptsächlich Jazz und brasilianische Musik – ein paarmal auch brasilianischen Jazz –, Nevada sorgte dafür, dass die Weingläser stets gefüllt waren. Wir machten zwischen Hauptgang und Dessert eine kleine Pause, damit Clean Head Tinkler ihr Geburtstagsgeschenk überreichen konnte, wobei es sich natürlich um die Papprolle handelte.

Sie enthielt ein Poster der Rolling Stones. Ein stimmungsvolles Schwarzweißbild, entstanden in ihrer rotzigen Hochphase, ungefähr neunzehnhundertachtundsechzig – der Ära von Beggars Banquet –, aufgenommen von dem großartigen Rockfotografen David Wedgbury. Es war das ideale Geschenk für Tinkler und so sorgfältig ausgewählt, dass ich mich fragte, ob seine Leidenschaft tatsächlich unerwidert war.

Dann brachte Nevada feierlich die Torte herein.

Es war ein wunderschöner Mandelkuchen mit glasierten Aprikosenscheiben obendrauf. Er war außerdem ungewöhnlich dick. »Das ist eine ganz spezielle Torte«, sagte sie affektiert, als sie sie auf den Tisch stellte.

»Du bist auch eine ganz spezielle Torte«, sagte Tinkler. Wofür er unterm Tisch einen Tritt bekam.

»Sie ist deshalb speziell«, fuhr Nevada fort, während sie nach dem Tortenmesser griff, »weil sie eine ganz besondere Zutat enthält.« Mit der Klinge zog sie vorsichtig eine Linie in die glasierten Früchte und zerteilte die Torte in zwei Hälften. Dann noch eine Linie in die andere Richtung, wodurch ein perfektes Kreuz entstand.

Die Torte war jetzt in Viertel unterteilt. Dann machte sie sich daran, diese jeweils weiter zu unterteilen. Als sie damit fertig war, bestand die Torte aus sechzehn Stücken.

Vorsichtig schob sie die Spitze des Tortenmessers unter eins der schmalen Stücke und begann es herauszulösen. »Das soll wohl ein Scherz sein«, sagte ich. Nevada lächelte triumphierend, als sie das erste Ministück Torte heraushob. »Tinkler wird sich mit einer so kleinen Portion nicht begnügen«, sagte ich.

Sie reichte Tinkler den Teller. »Es ist ein wirklich spezielles Dessert.«

»Hast du schon gesagt.« Ich betrachtete das Tortenstück. Ich konnte jetzt das Innere der Torte sehen, unter den gelblichen Aprikosenscheiben gab es eine seltsam braune Schicht. »Das sind aber keine Beeren.«

»Wer hat was von Beeren gesagt?« Nevada lächelte mich an.

»Oder Äpfel. Du hast auf dem Anger keine Beeren gepflückt. Oder Äpfel.« Ich blickte sie an. Schließlich fiel der Groschen. »Du hast Pilze gesammelt.«

Magic Mushrooms.

»Richtig.« Sie hob ein zweites Tortenstück heraus und legte es auf einen Teller. »Es ist genau die richtige Jahreszeit dafür. Und der Anger war übersät davon.« Sie reichte den Teller Clean Head, die ihn erwartungsvoll entgegennahm.

»So eine Party ist das also«, sagte sie und nahm ihre Gabel.

Tinkler betrachtete das schmale Stück halluzinogenen Nachtischs. Ohne etwas zu sagen, was seltsam war.

»Aus diesem Grund kann ich euch nur dieses winzige Sechzehntel auftun«, sagte Nevada. »Ein größeres Stück würde in eurem Schädel Kabumm machen.« Sie nahm ein drittes Stück, legte es auf einen Teller und reichte es mir.

Ich blickte sie an. Die braune Schicht unter den Aprikosen war befremdlich. Um nicht zu sagen bedrohlich. »Es wird ein wenig seltsam schmecken, oder?«

»Magic Mushrooms schmecken grässlich«, sagte Tinkler mit kennerischer Miene.

»Keine Sorge, Jungs«, sagte Nevada. »Ich habe sie über Nacht in Zucker und Cointreau eingelegt.« Sie servierte sich selbst ein Stück. Clean Head hatte bereits angefangen, genüsslich kleine Happen davon zu verschlingen.

»Entschuldigt«, sagte Tinkler, der verdrießlich seine Gabel hob, »aber ich muss euch etwas gestehen.«

»Sag jetzt nicht, dass du sie nicht essen kannst«, sagte Nevada.

»Nein, natürlich werde ich sie essen. Aber sie wird keine Wirkung auf mich haben.«

»Willst du ein größeres Stück?«

»Nein.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Das bringt auch nichts.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe Pilze genommen, ich habe Ecstasy genommen, ich habe Acid genommen …«

»Tinkler, du stilles Wasser!«

»Aber ich bin immun gegen halluzinogene Drogen.«

»Bei Tantchen Nevadas handgepflückten Pilzen ist das sicher ganz anders.«

Tinkler zuckte mit den Achseln. »Ich bin mir da nicht so sicher.« Er stach ein Stück von der Torte ab und begann zu essen. Ich betrachtete meines misstrauisch.

Nicht, dass ich das Dessert, das meine Liebste für mich mit ihren geschickten Händen zubereitet hatte, nicht essen wollte. Nur halte ich nicht viel davon, meine Hirnchemie zu manipulieren – außer mit vielen Tassen hochwertigem Kaffee.

Ich drehte meine Gabel zwischen den Fingern, um Zeit zu schinden.

Das Kuchenstück starrte mich an und machte auf dem knallroten Teller einen ziemlich lebendigen Eindruck. Es sah absolut tödlich aus. Ich überlegte, ob ich es unter irgendeinem Vorwand in die Küche schmuggeln und in den Abfalleimer befördern konnte, ohne dass es jemand merkte. Ich blickte über den Tisch zu Nevada.

Sie kannte mich viel zu gut.

Jetzt sah sie mir aufmerksam dabei zu, wie ich die Gabel in die Torte stach und den ersten Bissen nahm. Es war viel besser, als ich erwartet hatte. Richtig gut. Man schmeckte die Pilze heraus, jedenfalls ein bisschen, sie gaben dem ganzen lediglich ein leichtes Fleischaroma.

Ich stellte fest, dass ich Gefallen daran fand, und verputzte den Rest, während mir Nevada beifällig zusah. Ich redete mir ein, dass die Pilze vielleicht wie bei Tinkler wirkungslos blieben.

* * *

Ich weiß nicht, wie lange die Drogen brauchten, um ihre Wirkung zu entfalten, denn als Erstes verlor ich das Zeitgefühl. Eigentlich war es die Wahrnehmung von Zeit, die sich veränderte. Anstatt gleichmäßig zu verstreichen, verging sie in einzelnen Intervallen. Es war wie der Unterschied zwischen einer Sinuswelle und einer Rechteckwelle. Die einzelnen Augenblicke kamen einem wie Schnappschüsse vor.

Wie sehr ich abgedriftet war, merkte ich erst, als ich mit der Katze zu reden begann.

Fanny war durch die Katzenklappe hereingekommen, sichtbar neugierig auf das, was mit den Erwachsenen da vor sich ging. Sie setzte sich auf den Boden, ich ging zu ihr hinüber und kniete mich neben sie. Meine Hand fühlte sich an, als würde sie in ihrem warmen Fell versinken, als ich ihren Rücken streichelte. Wie lebendige Glühfäden, die leicht unter Strom standen, konnte ich jedes einzelne Haar spüren.

Sie legte den Kopf schräg und blickte zu mir hoch. Ihre Augen waren riesig. Ich betrachtete sie, sie glichen der grüngelben Landschaft eines exotischen Planeten. Ich konnte Einzelheiten erkennen – Meere, Berge, Täler.

Und dann begann sie mit mir zu sprechen.

Fanny sprach mit sanfter, gedämpfter und hallender Stimme. Es war eine wirklich angenehme Stimme, wenn auch überhaupt nicht weiblich. Doch dann wurde mir klar, dass eine Katze nicht unbedingt wie eine Menschenfrau klingen musste.

Ich hatte noch nie darüber nachgedacht.

Natürlich bewegte sie ihre Lippen beim Reden nicht. Katzen haben sowieso ganz andere Lippen. Die Worte tauchten einfach über meinem Kopf auf, irgendwo oberhalb meiner pochenden Stirnmitte.

»Weißt du noch, wenn du ein Bad nimmst und ich an der Wanne kratze, weil ich aus den Wasserhähnen trinken will?«

»Ja?«

»Na ja, manchmal steigst du nicht gleich heraus, und ich kann nicht hineinklettern und trinken.«

»So einfach ist das nicht«, erwiderte ich. »Ich meine, ich steige so schnell wie möglich heraus, aber ich muss noch immer den Stöpsel ziehen und das Wasser ablaufen lassen. Du kannst nicht einfach hineinklettern, während noch Badewasser drin ist. Du würdest nasse Pfoten bekommen.«

»Na ja, es ist trotzdem nicht schön«, sagte Fanny.

»Wie wär’s damit«, schlug ich vor. »Während du wartest, könnte ich das Wasser am Waschbecken aufdrehen und dich hinaufheben, damit du davon trinken kannst.«

Ein Prusten und unterdrücktes Lachen waren zu hören, und ich blickte hinauf zu Tinkler, der sich über mich gebeugt hatte und eine lange Papprolle an seine Lippen hielt. Es war die Rolle für sein Rolling-Stones-Poster, in die er jetzt hineinsprach. Die Röhre verlieh seiner Stimme einen unheimlichen, hallenden Klang.

Fanny hatte also gar nicht mit mir gesprochen.

Es war ein grausamer Scherz gewesen.

»Du drogenumnebelter Schwachkopf«, sagte ich.

Ich hatte gelesen, dass es bei Magic Mushrooms eigentlich keine Nachwirkungen geben dürfte. Doch wie so oft bei Drogenpropaganda: weit gefehlt.

Oder zumindest die Ausnahme von der Regel.

Am nächsten Tag fühlte ich mich, als wäre mein Schädelinneres sandgestrahlt worden. Und die Welt schien ein seltsamer Ort zu sein. Alles sah normal aus, nur leicht verrückt, so als wären über Nacht Größe und Gestalt vertrauter Gegenstände fast unmerklich verändert worden. Ich schaffte es, mir meinen Morgenkaffee zuzubereiten, indem ich seltsam überirdische Gerätschaften dazu benutzte. Nevada gesellte sich zu mir, schnitt rohes Aberdeen-Angus-Rindfleisch mit der Küchenschere klein und servierte es den Katzen zum Frühstück. Sie ging zur Spüle, um die Schere abzuwaschen, hielt jedoch auf einmal inne und stieß einen kleinen Schrei aus.

Ich trat zu ihr. Sie starrte auf die Tortenplatte aus Edelstahl, auf der sich gestern Abend noch drei Stücke der Magic-Mushroom-Torte befunden hatten.

Bis auf ein paar Krümel war sie verschwunden.

Nevada wirbelte herum und blickte zu Turk und Fanny, die eifrig ihr Frühstück verschlangen. »Denkst du, die Katzen …?«

»Nur wenn sie Gabel und Teller benutzt und anschließend in die Spüle gestellt haben.«

»Tinkler«, sagten wir gleichzeitig.

Nevada rief ihn an. Sobald er dran war, sagte sie: »Tinkler, wie konntest du nur?« Sie legte die Hand über das Telefon und sah mich an. »Er sagt, er sei hungrig gewesen

Sie sprach wieder ins Telefon. »Hungrig oder nicht, dein Kopf wird explodieren.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ist bereits explodiert. Was? Herrgott.« Sie hörte ziemlich lange zu und beendete dann das Gespräch.

»Als er gestern nach Hause kam, hat anscheinend sein Chef vor der Tür auf ihn gewartet. Es gab wohl ein Problem bei der Arbeit. Irgendeine furchtbar wichtige Datenbank hat nicht mehr funktioniert oder so etwas, und sie brauchten Tinkler, damit er das Problem behebt. Also hat er das gemacht.«

»Echt jetzt? Er hat es behoben? Nachdem er die ganzen Pilze gegessen hat?«

»Ja. Anscheinend hat er das so toll hingekriegt, dass ihm sein Chef ein Champagnerfrühstück ausgeben will.«

»Er scheint wirklich immun zu sein«, sagte ich.

Ich nahm meinen Kaffee mit nach draußen in den Garten. Dort saß ich, als es klingelte.

Ich hörte, wie Nevada zur Tür ging. Eine männliche und eine weibliche Stimme – nicht Nevadas – waren zu hören. Zwei Leute an der Tür. Das konnten nur die Zeugen Jehovas oder eine ähnlich eifrige Sekte sein, die an Haustüren missionierte. Ich seufzte und erhob mich von meinem Stuhl. Fanny, die darunter in meinem Schatten Schutz gefunden hatte, gab einen leisen Angstschrei von sich, als sie plötzlich auf so grausame Weise den direkten Strahlen der brutalen britischen Herbstsonne ausgesetzt war.

Ich ging hinein, um Nevada beizustehen. Es war irgendwie unfair, sie mit diesen Leuten allein zu lassen. Und es bestand stets die Möglichkeit, dass sie sie auf einen Kaffee oder so hereinbitten würde.

Als ich durch die Tür trat, hörte ich eine Frauenstimme leise und zögerlich sagen: »Wohnt hier der Vinyl-Detektiv?«

Und eine barsche Männerstimme, die keinen Widerspruch duldete. »Wir wollen ihn anheuern.«

3

Der Klient

Nevada hatte unsere Besucher tatsächlich hereingebeten. Sie stand bei ihnen im Wohnzimmer, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. Das Paar sah definitiv nicht nach Zeugen Jehovas aus.

Der Mann hatte einen dichten Schopf hellgrauer, fast weißer Haare, die mit narzisstischer Sorgfalt gekämmt und getrimmt waren. Seine Augenbrauen waren dunkle, breite Kohlestriche über durchdringenden graublauen Augen. Er schien bei guter Gesundheit und von athletischer Konstitution zu sein. Bestimmt war er bereits um die sechzig, doch er wirkte kraftvoll und energisch.

Er war ziemlich herausgeputzt und, wie Nevada später anmerken würde, angezogen, als hätte er eine Filiale von L. L. Bean geplündert.

Die Frau war ein völlig anderer Typ. Sie war vielleicht zwanzig Jahre jünger als er, ziemlich dick und kompakt. Obwohl sie kleiner war, musste sie um einiges mehr wiegen. Ihr großes, freundliches Gesicht war wie ein Zylinder, an dem diverse Gegenstände befestigt waren – abstehende Ohren und eine Stupsnase. Sie trug graurosa Trainingshosen und ein passendes Sweatshirt mit dem großgedruckten Slogan: YOUR SUSHI’S GETTING COLD.

Die Trainingshose war sauber, aber ziemlich zerknittert, und mit ihren braunen Haaren, die in wirren Strähnen herabhingen, machte sie einen ungepflegten Eindruck, der in scharfem Kontrast zu dem adretten Erscheinungsbild des Mannes stand. Seine Schuhe waren aus braunem Lackleder und spiegelblank poliert. Sie trug weiße Trainingsschuhe, die neu, jedoch bereits schmutzig und zerschrammt waren, mit lose baumelnden Schnürsenkeln, wie es gerade Mode war.

Er war konservativ und förmlich; sie war schlampig.

Das Einzige, was die beiden gemeinsam hatten, waren die Gürteltaschen, die beide um den Bauch trugen. Nicht gerade ein modisches Statement.

Es war das gleiche knallrote Modell.

Als ich hereinkam, sah mich der Mann an. Er sagte: »Mein Name ist John Drummond, und das ist Lucille Tegmark.« Er gab uns nicht die Hand und schien letztgenannten Gegenstand nur widerwillig zu tragen, so als wollte er mit der Frau nur ungern in Verbindung gebracht werden.

Sie lächelte mich an. »Lucy«, korrigierte sie ihn. Sie hatte einen leichten Akzent, den ich nicht gleich bestimmen konnte. Er hingegen war definitiv Amerikaner.

Nevada lächelte mich an. »Sie möchten zu dir.«

»Ich weiß. Ich hab’s gehört.«

»Sie wollen dich anheuern.« Als Nevada das sagte, bemerkte ich, wie sich der Mann zu winden begann, als würde er es sich noch einmal überlegen wollen, nachdem er den berühmten Detektiv zu Gesicht bekommen hatte. Mir war das nur recht.

»Bitte setzen Sie sich«, sagte Nevada, als wäre sie auf einmal die Gastgeberin des Jahres. Und bevor ich sie daran hindern konnte, fügte sie hinzu: »Ich bringe Ihnen Kaffee. Wir haben gerade welchen gemacht. Er ist ganz frisch.«

»Jedenfalls riecht er gut«, sagte der Mann, als würde er bei einer Verhandlung in einem Punkt widerstrebend nachgeben. »Danke.«

»Ich danke Ihnen«, sagte die Frau und ließ sich umgehend in einen unserer bequemen Ledersessel sinken. Der Mann warf ihr einen entrüsteten Blick zu und ging zum Esstisch, wo er einen der Holzstühle zurückzog und sich setzte. Der unbequemste Platz im Raum. Selbst zu diesem frühen Zeitpunkt unserer Bekanntschaft kam mir das absolut charakteristisch für den Kerl vor.

Ich fragte mich, ob L. L. Bean Büßerhemden herstellte. Falls ja, war er mit Sicherheit ihr bester Kunde.

Er saß leicht nach hinten gelehnt auf dem Stuhl, als wollte er sich körperlich so weit wie möglich von der Frau entfernen.

Und von mir.

Fanny war mit mir aus dem Garten hereingekommen und hatte sich augenblicklich versteckt. Jetzt kam sie wieder unter dem nicht besetzten Sessel hervor, wo sie in Deckung gegangen war für den Fall, dass sich unsere Besucher zum Beispiel als Mossad-Killerkommando herausstellen sollten, das sich in der Adresse geirrt hatte. Sie ging zu dem Mann hinüber und schnüffelte an seinen Schuhen.

Ohne sie anzusehen, streckte er seine kräftige, behaarte Hand aus und krault sie am Kinn. Fanny, diese verräterische kleine Schlampe, genoss die Aufmerksamkeit. Währenddessen klapperte Nevada in der Küche mit den Tassen.

»Danke für Ihre Gastfreundschaft«, sagte die Frau – Lucy Tegmark.

»Kein Problem.«

»Wir hatten kein Frühstück«, sagte Lucy und warf dem Mann, der sie ignorierte, einen Blick zu. »Wir hatten es eilig, hierherzukommen.« Sie blickte ihn noch immer an, er ignorierte sie weiterhin. »Ich freue mich schon auf das Mittagessen.«

»Es gibt ein Restaurant in der Nähe, das wir empfehlen können.« Nevada beugte sich aus der Küchentür. Sie lächelte mich an. »Nicht wahr, Liebling?« In den Händen hielt sie ein Tablett, das wahrscheinlich die letzten zehn Jahre an der Küchenwand gelehnt hatte. Sie rieb es mit einem Schwamm ab, bemüht, den uralten Staub zu entfernen.

Anscheinend war sie zu dem Schluss gekommen, dass unsere Gäste das Format besaßen, es als Beleidigung anzusehen, ihre Getränke nicht auf einem ordentlichen Tablett serviert zu bekommen.

»Danke«, sagte Lucy. »Das wäre wunderbar.« Sie blickte zu dem Mann, der ihre Stichworte noch immer ignorierte. »Und danke für den Kaffee«, sagte sie. »Riecht er nicht köstlich?«

Und ob er das tat, denn es war die Kanne, die ich gerade zubereitet hatte, gutes Zeug – von meinem schwindenden Vorrat an Kopi-Luwak-Bohnen von den Philippinen. Das eine Mal in meinem Leben, als ich für kurze Zeit extrem wohlhabend gewesen war, hatte ich mir ein paar Luxusartikel gegönnt, bevor die Kacke am Dampfen und das Geld, wie die abstrakte Fantasie, die es im Grunde darstellte, wieder verschwunden war.

Einer dieser Luxusartikel waren diese Kaffeebohnen gewesen. Hätte man mir die Gelegenheit gegeben, wäre ich in die Küche geschlüpft, hätte den restlichen Kaffee in eine Thermoskanne gefüllt und sie irgendwo versteckt, bis unsere Gäste, denen ich einen Instantkaffee gebrüht hätte, wieder verschwunden waren. Wenn ich es mir recht überlegte, war wahrscheinlich auch das Glas mit biologisch angebautem ecuadorianischem, im Schatten gezogenem, gefriergetrocknetem Instantkaffee mehr, als sie verdienten. Vor allem der Mann nicht, der mich jetzt mit seinen kleinen, kalten blauen Augen ansah, als wollte er den Taugenichts taxieren, der ich offenkundig war.

»Wir sind wegen der Schallplatte hier. All the Cats Love Valerian.« Aus seinem strengen Mund klang der groteske Titel irgendwie seltsam. »Wir haben auf Ihrer Webseite davon gelesen.«

»Ihrem Blog«, korrigierte ihn Lucy Tegmark.

»Tut mir leid«, sagte ich wahnsinnig erleichtert – vielleicht würden wir die beiden sogar ohne Kaffee wieder loswerden, »aber die Platte steht nicht zum Verkauf.« Obwohl der Gedanke an den Ausdruck empörten Entsetzens auf Tinklers Gesicht es beinahe wert gewesen wäre. »Wir haben sie einem Freund geschenkt.«

»Wir wollen die Platte nicht kaufen«, sagte der Mann. »Wir wollen mit Ihnen darüber reden.«

»Über die Platte?«

»Über Valerian«, sagte die Frau.

»Valerie Anne«, sagte der Mann nachdrücklich. »Valerie Anne Drummond.« Eine Alarmglocke schrillte leise in meinem Hinterkopf, es war ein Gefühl, etwas übersehen oder etwas Wichtiges vergessen zu haben.

»Über sie und ihren Sohn«, sagte Lucy. Der Mann warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. Er konnte ihr nicht entgangen sein, doch sie lächelte selbstzufrieden, als hätte sie es erwartet und genösse es sogar. Sie saß einfach da und ließ seine Feindseligkeit über sich ergehen.

»Der kleine Junge, der verschwunden ist?«

»Damit müssen wir uns nicht beschäftigen«, sagte der Mann knapp.

Lucy lachte leise. »Der Colonel hier glaubt wohl, dass wir Sie engagieren können, ohne Ihnen zu sagen, worum es genau geht.« Ruckartig drehte sie sich zu mir. »Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte sie schlicht.

Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber, damit sie sich nicht verrenken musste. »Sprechen wir von Valerians Sohn, dem kleinen Jungen, der gleich nach ihrem Tod verschwunden ist?« Es war damals eine Cause célèbre gewesen, ein riesiger Skandal.

»Oder direkt davor.« Sie blickte mich an. »Niemand weiß genau, was passiert ist. Deshalb wollen wir Sie anheuern.« Sie blickte zu dem Mann. »Falls Ihnen der Colonel hier umfassende Instruktionen erteilt.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Sie wandte sich erneut an mich. »Wir möchten, dass Sie sein Verschwinden untersuchen.«

»Ich suche nach Vinyl«, sagte ich. »Nach seltenen Schallplatten. Nicht nach vermissten Personen.«

In diesem Moment kam Nevada, die von der Küche aus gelauscht hatte, geschäftig mit vier Tassen, Zuckerdose und kleinem Milchkännchen herein, die auf dem frisch abgewaschenen und glänzenden Tablett standen. Das Kaffeeeinschenken glich einem zeremoniellen Akt. Der Colonel warf ihr ein aufrichtiges Lächeln zu, als sie die Tasse vor ihn hinstellte. Er beugte sich darüber und schnupperte genüsslich und anerkennend. »Riecht großartig«, grunzte er. Er sah zu ihr hoch, und sein unterkühlter Blick schien einen Moment lang aufzutauen. Nevada strahlte vor Stolz, als hätte das Kaffeemachen irgendetwas mit ihr zu tun.

»Ich suche nach Schallplatten«, wiederholte ich, bevor es zu gemütlich wurde. »Ich suche nicht nach …«

Nevada kam zu mir und ergriff meine Hand. »Hören wir uns einfach an, was die Herrschaften zu sagen haben, Schätzchen.« Ihr Tonfall war zuckersüß und eindringlich. Sie richtete ihre großen Augen auf mich, und obwohl ich wusste, dass sie mich manipulierte, war ich Wachs in ihren Händen. Ich seufzte und lehnte mich in meinem Sessel zurück.

»In Ordnung«, sagte ich. »Erzählen Sie.« Nevada lächelte erfreut und hockte sich auf die Sofalehne, Beine übereinandergeschlagen, das Kinn aufmerksam in die Hand gestützt.

Ich seufzte und blickte Lucy Tegmark an. »Erzählen Sie mir alles«, wiederholte ich.

Plötzlich wirkte sie unsicher. »Wo soll ich anfangen?«

»Erklären Sie uns doch zuerst mal, was Sie überhaupt damit zu tun haben? Sie und der Colonel.«

»Nennen Sie mich nicht so«, sagte der Mann.

»Bitte?«

»Der Colonel. Ich bin kein Colonel. Ich bin nicht in der Armee und war es auch nie.«

Lucy lächelte mich an. »Das stimmt. Aber er redet dauernd über seinen Vater. Wie der alte Colonel dies oder jenes handhaben würde – alles, vom richtigen Buttern einer Scheibe Toast bis zur bewährten Methode, sich nicht von einem Taxifahrer übers Ohr hauen zu lassen. Vermutlich ein Spitzname. Und er ist hängengeblieben.«

»Ist er nicht«, sagte der Mann trotzig.

»Wie nennt man Sie dann?«, fragte ich.

»John«, sagte Lucy fröhlich. »Johnny. Jack.«

»Mr Drummond«, sagte der Mann gepresst.

Drummond.

Die leise Alarmglocke in meinem Kopf wurde auf einmal lauter. Jetzt wusste ich, weshalb sie schrillte. Ich hätte zwei und zwei viel früher zusammengezählt, wenn mein Gehirn nicht von der Magic-Mushroom-Torte benebelt gewesen wäre, mit der mich meine Liebste vergiftet hatte. Ich musste ihn angestarrt haben, denn auf einmal richtete er seine kalten kleinen Augen direkt auf mich. Ich suchte in seinem Gesicht nach irgendeiner Ähnlichkeit. Ich konnte keine entdecken, doch das spielte keine Rolle. »Sie sind ein Verwandter«, sagte ich.

»Sie war meine Schwester.«

Nevada beugte sich nach vorn. »Valerian war Ihre Schwester?«, fragte sie.

»Valerie Anne. Ja.«