Über Mary Ann Fox

Mary Ann Fox, Jahrgang 1978, verdiente sich ihr erstes Geld in einer Gärtnerei. Der Liebe wegen ging sie nach dem Studium nach England und arbeitete dort als Fremdenführerin, als Deutschlehrerin und dann im Botanischen Garten in Oxford. Sie arbeitet und lebt mittlerweile in Hamburg-Altona.

Informationen zum Buch

Tulpen, Tee und tödliche Gefahr.

Frühling in Cornwall: Eigentlich könnte alles so schön sein, denn Sam, der Freund der jungen Gärtnerin Mags Blake, ist endlich zu ihr gezogen. Doch ein anonymer Brief, in dem behauptet wird, der Tod ihres Vaters sei kein Unfall gewesen, lässt ihr keine Ruhe. Hatte sein Tod etwas mit seinem letzten Gartenprojekt zu tun? Als Hinweise auf Mags’ Mutter auftauchen, die vor Jahren spurlos verschwunden ist, hat plötzlich auch die Polizei Interesse an dem Fall. Und schon bald schwebt Mags selbst in Gefahr.

Ein Kriminalfall voller Südengland-Flair und liebenswerter Figuren

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Mary Ann Fox

Je länger die Nacht

Ein Cornwall-Krimi

Inhaltsübersicht

Über Mary Ann Fox

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Impressum

6808.tif

Iwanu ga hana –

Not speaking is the flower.

Japanisches Sprichwort

Das Leder des Lenkrads fühlte sich unter Mags’ Händen kalt an. Eiskalt. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, durch die Windschutzscheibe die Straße zu erkennen. Der Regen peitschte auf das Dach des Autos. Die Scheibenwischer schafften es kaum, gegen die Wassermassen anzukommen.

Vor ihr lag die Straße wie ein graues gewundenes Band. Sie sollte abbremsen, langsamer werden. Doch stattdessen drückte sie das Gaspedal noch weiter durch. Sie erhaschte einen Blick auf die halbhohen Steinmauern, die viel zu nah am Seitenfenster vorbeirauschten.

Atmen! Ein und Aus.

Ihre Augen wanderten zum Rückspiegel. War da etwas hinter ihr? Doch im Spiegel sah sie einfach nur Schwärze.

Sie merkte, wie das Auto ins Rutschen geriet. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad noch fester.

Bremsen, Mags!

Doch statt zu bremsen, drückte sie das Gaspedal nun bis zum Anschlag durch. Das Auto raste auf die nächste Kurve zu. Zu schnell, viel zu schnell.

Sie blickte erneut in den Rückspiegel. Doch statt der Dunkelheit sah sie ein Augenpaar. Die Augen ihres Vaters.

»Mags!«

Der Wagen brach aus.

»Mags!«

Sie spürte eine Hand an ihrer Schulter und ließ das Lenkrad los. Atmete tief ein – und öffnete die Augen.

1

Es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Traum hatte. Nicht das erste Mal seit jenem Abend im Februar, dass sie nachts aufgewacht war, die Hände verkrampft. Schweißgebadet. Voller Angst.

Aber neu war, dass sie nun nicht allein im Dunkeln lag und hoffte, ihren Herzschlag beruhigen zu können, die Furcht und den Schrecken loszuwerden.

Denn heute hatte Sams Stimme sie aus dem Wagen herausgeholt, hatte ihr den Weg zurück in ihr Schlafzimmer gezeigt, hatte sie sanft beruhigt. Und als sie die Augen geöffnet hatte, aufgewacht war aus dem Alptraum, der seit drei Monaten ihre Nächte begleitete, hatte sie in seine sanften Augen geblickt. Als er sie umarmte, brachen die Gefühle der letzten Wochen über sie herein, und sie weinte, wie sie lange nicht mehr geweint hatte.

Der Garten war so früh am Morgen in das erste klare Aprillicht getaucht. Die Klippen der cornischen Südküste lagen unweit des alten Cottage, und der leichte Wind brachte warme Seeluft und eine erste Ahnung des bevorstehenden Mais mit sich.

Mags war wie immer früh aufgewacht und mit einer Tasse Tee in der Hand aus dem umgebauten Gartenhaus getreten, das seit drei Jahren ihr Zuhause war. Sam lag noch auf dem nachträglich eingezogenen Boden im Bett und würde sicherlich erst in ein, zwei Stunden verschlafen auf der Treppe zum großen Wohnraum auftauchen.

Sam Hawthorn, Historiker aus Oxford und nun seit mehr als einem halben Jahr ihr Freund. Sie lächelte und überlegte, ob es mit fast dreißig noch angemessen war, den Mann an ihrer Seite als ihren Freund zu bezeichnen. Vielleicht sollte sie besser von Partner sprechen? Wie sprach Sam über sie? Was hatte er seinen Kollegen und Studenten in Oxford erzählt? Dass er für ein Jahr nach Cornwall gehen würde, eine Pause nehmen würde, um bei seiner Freundin zu sein? Dass er in das kleine Dorf Rosehaven ziehen würde, um dort in Ruhe sein schon lange begonnenes Buch über die Geschichte Cornwalls abzuschließen? Hatte er die Gärtnerin, deren umgebauter Gartenschuppen für diese Zeit sein Zuhause sein würde, erwähnt?

Mags und Sam hatten eine Zeit lang versucht, zwischen Cornwall und Oxford zu pendeln. Mit geringem Erfolg. Wahrscheinlich war es vor allem ihre Schuld. Sie fühlte sich in Oxford und in Sams akademischer Welt nicht wohl – und hatte mit, zugegebenermaßen ziemlich übersteigerter, Eifersucht auf eine seiner Kolleginnen reagiert.

Sie war abgehauen und hatte ihn stehenlassen. Doch zu ihrer Überraschung war er zu ihr gekommen, hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mit ihr zusammen sein zu können. Das war neu für sie. Und sehr schön. Und vielleicht ein ganz klein bisschen erschreckend.

Sie zuckte mit den Schultern. Hauptsache, er war hier. Sie hatte keine Zeit und Energie mehr, sich über alles und jeden so viele Gedanken zu machen.

Mags führte ein erfolgreiches Unternehmen, den Evergreen Gartenservice. Spezialisiert auf die Gestaltung und Pflege der Gärten der vielen Ferienhäuser in Cornwall, hatte sie sich einen soliden Ruf aufgebaut. Und seit sie zusammen mit dem berühmten und exzentrischen Landschaftsarchitekten Gulliver einen Entwurf in einem Wettbewerb eingereicht hatte, war ihr Auftragsbuch auf Monate hinaus voll. Die zusätzliche Publicity durch den Mord und die Verbrechen, die den Wettbewerb begleitet hatten, war sicherlich auch nicht unschuldig daran.

Mags wurde rot bei dem Gedanken an den Artikel ihres Freundes Bob Conner, der als Redakteur für die Cornwall Gazette arbeitete. Bob, ein alter Schulfreund mit einer Menge Humor und einem Gespür für Schlagzeilen, hatte Mags zum Mittelpunkt eines Artikels gemacht. Und sie dabei als eine Art Hobbyermittlerin à la Miss Marple dargestellt. Es hatte ihn einige Runden im örtlichen Pub gekostet, bis Mags bereit gewesen war, wieder mit ihm zu sprechen.

Sie blickte über den liebevoll angelegten Rosengarten und versuchte zu lächeln. Es war Ende April in Cornwall, die ersten Kirschen blühten, und ihr Freund war gerade zu ihr gezogen und würde die nächsten Monate an ihrer Seite und nicht Hunderte Kilometer entfernt in Oxford sein. Sie war angekommen, zuhause. An dem für sie schönsten Ort der Welt. Umgeben von Menschen, die sie liebte und die wiederum ihr Liebe entgegenbrachten.

Und anstatt all das zu genießen, anstatt nach den schweren letzten Jahren das Glück mit offenen Armen zu begrüßen, stand sie am Rand des Gartens, blickte auf die glatte dunkelblaue See und wollte vor Wut und Erschöpfung einfach nur noch schreien.

Auslöser für ihre schlechte Stimmung war ein Foto gewesen, ein gottverdammtes Foto in einem Umschlag, den jemand hinter den Scheibenwischer ihres Transporters geklemmt hatte, während sie mit Sam auf dem Valentinsball des Dorfes glücklich getanzt hatte. Ein Foto, das alles verändert hatte.

Das Bild lag inzwischen zusammen mit dem Umschlag sicher in der Asservatenkammer des Polizeihauptquartiers in Truro. Aber Mags brauchte es auch nicht in den Händen zu halten, sie brauchte keine Kopie. Sie würde das Bild nie vergessen:

Eine verlassene Straße, ein Baum und vor dem Baum einer blutenden Wunde gleich das Wrack eines roten Wagens. Der Wagen, in dem ihr Vater gestorben war. Quer über das Bild hatte jemand in großen Buchstaben nur ein Wort geschrieben: MORD.

Die Polizei hatte bestätigt, was Mags von Anfang an geahnt hatte. Das Foto war aufgenommen worden, bevor jemand die Rettungsdienste verständigt hatte.

Maximilian Blake war an einem verregneten Aprilabend in einer Kurve ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geknallt. Es dauerte nach Angaben der Polizei wahrscheinlich mehr als eine halbe Stunde, bevor eine Autofahrerin das Wrack sah und den Notarzt alarmierte. Zu spät für ihren Vater.

Er musste auf dem Rückweg von einem Auftrag gewesen sein. Sein roter Pick-up beladen mit Gartenwerkzeugen, er selbst in seiner grünen Gärtnerhose. Mags schluckte bei der Erinnerung an das von ihrem Vater heißgeliebte und so oft geflickte Kleidungsstück. Sie hätte es ihm gerne für die Beerdigung angezogen. Als Totenhemd. Aber als sie die Hose mit großen braunen Flecken in einer durchsichtigen Plastiktüte vor sich hatte liegen sehen, hatte sie den Gedanken verworfen. Die Flecken waren keine Erde, sondern Blut. Vielleicht war das der Moment gewesen, in dem sie endgültig verstanden hatte, dass ihr Vater tot war. Dass sie ihn nie wieder neben sich haben würde.

Woher er in jener Nacht gekommen war, hatten sie nie herausgefunden.

Es gab keine Rechnung, der Auftrag konnte also noch nicht abgeschlossen gewesen sein. Und ebenso wenig hatte Mags in den Gartenbüchern einen Hinweis gefunden. Maximilian Blake hatte wie so viele Gärtner vor ihm handschriftliche Berichte über seine Projekte geführt. Versehen mit kleinen Skizzen, Grundrissen, Pflanzplänen oder auch eingeklebten Fotos, dokumentierten sie die Entwicklung des eigenen Gartens oder – wie bei ihrem Vater – der von ihm angelegten Gärten.

Aber auch in den dicken, in dunkles Leder gebundenen Büchern hatte Mags keinen Hinweis auf sein letztes Projekt gefunden. Es war weder für ihn noch für sie, die sie die Tradition der Gartenbücher mit ihrer eigenen Firma fortführte, ungewöhnlich, erst am Ende eines Auftrags mit den Aufzeichnungen zu beginnen. Zu wertvoll war die Zeit im Frühling und Sommer, um sie am Schreibtisch zu verbringen.

Mags sammelte oft auf vielen kleinen Zetteln alle Informationen und saß dann im Winter abends an ihrem Schreibtisch, um ihre Gartenbücher zu aktualisieren. Sie liebte diese Art des Jahresrückblicks und war stolz auf die Arbeit, die sie geleistet hatte.

Woran ihr Vater gearbeitet hatte, bevor er gestorben war, würde sie wohl nie erfahren. Niemand hatte sich gemeldet und nachgefragt, warum er nicht wiedergekommen war.

Das Foto hatte nun alles wieder hervorgeholt. Die Frage, wo ihr Vater vor seinem Unfall gewesen war, hatte ein ganz anderes Gewicht bekommen.

Was war bloß passiert?

Weder Mags noch die Polizei hatten bisher herausgefunden, wer dieses Foto vor fünf Jahren gemacht hatte. Und wer es dann unter die Scheibenwischer von Mags’ Auto geschoben hatte. Und warum.

Auf dem Foto stand nur das eine Wort. Der Umschlag trug ihren Namen, und in der linken oberen Ecke stand als Absender: A. Friend.

Ein Freund.

Bis zu diesem Abend waren Mags und die Polizei davon ausgegangen, dass Maximilian Blakes Tod ein tragischer Unfall gewesen war. Ein Mann, der bekannt dafür gewesen war, gern schnell zu fahren, eine regennasse Fahrbahn, ein einziger unaufmerksamer Moment. Der eigenwillige und aufbrausende Maximilian Blake, tödlich verunglückt bei einem Unfall, während seine einzige Tochter mit ihrem untreuen Ehemann unglücklich in Amerika lebte. Sie und ihr Vater hatten sich im Streit getrennt, waren auseinandergegangen, nachdem mehr als nur ein böses Wort gefallen war. Mags’ Vater hatte die Zukunft seiner Tochter immer fest vor Augen gehabt. Als Gärtnerin an seiner Seite, bereit, irgendwann seine Gartenfirma zu übernehmen. Er war ohne den geringsten Zweifel davon ausgegangen, dass seine kleine Tochter in seine Fußstapfen treten würde. Doch der Graben zwischen ihnen war mit der Zeit tiefer und tiefer geworden. Mags hatte eigene Pläne, stieß damit aber nur auf Unverständnis und Spott. Und als sie Arthur, ihren Mann, kennenlernte und ihr Vater ihn ablehnte, war es zu spät. Mags hatte sich endgültig von ihm abgewendet, Arthur geheiratet und war mit ihm kurz darauf nach Amerika gezogen.

Der große Maximilian Blake hatte seine Tochter verloren. Die beiden hatten nicht nur die Form und Farbe ihrer Augen geteilt, sondern auch eine viel zu große Menge Stolz und Starrsinn, und so sprachen sie über Jahre kein Wort miteinander.

Die Nachricht von seinem Unfalltod hatte Mags in Amerika erreicht – und ihr das Herz gebrochen. Als zwei Jahre später auch ihr Mann bei einem Unfall gestorben war und sie auf einem riesigen Berg Schulden und ebenso viel Wut hatte sitzenlassen, war sie nach Cornwall zurückgekommen. Sie hatte hart gearbeitet und es nach und nach geschafft, mit sich und dem, was passiert war, ihren Frieden zu machen. Sie hatte Sam kennen- und lieben gelernt. Es machte den Eindruck, als hätte sie nach so vielen Jahren endlich so etwas wie Glück gefunden.

Doch all das sah nun plötzlich ganz anders aus.

Mags’ Blake straffte die Schulter und wischte sich die Tränen aus den Augen. Entschlossen drehte sie sich um und ging zurück zu Sam.

Es gab viel zu tun.

***

Die große Schleiereule verbrachte nun schon den siebten Sommer unter dem Dach der ehemaligen Schleuse. Sie wusste, dass sie ihren sicheren und warmen Schlafplatz den Menschen verdankte, die ihr eine Öffnung unter dem First und dahinter eine Kammer aus Holz gebaut hatten. An ihrem Fuß spürte sie den kleinen Metallring, den sie schon nahezu ihr ganzes Leben lang trug. Ein Schutz vielleicht. Vielleicht ein Erkennungszeichen. Sie konnte damit leben.

Das Flussdelta vor der Scheune bot genug Nahrung. Noch besser war es, wenn sich eine Maus auf das kurze Gras des grünen Rasens neben den weißen Bauten verirrte. Ohne Deckung war sie eine leichte Beute.

In jenem Winter, in dem es so viel geschneit hatte, dass der Schnee höher lag als sonst, hatte sie kaum Beute gefunden. Die Menschen hatten Nahrung für sie ausgelegt. Sie war hungrig genug, dicht heranzukommen und sich beobachten zu lassen. Ohne Nahrung wäre sie gestorben. Die Menschen blieben still stehen, versuchten nicht, sie zu jagen, sondern schienen sie sogar zu bewundern.

Stolz und ohne Angst flog sie seitdem zum Ende jeder Jagd in einem tiefen Bogen an den Gebäuden vorbei und suchte auf diese Weise den Kontakt zu den Menschen. Der nächste kalte Winter konnte jederzeit kommen.

Doch dieses Jahr raschelte es in den Gräsern und Blättern, das Fiepen unzähliger Stimmen war zu hören. Ein Mäusejahr. Sie hatte schon einen Gefährten gewählt, der auf der anderen Seite des Flusses flog. Das Nest war bereit.

In der Dämmerung hatte sich ein Siebenschläfer zu weit hinausgewagt, angelockt von der ersten warmen Frühlingsluft.

Lautlos war sie über ihn gekommen – und hatte ihn mit ihren Krallen gefasst.

Ein schneller Tod.

2

»Mags, Liebes. Wir sind da.«

Miss Claras Stimme riss Mags aus ihren Gedanken. Mr Smith, Rosehavens Automechaniker, hatte den liebevoll gepflegten Reisebus aus den fünfziger Jahren auf einen schmalen geschotterten Parkplatz gefahren und zum Stehen gebracht.

Der Bus war Mr Smith’ Baby – und er kümmerte sich hingebungsvoll um ihn. Miss Clara hatte ihr einmal erzählt, dass Mr Smith und seine vor einigen Jahren an Krebs verstorbene Ehefrau ihre Hochzeitsreise in diesem Bus gemacht hatten. Smith hatte ihn nach dem Tod seiner Frau aufgespürt und in unzähligen Arbeitsstunden restauriert. Er sprach immer davon, eines Tages die alte Reise zu wiederholen – doch bis es so weit war, fuhr er regelmäßig die Vereine Rosehavens zu ihren Ausflügen oder chauffierte Hochzeitsgesellschaften und Touristen durch die Landschaft rund um den Helford River. Heute hatten sich die Damen des Gartenvereins auf die geblümten Bänke gesetzt.

»Haben Sie noch mal mit Inspector Johnson gesprochen?«

Miss Clara hob die Augenbrauen, und Mags bereute ihre Frage sofort. Miss Clara war früher Postmeisterin von Rosehaven gewesen und musste nicht viele Worte machen, um sich Gehör zu verschaffen. Nicht umsonst engagierte sie sich in so ziemlich jedem Planungskomitee des Dorfes. Man hörte auf das, was Miss Clara zu sagen hatte.

»Ach Mags. Nicht heute, ja? Du hast mir versprochen, dass du heute einmal Pause machst. Nur einen Tag lang.«

Mags nickte. Sie wusste zwar immer noch nicht, wie es Miss Clara gelungen war, sie zu dem Ausflug mit Rosehavens Gartenverein zu überreden, aber es gehörte zu einem der vielen Talente der energischen kleinen Frau, Menschen dazu zu bringen, die Dinge zu tun, die sie für richtig hielt. Außerdem war Mags im letzten Jahr zur Vorsitzenden gewählt worden. Es gab viele Dinge, die sie lieber tat, als die Vereinssitzungen zu leiten und die Planungen für die verschiedenen Feste und vor allem den großen Herbstmarkt in Rosehaven zu übernehmen. Aber sie wusste auch um die Bedeutung der Vereine und ehrenamtlichen Gruppierungen – wie der Feuerwehr, der Landfrauen oder der historischen Gesellschaft – für einen kleinen Ort wie Rosehaven. Sie waren Seele und Rückgrat einer Dorfgemeinschaft. Und da Mags Rosehaven liebte und Teil der Dorfgemeinschaft sein wollte, übernahm sie ihren Teil der Aufgaben. Und so war sie dann heute Morgen zusammen mit einer Handvoll Frauen, von denen sie die meisten seit Kindheitstagen kannte, in den historischen Reisebus von Mr Smith gestiegen, der gutgelaunt auf dem Fahrersitz saß, und hatte sich ihrem Schicksal ergeben. Ein Ausflug in den Osten Cornwalls. Dort lag das Watergate Museum of Fine Arts. Mags war noch nie dort gewesen. Für einen Ausflug mit der Schule war die Anfahrt von fast zwei Stunden wohl zu lang gewesen. Und auch bei den vielen Ausflügen, die sie als Kind mit ihrem Vater unternommen hatte, hatten sie das Museum nie besichtigt.

Miss Clara legte ihre Hand besänftigend auf Mags’ Schulter und holte sie aus ihren Gedanken zurück.

»Außerdem ist Eric für diese Woche auf einer Fortbildung in London. Sobald er wieder hier ist, wird er dir sicherlich alles Neue berichten.«

Mags zuckte erneut zusammen. Eric. Inspector Johnson, der wortkarge und wenig sensible leitende Beamte der Mordkommission, der seit ihrem ersten Zusammentreffen in Shelter Gardens eifrig bemüht gewesen war, Mags möglichst unsanft aus seinem Weg – und seinen Fällen – zu schubsen, war seit einigen Monaten der Mann an Miss Claras Seite. Mags wusste, wie albern es war, dass sie immer noch solche Schwierigkeiten hatte, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Aber Miss Clara war für sie, deren Mutter sie verlassen hatte, als sie noch ein Baby gewesen war, insgeheim schon etwas wie eine Mutter gewesen. Und welche Tochter wollte sich schon ihre Mutter zusammen mit einem neuen Mann vorstellen? Sicherlich nicht mit Inspector Johnson. Mags gegenüber hatte er zumindest nie auch nur einen Hauch von Liebenswürdigkeit ausgestrahlt. Aber Miss Clara schien zu wissen, was sie tat.

Mags beeilte sich, den Damen, die erstaunlich flink aus dem Bus geklettert waren, hinterherzueilen.

Das Watergate Museum of Fine Arts ragte in der flachen Landschaft vor ihnen auf. Mags kniff die Augen zusammen. Vom Parkplatz aus sah es so aus, als hätte ein Riese einen Haufen Würfel auf der Wiese verstreut. Die weißen Quader ragten in unterschiedlichen Höhen vor ihr auf und waren nur durch schmale, überdachte Wege miteinander verbunden. Es gab keine Gärten, nur flach gehaltene Wiesen, die die weißen Mauern umgaben. Mags ließ ihren Blick nachdenklich über die Gebäude wandern. Irgendetwas stimmte an diesen Würfeln nicht. Sie brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, was sie so stutzen ließ: Es gab keine Fenster. Kein einziges Fenster!

Fragend blickte Mags zu Miss Clara, die den Ausflug organisiert hatte, den Damen nun ihre Eintrittskarten und einen Flyer reichte und dann einige Worte sagte.

»Wir haben die Karten vom Museum geschenkt bekommen. Eine sehr nette Geste. In dem Begleitbrief stand, dass es zurzeit eine Ausstellung gibt, bei der es vor allem um Gartenkunst gehen soll. Sie haben alle einen Flyer mit den Informationen zur Ausstellung bekommen. Wir treffen uns in zwei Stunden in dem kleinen Café im Haus F.«

Miss Clara deutete auf eines der Gebäude, und Mags sah, dass auf jedem Haus neben der Tür ein Buchstabe stand.

»Ich wünsche Ihnen viel Freude – allein die Gärten sind die Fahrt schon wert gewesen, das verspreche ich Ihnen.«

Mags blickte erstaunt auf und ließ den Blick schweifen. Um sie herum sah sie nur eine glatte Rasenfläche, mehr nicht. Gärten?

3

Licht, strahlend helles Tageslicht. Mags blinzelte. Sie war durch die schwere Holztür in das Gebäude mit dem Buchstaben B getreten, und anstatt in einem stickigen Innenraum mit elektrischer Beleuchtung hatte sie eine neue Welt betreten.

Kein Wunder, dass die Würfel keine Fenster brauchten.

Verzaubert ließ sie den Raum auf sich wirken. Der gesamte Würfel war ein einziger großer Raum, der sich um einen Innenhof anordnete. Bewegliche Fensterscheiben trennten fast unsichtbar die Ausstellungsfläche vom Innenhof. Und die Bilder an den Wänden spiegelten wider, was hinter den Glasscheiben war.

Mags holte tief Luft und trat einen Schritt vor.

Sie war wahrlich keine Expertin für japanische Gärten, aber auch ohne Fachwissen war dies eine der schönsten Anlagen, die sie je gesehen hatte. Auf den wenigen Quadratmetern Fläche verströmten zwei große Felsblöcke, ein über Jahre in seine Form geschnittener Zierahorn und die Blumen in den aus grobem Ton geformten Pflanzschalen eine Schönheit und Harmonie, die sie sofort berührten.

Die Außenwelt, die Wiesen, die Besucher um sie herum waren verschwunden, und sie tauchte ein in das Bild, das der Gärtner über Jahre erschaffen hatte. Ihr Blick wanderte über den kiesbedeckten Boden, an den Pflanzen entlang über den schmalen Ast des Ahorns bis hin zu seinen im Mailicht fast noch durchsichtigen Blättern und blieb schließlich an einem der Felsen hängen, dessen Seite von einer Ader aus rötlichem Gestein durchzogen war.

Eine Berührung am Arm holte sie zurück. Miss Clara, die sich zu ihr gestellt hatte, lehnte sich sanft an Mags’ Schulter.

»Es ist wunderschön.«

Miss Clara nickte.

»Sind die anderen Innenhöfe auch so?«

»Ja. Bis auf den Hof in Haus E, dort ist das Café untergebracht. Die anderen vier Innenhöfe sind alle von demselben Gärtner angelegt worden. Ich war vor fünfunddreißig Jahren zum ersten Mal hier im Museum, und es waren die ersten japanischen Gärten, die ich gesehen habe. Also abgesehen von den, sagen wir mal vorsichtig, groben Versuchen der einheimischen Gärtner, Ecken ihrer Anlagen in so etwas zu verwandeln. Aber es ist nicht das Gleiche, oder?«

»Nein. Das hier ist – berührend?«

Mags suchte nach dem richtigen Wort und hob dann immer noch sprachlos die Hände.

»Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ich habe Bücher mit Fotografien, aber das hier …«

Sie riss ihren Blick los, blickte sich um und lachte.

»So langsam verstehe ich, warum wir hierher eingeladen wurden.«

Miss Claras Augen leuchteten.

»Liebes, du hast gerade zum ersten Mal seit Wochen wieder gelacht.«

Mags schloss kurz die Augen.

»War es so schlimm?«

»Nein. Und ja. Ich meine, du hast alles Recht der Welt, wütend und ängstlich zu sein.«

Mags war sich nicht sicher, was sie von dieser Einleitung halten sollte.

»Aber du hast ebenso das Recht, weiterzuleben. Weiterzumachen. Und dabei auch zu lachen wie eben.«

Die kleine Frau vor Mags drehte sich ganz zu ihr um und blickte ihr in die Augen.

»Es ist sogar deine Pflicht zu lachen, du schuldest es dir selbst, glücklich zu sein. Ach Maggie. Wer auch immer das Foto gemacht hat – und egal, ob er die Wahrheit sagt oder lügt –, lass nicht zu, dass dieser Mensch dein Leben zerstört.«

Mags wollte etwas erwidern, doch sie konnte nur nicken. Miss Clara hatte sie Maggie genannt. So wie es früher ihr Vater und seither niemand mehr getan hatte.

Zusammen gingen sie weiter in den Raum hinein.

»Im Flyer steht, dass die Ausstellung Zeichnungen von Pflanzen und Gärten vereinen will, unabhängig von Entstehungszeit und Entstehungsort.«