Über Ralf Schmidt

Ralf Schmidt wurde 1968 in Hayingen auf der Schwäbischen Alb geboren. Nach verschiedenen Stationen in der Kraftfahrzeugbranche ist er heute bei einem großen Automobilkonzern tätig. Er lebt mit seiner Frau in der Nähe von Ingolstadt, wo er an seinen Harley-Davidsons und seinen Romanen arbeitet.

Informationen zum Buch

Zwei Menschen müssen sterben – doch was verbindet sie?

Als eine alte Frau in ihrem Keller scheinbar ohne Motiv getötet wird, steht Hauptkommissar Jan Schröder zunächst vor einem Rätsel. Kurz darauf wird ein Arzt in seinem Haus erschossen. Beide Opfer haben eines gemeinsam: Sie haben vor vielen Jahren zur gleichen Zeit im selben Krankenhaus gearbeitet. Liegt darin der Zusammenhang der beiden Morde? Schröder stößt auf eine Mauer des Schweigens – aber er findet heraus, dass an beiden Tatorten ein junger Mann gesehen worden ist.

Hauptkommissar Jan Schröder – ein ehemaliger verdeckter Ermittler mit eigenwilligen Methoden.

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Ralf Schmidt

Tod und Täuschung

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Ralf Schmidt

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Danksagung

Impressum

Für meine herzensgute Mutter

Prolog

Es blitzte zweimal rot auf, als die Limousine ungebremst über die Ampelkreuzung jagte.

»Wir sind gleich da. Bleib wach!«

Trotz des halsbrecherischen Tempos warf er seiner Frau unablässig hektische Blicke zu. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Der blutige Fleck auf dem Beifahrersitz wurde immer größer.

Er hatte sie noch gewarnt, doch sie war nicht davon abzubringen gewesen, in diesen verdammten Pferdestall zu gehen.

Mit quietschenden Reifen kam der schwarze Mercedes schlingernd vor dem Eingang der Notaufnahme zum Stehen. Der Fahrer sprang heraus und rannte ins Gebäude.

Zwei Krankenschwestern sahen von der Rezeption zu ihm herüber. Mit hilflos ausgebreiteten Armen stand er da. »Schnell! Meine Frau, sie stirbt! Rufen Sie einen Arzt«, schrie er und rannte wieder hinaus.

Im Regen kauerte der Mann sich neben den Beifahrersitz und streichelte zärtlich die Wange seiner Frau. »Jetzt helfen sie dir. Hörst du?«

Sein Blick wanderte über ihren dicken Bauch. Mit festem Griff hielt er ihre Hand und schloss die Augen. »Ich mache das wieder gut, das verspreche ich dir«, sagte er entschlossen.

»Gehen Sie zur Seite«, rief jemand hinter ihm.

Ein Arzt und zwei Rettungsassistenten stürmten mit einer Fahrtrage auf ihn zu. Sogleich ließ der Mann die Hand der Frau los. Er lehnte sich an die Seite des Wagens und schaute mit zusammengepressten Lippen zu, wie die Ärzte seine reglose Frau aus dem Auto hoben und auf die bereitstehende Trage legten.

Während ein Sanitäter die Trage schob, prüfte ein Arzt mit skeptischer Miene die Vitalfunktionen seiner Frau. Der Mann sah erstarrt zu, wie sie durch die automatische Tür ins Gebäude geschoben wurde. Dann schüttelte er sich kurz, schlug mit aller Kraft die Tür des Wagens zu, atmete tief durch und rannte hinterher.

»Warten Sie! Sie dürfen da nicht hinein«, rief ihm eine Krankenschwester hinterher, als er an ihr vorbei in den Notfallbereich hetzte.

»Verdammt«, schimpfte sie und setzte dem Mann nach. »Bitte kommen Sie mit mir. Sie müssen draußen warten. Sie können hier nichts für sie tun. Bitte«, redete die Schwester auf den Mann ein, nachdem sie ihn eingeholt hatte.

Er drehte sich um und sah sie eisig an. »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe.«

Erschrocken wich die Krankenpflegerin einen Schritt zurück. »Es tut mir leid. Bitte. Sie können nicht mit hinein. Sie braucht jetzt die volle Aufmerksamkeit der Ärzte.«

Der Mann musterte die Schwester kurz, dann nickte er kaum merklich und folgte ihr Richtung Ausgang. An einem breiten Fenster verharrte er und blickte in die Säuglingsstation. »Das Kind war ihr größter Wunsch«, sagte er. »Sie hat so lange darauf gewartet.«

»Es tut mir leid. Die Ärzte werden alles versuchen, das verspreche ich Ihnen.«

Wieder nickte er und beobachtete eine Pflegekraft, die gerade dabei war, winzigen Zwillingen Strampler anzuziehen und sie in ein Bettchen zu legen. »Sie wollte unbedingt ein Kind.«

»Kommen Sie. Setzen Sie sich bitte draußen hin. Ja?«

Ein trauriges Lächeln zeichnete sich auf den Lippen des Mannes ab, als er den Blick von den kleinen, noch ganz geröteten Körpern abwandte und der Krankenschwester folgte.

Im Wartebereich blieb er regungslos sitzen, bis nach endlos langer Zeit ein Arzt herauskam. Sofort sprang er auf und ging ihm entgegen. »Wie geht es ihr, Doktor?«

»Kommen Sie bitte mit.«

»Was ist mit meiner Frau? Geht es ihr gut? Was ist mit dem Baby? Reden Sie schon, Doktor!«

Der Arzt verharrte kurz. »Bitte kommen Sie mit, dann erkläre ich Ihnen alles«, sagte er und schritt voran.

Der Mann folgte ihm in ein Büro. Im Vorbeigehen blickte der Arzt schnell in einen kleinen Spiegel über dem Waschbecken und schob flink eine Locke zurück an ihren Platz. Bedächtig setzte er sich an den großen Schreibtisch und rückte pingelig eine lederne Schreibunterlage zurecht, ehe er sich seinem Gegenüber widmete.

»Sie …«, begann der Doktor, machte eine kurze Pause und schien nachzudenken.

»Nun sagen Sie mir bitte endlich, wie es meiner Frau geht!«

Der Arzt nickte und rutschte etwas näher an den Schreibtisch heran. »Es geht ihr gut. Sie wird es überleben. Aber sie hat ihr Kind verloren, es tut mir leid. Wir konnten nichts mehr tun, es war bereits bei der Einlieferung tot.«

Der Mann ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und starrte zur Decke. »Es war ihr sehnlichster Wunsch«, sagte er dann und blickte den Arzt verbittert an. »Dieses Baby war das Wichtigste für sie. Sie freute sich so sehr darauf. Nichts anderes hat sie mehr interessiert. Sie hatte nur noch den Jungen im Kopf. Zu Hause ist bereits alles eingerichtet. Das Kind hat jetzt schon mehr, als es jemals brauchen wird.«

»Es tut mir leid. Aber verstehen Sie doch bitte …«

»Ich verstehe das, sicher, aber meine Frau wird es nicht verstehen, Doktor«, sagte der Mann verdrossen und beugte sich etwas vor, nahm ein Modellauto vom Schreibtisch und ließ sich mit erstarrter Miene zurück in den Lehnstuhl sinken. Nachdenklich drehte er den silbernen Porsche in seinen Händen.

»Ihre Frau bekommt starke Medikamente. Das wird es ihr leichter machen, alles gut zu überstehen«, sagte der Arzt und musterte ihn unbehaglich, wie er mit starrem Blick das Auto in Händen hielt.

»Sie wird daran zugrunde gehen«, sagte der Mann und blickte kurz auf.

»Es tut mir leid«, stammelte der Arzt.

»Sie müssen ihr helfen«, sagte der Mann und schien in die Ferne zu starren.

Der Arzt verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wir tun alles, was in unserer Macht steht, damit es Ihrer Frau bald besser geht.«

Der Mann nickte geistesabwesend. »Schönes Modell, sogar mit einer Fahrgestellnummer«, sagte der Mann gedankenverloren und strich mit dem Finger über das kleine goldene Schild, in das eine Nummer eingraviert war. »Ihrer?«, fragte er und hob das Modellauto hoch.

»Ahm, ja, es … Man bekommt es bei der Auslieferung des Wagens«, sagte der Arzt und kratzte sich nervös am Hals.

»Teures Spielzeug, so ein Porsche«, sagte der Mann mit ernster Miene.

»Ja. Sie … Ich verstehe, wie sehr Sie diese Nachricht treffen muss, aber manchmal liegt die Entscheidung über Leben und Tod nicht in unserer Macht. Bitte, Sie …«

Mit eisigem Blick beugte sich der Mann zum Arzt hinüber und stellte das Modellauto vor ihm auf den Schreibtisch. Mit dem Finger klopfte er ein paarmal darauf, dann zeigte er auf den Arzt. »Sie werden ihr helfen, Doktor. Ich sage Ihnen, wie.«

1
30 Jahre später

Hauptkommissar Jan Schröder blickte auf, als die Bürotür geöffnet wurde.

»Was meinst du? Dorthin oder eher dort drüben, wo die Bunten sind?«, fragte er und hob die Zeichnung seiner Tochter Lea hoch.

Kai Lorenz blieb im Türrahmen stehen, atmete tief ein und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Hier sieht es bald aus wie in einem Kindergarten mit all den gemalten Bildern deiner Tochter.«

Schröder ließ den Blick durch das Büro wandern. »Ich finde, sie haben etwas Beruhigendes. Du nicht?«

Lorenz sah sich um. »Ja, vielleicht. Sie malt ja gut. Verdammt, du solltest den Job als Kripochef endlich annehmen. Nowak wartet nicht mehr lange auf eine Zusage. Dann bekommst du ein eigenes Büro.«

»Höre ich da etwa Kritik?«

Lorenz schüttelte abermals den Kopf und kam auf seinen Kollegen zu. »Hier«, sagte er und streckte Schröder einen Zettel entgegen. »Ist gerade reingekommen.«

Der Hauptkommissar legte die Stirn in Falten. »Eine ältere Frau?«, fragte er und sah zu seinem Kollegen auf.

»Komm, wir fahren hin. Spusi und der ganze Trupp sind schon dort.«

»Julia auch?«

»Ja. Die Valentini wartet bestimmt schon auf dich«, sagte Lorenz und ging zur Tür.

Schröder folgte seinem Kollegen und dachte dabei an ihren zurückliegenden Fall, bei dem er die Staatsanwältin kennengelernt hatte. Damals war ein Pfarrer ermordet worden. Er hoffte insgeheim, dieser Fall würde keine so hohen Wellen schlagen wie der letzte.

Lorenz parkte den Wagen an der Straße vor dem Gebäude, wo bereits verschiedene Einsatzfahrzeuge standen.

Schröder stieg aus, verharrte einen Moment und ging zu einer steinernen Treppe, die zum Eingang des alten Hauses führte, neben dem ein Streifenpolizist Stellung bezogen hatte.

»Morgen. Wo ist es?«, fragte er den Polizisten.

»Da lang. Die seitliche Kellertreppe runter«, sagte der Mann und machte eine Kopfbewegung in diese Richtung.

Schröder betrat den hell ausgeleuchteten Kellerraum, in dem eine ganze Heerschar von Menschen stumm vor sich hin arbeitete. Der Tatortfotograf machte unentwegt Bilder. Ein Beamter in einem weißen Einweg-Hygieneanzug stellte Täfelchen mit Nummern auf. Ein weiterer Kriminaltechniker kniete neben dem Opfer.

Die Staatsanwältin stand mit vor der Brust verschränkten Armen am Rande der Szenerie und beobachtete das Geschehen.

»Hallo Julia«, begrüßte Schröder sie, woraufhin sie sich lächelnd umdrehte.

»Hi Jan. Hallo Kai. Auch schon da, die Herren?«

»Du weißt doch, ich brauche meinen Schönheitsschlaf«, flüsterte Schröder und trat näher an Valentini heran.

»Nicht hier. Du weißt, was wir vereinbart haben.«

»Okay. Was gibt es?«, fragte er und deutete zur Leiche.

»Eine Frau, Helga Schwarz, achtundsechzig Jahre alt. Der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen. Ich habe die Gerichtsmedizin gerufen. Kommt bitte mit«, sagte die Staatsanwältin.

Sie blieben vor dem Opfer stehen und sahen dem Rechtsmediziner einen Moment zu.

»Ich bin so weit fertig mit ihr. Bericht bekommt ihr morgen früh, wenn sie zeitig in der Gerichtsmedizin eintrifft. Der Leichenwagen ist noch nicht da«, sagte er und schaute kurz zur Tür.

»Okay«, begann Schröder. »Was können Sie uns jetzt schon sagen?«

Der Mediziner sah auf das Opfer. »Einschussloch am Rücken. Hier«, begann er und zeigte auf eine kleine rote Stelle zwischen den Schulterblättern. »Keine Austrittswunde. Der Schuss war nicht aufgesetzt, aber ich vermute, aus nächster Distanz«, führte der Rechtsmediziner aus.

»Wann?«, fragte Schröder knapp.

Der Mann wiegte den Kopf hin und her. »Vor etwa zwei bis drei Stunden. Es ist in diesem alten Kellergemäuer recht kühl.«

Schröder sah auf die Uhr. 8 Uhr 30. Er wandte sich Valentini zu. »Wer hat sie gefunden?«

Die Staatsanwältin deutete mit dem Kopf zum Ausgang. »Der Nachbar dort drüben hat heute Morgen die offene Kellertür gesehen und daraufhin die Polizei angerufen.«

»Wegen einer offenen Kellertür?«

Valentini zuckte nur mit den Schultern.

Schröder sah zur Tür und legte die Stirn in Falten. »Hat schon jemand mit ihm gesprochen?«

»Die Polizeibeamten waren kurz bei ihm, haben ihn aber nicht vernommen. Ich sagte ihnen, dass wir damit warten, bis der ermittelnde Hauptkommissar da sei.«

Schröder blickte sich im Keller um. Es war einer dieser alten gemauerten Keller, die immer etwas feucht rochen. An den Wänden waren Regale angebracht, die mit Kisten vollgestellt waren, aus denen hier und da Kleinwerkzeug oder anderes für den Garten benötigte Material herausschaute. An einer Seite standen verschiedene Gartengeräte wie Rechen, Laubbesen und Schaufeln. Hätte der Mörder vorgehabt, die Leiche verschwinden zu lassen, hätte er hier das nötige Werkzeug vorgefunden, dachte Schröder.

»Okay. Ich geh mal rüber zu ihm. Kai, du befragst die anderen Nachbarn«, sagte er zu seinem Kollegen, der an der Kellertür stand und diese ausgiebig betrachtete.

»Komm mal rüber«, erwiderte Lorenz.

Schröder ging vorsichtig an der Leiche vorbei zu seinem Kollegen, der die Kellertür immer noch interessiert musterte. »Was gibt es?«

Lorenz deutete mit der Hand auf zwei Stellen an der alten Holztür. »Vier schwere Eisenriegel, jeweils zwei oben und zwei unten. Dann noch das da«, sagte er und zeigte abermals auf die Tür.

Schröder beugte sich etwas herab und betrachtete den massiven Panzerriegel, der mittig angebracht war. »Vier eiserne Türriegel und ein massiver Panzerriegel? Für eine Kellertür?«, fragte Schröder erstaunt.

»Für eine dicke Kellertür. Schau dir das Teil an«, sagte Lorenz.

Schröder kniff die Augen etwas zusammen. »Das sind mindestens sechs Zentimeter.«

»Da hatte aber jemand eine ziemliche Angst vor Einbrechern«, sagte Lorenz und betrachtete die Außenseite des Zugangs. »Schröder«, sagte er dann und winkte ihn auf die Kellertreppe.

Er trat zu seinem Kollegen. »Was hast du entdeckt?«

Lorenz zeigte auf ein Tastenfeld auf der Außenseite der Tür. »Digitales Code-Schloss für den Schließzylinder.«

»Ein Code-Schloss für eine Kellertür?«, sagte Schröder nachdenklich, trat wieder in den Keller und blickte zum einzigen Fenster des Raumes. »Sie hatte mit Sicherheit Angst vor einem Einbruch oder so. Das Fenster ist massiv vergittert. Hier unten kommt keiner ohne schweres Werkzeug rein.«

Lorenz sah kurz zum Kellerfenster hinüber. »Ist ja eine kleine Festung hier«, sagte er.

»Rede mit den Nachbarn. Danach schauen wir uns das Haus an. Bin gespannt, ob es genauso gesichert ist. Irgendwo muss der Täter reingekommen sein. An der Kellertür sind jedenfalls keine Spuren gewaltsamen Eindringens«, sagte Schröder und verließ den Raum.

»Guten Morgen. Schröder, Mordkommission.«

Der Nachbar schaute kurz auf die tätowierten Unterarme des Kripobeamten, nickte und bat ihn herein.

»Herr …?«, begann Schröder.

»Entschuldigung. Baumann, Karl Baumann«, sagte der Mann und streckte ihm eine Hand entgegen.

»Sie haben Ihre Nachbarin Frau Helga Schwarz gefunden?«

Der Mann seufzte. »Nein, Gott behüte. Na ja, ich habe nur heute Morgen die Kellertür offen stehen sehen.«

»Deswegen haben Sie die Polizei gerufen?«

Der Mann nickte.

»Was fanden Sie daran verdächtig?«

Wieder seufzte der Mann und setzte sich in einen altmodischen braunen Ohrensessel. »Bitte«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. »Es ist nicht so, wie Sie vielleicht denken.«

»Wie denke ich denn?«, fragte Schröder und sah Baumann verwundert an.

»Na ja. Dass ich den ganzen Tag zum Fenster rausschaue, was die Nachbarn so treiben.«

»Als Polizist bin ich froh darüber, wenn jemand ab und zu einen Blick auf seine Umgebung wirft. Aufmerksame Nachbarn konnten schon bei so mancher Verbrechensaufklärung helfen.«

Baumann nickte wieder. Er schien beruhigt zu sein. Der Hauptkommissar war sich sicher, dass Baumann öfters am Fenster stand und beobachtete, was draußen vor sich ging. Das erklärte nicht nur das Aussichtsfernrohr, das auf einem Stativ neben dem Fenster stand. Allein die Tatsache, dass Baumann das Thema überhaupt angesprochen hatte, sagte Schröder, dass er ganz gerne einen Blick aus dem Fenster warf.

»Sie war … na ja. Sie war vielleicht … ich glaube, sie war etwas verrückt. Die Schwarz, von drüben«, sagte Baumann und sah den Kripobeamten an.

»Verrückt? Woran machen Sie das fest?«

Unruhig rutschte der Mann auf seinem Sitz umher. »Na ja, sie wohnt … wohnte fast dreißig Jahre hier. Wir haben nie miteinander geredet. Sie … na ja, sie kam von der Arbeit, stieg aus dem Bus, überquerte schnell die Straße und verschwand in ihrem Haus. Morgens kam sie erst raus, wenn der Bus schon dastand. Dann eilte sie hinüber und stieg ein. Ich glaube … ich meine, die Fahrer wussten das und warteten auf sie, bevor sie wegfuhren.«

»Wann ging Frau Schwarz für gewöhnlich zur Arbeit?«, fragte Schröder.

»Die letzten Monate nicht mehr.«

»Ihr täglicher Rhythmus hat sich verändert?«

Der Nachbar zog sich eine blau-grau gemusterte Strickdecke über die Beine. »Vermutlich … na ja, ich glaube, sie war inzwischen in Rente. Ich weiß nicht, wie alt sie ist … war. Wir hatten ja keinen Kontakt und haben nie miteinander geredet.«

»Sie haben beinahe dreißig Jahre nebeneinander gewohnt und nicht miteinander gesprochen?«

Der Mann machte eine unspezifische Handbewegung und wirkte peinlich berührt. »Sie hatte mit keinem aus der Nachbarschaft Kontakt, soviel ich weiß«, sagte Baumann.

»Hatten Sie jemals Streit oder Probleme mit Frau Schwarz?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Weswegen sollten wir in Streit geraten sein? Wir hatten ja nie miteinander zu tun.«

»Was haben Sie gemacht, nachdem Sie die Polizei verständigt hatten?«

Der Nachbar schob die Decke zur Seite, stand auf und ging ans Fenster. »Ich bin hier gestanden und habe runtergeschaut, bis die Polizei eintraf. Dann kamen die Polizisten zu mir an die Tür und fragten nach … na ja … sie wollten wissen, was ich gesehen habe. Da habe ich ihnen das gezeigt.« Der Mann deutete zum Fenster hinaus und blickte zum Hauptkommissar.

Schröder erhob sich, trat zu dem Mann an die Fensterscheibe und schaute zum Nachbarhaus hinüber. Von diesem Platz am Fenster aus konnte man die obere Hälfte der Kellertür vom Türgriff aufwärts erkennen. Das kleine Haus, in dem Helga Schwarz lebte, maß höchstens acht auf acht Meter und hatte nur ein Stockwerk über dem Keller. Das Dachgeschoss sah mit seinen einfachen Dachluken nicht ausgebaut aus.

»Die Tür stand offen, obwohl es heute Morgen regnete«, sagte Herr Baumann und sah den Hauptkommissar an.

»Haben Sie Licht im Keller gesehen?«

»Licht? Nein. Um …«, der Mann schaute kurz zur Uhr. »Um diese Zeit war es schon hell.«

»Haben Sie jemanden bemerkt?«, fragte Schröder.

»Nein. Heute nicht.«

Schröder sah den Nachbarn an. »Heute nicht? Wann dann?«

Baumann blickte wieder hinaus und deutete zum Weg, der zur Haustür führte. »Vorgestern habe ich dort einen Mann entlanglaufen sehen.«

Schröder sah zu dem gepflasterten Weg, der entlang eines hohen Zaunes von der Straße zum Eingang des Hauses führte. Vom Fenster aus konnte man einen Großteil des Fußweges einsehen. Der Hauptkommissar schätze den einsehbaren Anteil des Weges auf etwa fünf Meter. Bei normaler Schrittgeschwindigkeit konnte Baumann den Mann fünf Sekunden lang gesehen haben, rechnete Schröder nach.

»Das war seltsam«, fuhr Baumann nun fort.

»Weshalb?«

Der Mann sah noch einen Moment hinaus, ehe er sich dem Kripobeamten zuwandte. »Sie hatte zu uns Nachbarn keinen Kontakt, und sie hatte nie Besuch.«

»Sie hatte in fast dreißig Jahren keinen Besuch? Oder haben Sie ihn nur nicht gesehen?«

Der Mann hob kurz die Schultern. »Da an der Seite habe ich meinen Wintergarten und die Terrasse. Man sieht von dort direkt auf den Eingang hinüber«, begann der Mann und zeigte dann auf sein Bein. »Arbeitsunfall, vor fünfunddreißig Jahren. Seitdem bin ich zu Hause und sitze meist draußen. Nie ist jemand zu Frau Schwarz gekommen. Als der Mann auftauchte und zum Haus ging, sah er sich öfters um. Zuerst dachte ich, es sei ein Paketzusteller, aber das konnte nicht sein.«

»Weshalb?«

Verwundert schaute Baumann ihn an. »Es stand kein Lieferwagen an der Straße. Die parken immer drüben in der Parkbucht. Sowieso brachte nie jemand Pakete zur Schwarz. Sogar die Post hielt nur alle paar Tage bei ihr.«

»Wie sah der Mann aus?«

Baumann blickte hinaus, als ob der Mann noch dort gehen würde. »Hatte eine Glatze. Vielleicht um die dreißig. So an die ein Meter fünfundachtzig war der Kerl schon. Schlank, breite Schultern. War bestimmt jeden Tag in so einem Kraftstudio oder wie das heutzutage heißt.«

Schröder notierte sich das und sah wieder zum Fenster hinaus. »Was hatte er an?«

Abermals hob der Mann kurz die Schultern. »Was man so trägt … na ja, die Jüngeren. Jeans, T-Shirt. Blau.«

»Wann genau haben Sie diesen Mann gesehen?«

Baumann sah reflexartig zur Uhr. »Um 13 Uhr 11 ist er gekommen und um 14 Uhr 23 gegangen.«

Schröder legte die Stirn nachdenklich in Falten, nicht nur wegen der exakten Zeitangabe des Mannes. »Das wissen Sie auf die Minute genau?«

»Ja, ich bin immer sehr pünktlich, auf die Minute, sozusagen. Deshalb schaue ich immer auf die Uhr.«

»Hat Frau Schwarz ihn reingelassen? Oder hat er sich über eine Stunde vor dem Haus rumgetrieben?«

»Na ja, das hat mich doch so verwundert. Deshalb blieb ich hier stehen. Es war das erste Mal, dass sie jemanden reingelassen hat, so viel ich mitbekommen habe.«

Und das war wahrscheinlich ziemlich viel, dachte sich der Hauptkommissar. »Hat Frau Schwarz ihn sofort hineingelassen?«

Baumann nickte. »Das war verwunderlich, wenn Sie mich fragen. Der Mann hat nur kurz etwas gesagt, und schon ließ sie ihn hinein.«

»Haben Sie gesehen, womit er gekommen ist? Bus, Auto, Motorrad?«

»Nein. Wenn er am Gehweg geparkt hat, kann man es von hier nicht sehen«, sagte Baumann und stand vom Stuhl neben dem Fenster auf.

»Haben Sie sonst noch etwas gesehen? Auch Dinge, die Ihnen unwichtig erscheinen, sind oftmals von Bedeutung«, fragte Schröder, obwohl er sich sicher war, dass der Mann alles erzählt hatte, was er beobachtet hatte – so eine Gelegenheit, darüber zu sprechen, bekam man ja schließlich selten.

Der Mann schüttelte den Kopf und ließ den Vorhang los.

»Ist Ihnen in letzter Zeit am Verhalten von Frau Schwarz etwas seltsam vorgekommen?«

»Wenn Sie mit letzter Zeit die dreißig Jahre meinen, die sie hier gelebt hat, dann ja. Ansonsten ist mir nichts aufgefallen. Sie war wie immer, huschte von ihrem Haus zum Bus oder vom Bus in ihr Haus. Bis zur Pensionierung eben, da war sie dann fast nur noch daheim. Na ja. Seltsame Frau.«

»Okay. Wenn ich noch etwas wissen muss, melde ich mich bei Ihnen«, sagte Schröder und verabschiedete sich nachdenklich.

»Ist Julia schon ins Büro gefahren?«, fragte Schröder, als er zurück am Tatort war.

Lorenz wandte sich zu ihm um und sah kurz auf seine Uhr. »Ja, vor fünf Minuten. Wolltest du noch was von ihr?«, fragte Lorenz und grinste.

Schröder ging nicht auf das Grinsen seines Kollegen ein und deutete zum Nachbarhaus. »Seltsamer Typ, dieser Baumann von nebenan. Hat von den anderen Nachbarn irgendjemand etwas gesehen?«, fragte er.

Lorenz hob seinen Schreibblock mit den wenigen Notizen hoch und wandte sich seinem Kollegen zu. »So gut wie nichts. Keiner der Nachbarn hatte anscheinend Kontakt zu der Frau. Niemand will mit ihr geredet haben. Also nie. Obwohl die Frau seit fast dreißig Jahren hier wohnte. Verstehst du das? Kein Besuch, nichts. Bis vor zwei Tagen.«

Schröder sah Lorenz an. Das deckte sich mit Baumanns Aussage. »Was war da los?«, fragte Schröder.

»Da stand anscheinend irgendein Auto unten an der Straße. Ist einem Mann, der zwei Häuser die Straße hoch wohnt, aufgefallen. Hier parken wohl selten fremde Fahrzeuge. Die Karre stand in der Nähe vom Haus der Toten. Deshalb denkt er jetzt, es könnte etwas mit dem Fall zu tun haben. Er behauptet, dass eine Person im Wagen saß und wartete, vielleicht eine Frau. Er konnte während des Vorbeifahrens nur einen kurzen Blick auf den fremden Wagen werfen. Aber es kommt ihm jetzt wichtig vor. Na ja, das läuft bestimmt wieder ins Leere, so unkonkret, wie der war. Solche Zeugenaussagen sind ja fast immer unnütz«, sagte Lorenz.

Schröder rollte die Augen. »Konnte er die Frau oder den Wagen beschreiben?«

Lorenz verzog das Gesicht. »Nein. Er war nicht mal ganz sicher, dass jemand dringesessen hat. Mit Autos kennt er sich auch nicht aus. Dunkel, höher als normale Wagen, wie so ein Van. Das war es.«

»Na gut. Komm, wir schauen uns die Wohnung an.«

Schröder und Lorenz gingen die Kellertreppe hinauf und zogen dabei ihre Plastikhandschuhe über. Sie kamen durch die Haustür direkt in einen Flur. Schröder deutete mit dem Kopf auf die Eingangstür. »Wie unten, schwerer Panzerriegel und Sicherheitsschloss.«

Lorenz warf einen kurzen Blick darauf und ging weiter die Diele entlang, die mit einer Tapete aus den achtziger Jahren in knalligen Farben ausgestattet war. Der Hauptkommissar musste bei diesem Anblick an das Haus seiner Eltern denken. Sie hatten damals in jedem Zimmer unterschiedliche bunte Tapeten angebracht, die zu jener Zeit modern waren. Das Tapetenmuster in seinem Kinderzimmer bestand aus Kreisen in verschiedenen Grüntönen, bei deren Anblick man nach einer Weile das Gefühl hatte, die Kreise würden sich drehen, wodurch einem schwindelig wurde. Er verwarf den Gedanken und blickte sich um.

An einer Seite des Flurs hing eine schwarze Jacke an einer kleinen hölzernen Garderobe. Schröder tastete das Kleidungsstück ab, fand nichts darin und folgte seinem Kollegen in den nächsten Raum.

»Schau dir das an«, sagte Lorenz und zeigte zu einem Fenster, an dem er den Vorhang beiseitegeschoben hatte.

Schröder ließ seinen Blick über den Fensterrahmen wandern. »Scharnierseitenschloss, Zusatzschloss, Sicherungsstange und ein Glasbruchmelder«, murmelte er vor sich hin, ging zum anderen Fenster des Raumes und schob auch dort den Vorhang beiseite. »Hier auch. Die gleiche Ausstattung«, sagte er.

Lorenz trat zu ihm und schaute auf die Sicherungsmaßnahmen. »Wer kerkert sich so ein?«, fragte er, ohne den Blick von den Sicherheitsvorkehrungen zu nehmen.

»Jemand, der panische Angst vor einem Einbruch hat. Oder vor einem Angriff auf sein Leben«, sagte Schröder.

Lorenz schüttelte den Kopf. »Unglaublich.«

»Und wenn doch jemand reinkommen sollte, geht die Alarmanlage los«, sagte Schröder und zeigte zu einem Bewegungsmelder, der in einer Ecke hing, und an dem alle paar Sekunden eine rote LED aufblinkte.

»Scheiße, Schröder. Was ist hier los?«

»Keine Ahnung«, antworte er und ging zum nächsten Raum, dem Schlafzimmer. »Hier ist auch jede Menge Sicherheitstechnik verbaut und an der Tür ein Panzerriegel.«

»In der Küche auch, sogar mit Gitter vor dem Fenster«, rief Lorenz.

Derjenige, der die Sicherheitsanlage geplant hatte, hatte an alles gedacht. Wollte die Bewohnerin das Küchenfenster während des Kochens zum Lüften öffnen, verhinderte das Eisengitter einen ungewollten Einstieg von außen. Vermutlich würden sie im Bad ebenfalls gesicherte Fenster vorfinden.

»Die Klappluke zum Dachboden ist mit zwei Panzerriegeln versperrt. Scheiße, Schröder, hier kommt niemand rein«, sagte Lorenz, als er zu ihm in den Raum trat.

»Hast du die Sicherheitszentrale schon gefunden?«, fragte Schröder, der sich sicher war, dass irgendwo im Haus ein kleiner Kasten zur Bedienung der Alarmanlage hing oder in der Wand eingelassen war.

»Nein. Ich schaue nach.«

Wenig später kam Lorenz zurück. »Hier«, sagte er und hielt seinem Kollegen eine Visitenkarte entgegen. »Lag in der Sicherheitszentrale. Die Alarmanlage war ausgeschaltet.«

Schröder nahm die Karte und schaute darauf. »Homberger Security«, murmelte er und gab sie Lorenz zurück. »Steck sie ein. Wir besuchen die Firma. Vielleicht hat Frau Schwarz alles nach einem Vorfall einbauen lassen«, sagte Schröder.

»Vorfall?«, fragte Lorenz, schob die Karte ein und sah sich im Raum um.

»Gut möglich, dass bei ihr schon einmal eingebrochen wurde. Ziemlich übles Gefühl für die meisten Menschen. Oder sie wurde in der Vergangenheit Opfer eines Überfalls. Kann auch sein, dass ihr außer Haus etwas zugestoßen ist und sie deshalb Angst hatte und sich hier verbarrikadiert hat. Wenn wir wissen, wann das alles eingebaut wurde, prüfen wir den Zeitraum davor auf eventuelle Straftaten, vielleicht hat sie etwas zur Anzeige gebracht. Und wenn es das nicht war: Frau Schwarz scheint ja geahnt zu haben, dass ihr etwas zustoßen könnte, vielleicht hat sie diese Sorgen mit der Firma geteilt.«

Lorenz sah sich nachdenklich um und machte eine zustimmende Geste.

»Okay, lass uns alles durchsuchen. Fang du im Wohnzimmer an, ich starte hier«, wies Schröder seinen Kollegen an.

Eine Stunde später saßen beide am Küchentisch und schauten auf die kleine Ausbeute, die darauf lag.

»Nicht wirklich viel«, meinte Schröder.

»Eigentlich nichts. Gehaltabrechnungen, Kontoauszüge, Papierkram. Kein Computer«, bestätigte Lorenz.

»Lass uns alles mitnehmen«, sagte Schröder und erhob sich.

2

»Jaahaaa«, rief Lea laut, als die Klingel ertönte. Sie sprang von ihrem Hocker und rannte zur Haustür.

»Julia!«, begrüßte sie den Besuch freudig.

»Hallo meine Süße«, sagte Valentini und strich Lea über das Haar.

Lea schnappte nach ihrer Hand. »Komm, Papi ist in der Küche und versucht zu kochen«, sagte sie und zerrte die Staatsanwältin hinter sich her.

Valentini lachte. »Oh Gott, der arme Kerl. Was gibt es denn Leckeres? Riecht ja schon mal gut«, sagte Julia und schnupperte übertrieben in Richtung Küche.

Lea lachte und machte Valentini nach. »Es gibt Spaghetti mit Gar… Garnichts oder so«, sagte Lea.

»Garnelen«, rief Schröder aus der Küche.

»Ach so«, sagte Lea und zog Valentini mit sich.

»Nicht so schnell, ich muss noch meine Jacke ausziehen.«

»Kannst du da zu meiner hängen«, sagte Lea und zeigte auf ihre Kindergarderobe, die aus sechs verschiedenfarbigen Malstiften mit runden Holzknöpfen bestand, an denen man etwas dranhängen konnte.

»Oh, danke, das ist aber nett von dir. Ist die neu?«

Stolz nickte Lea. »Ja. Papa darf da nichts hinhängen.«

»Nicht?«, fragte Julia.

»Der schmeißt seine Jacke sowieso immer irgendwo hin und sucht sie dann ewig, kennst du ja«, begann Lea und fuhr flüsternd fort. »Ich habe die auch schon mal versteckt. Aber nicht verraten.«

Valentini hob den Zeigefinger an die Lippen und schüttelte verschwörerisch den Kopf. Sie gingen in die Küche.

»Hallo Jan«, sagte Julia.

»Hi Julia.« Schröder hob kurz die Arme, nur um sie daraufhin stöhnend wieder sinken zu lassen.

»Hattest du eine Hausdurchsuchung in der Küche?«, fragte Valentini und ließ ihren Blick über die offenen Schubladen und Schranktüren wandern. Dann betrachtete sie grinsend die Arbeitsplatte, auf der sich allerhand Küchenutensilien türmten. »Was ein Mann nicht alles zum Kochen benötigt. Wenn ich mich recht erinnere, sah es in deiner Motorradwerkstatt nicht so wild aus.«

Schröder ging auf sie zu, küsste sie und drückte ihr drei Teller in die Hände. »Mit meinen Harleys kenne ich mich auch besser aus. Stell die Teller bitte ins Wohnzimmer. Ich glaube, da ist es gemütlicher«, sagte Schröder, verzog das Gesicht und schaute zum Esstisch in der Küche, auf dem halb ausgeräumte Einkaufstüten, Flaschen und Küchengeräte standen. Valentini und Lea prusteten los.

Beim Essen erzählten sie sich, was sie in den letzten Tagen erlebt hatten. Besonders Lea war eifrig dabei, Julia aus der Schule und über ihre Freunde zu berichten. Schröder kam es beinahe so vor, als ob eine Tochter mit ihrer Mutter reden würde. Julia fragte öfter nach und war eine geduldige Zuhörerin.

Nachdem die drei gegessen hatten, stießen Julia und Jan an. Lea beobachtete die beiden und grinste.

»Hat wirklich sehr fein geschmeckt«, lobte Valentini Schröder.

»Hat er alles selber gekocht«, pflichtete Lea bei.

Schröder bedankte sich lächelnd.

»So, mein kleines Monster. Für dich wird es Zeit fürs Bett«, sagte er und stand auf.

»Heute darf mir Julia etwas vorlesen«, sagte Lea und rutschte vom Stuhl.

»Oh, sehr gerne«, sagte die und lächelte Schröder kurz zu. »Dein Papa muss in der Küche sowieso noch ein bisschen aufräumen. Komm.« Julia streckte Lea eine Hand entgegen.

»Dann haben wir ja noch viiiel Zeit.«

Nachdem Lea eingeschlafen war und Schröder die gröbste Unordnung in der Küche beseitigt hatte, saßen beide mit einem Glas Rotwein auf dem Sofa.

»Was haben wir im Fall Helga Schwarz?«, fragte Julia und nippte am Weinglas.

Schröder nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Eigentlich trank er keinen trockenen Wein, aber es war Julias Lieblingswein. Er stellte das Glas ab und lehnte sich zurück. »Der Hauptverdächtige, dieser glatzköpfige Mann, konnte noch nicht identifiziert werden. Großmann versucht, mit dem Nachbarn ein Phantombild zu erstellen. Wird nicht ganz einfach.«

Julia tupfte sich mit einer frischen Serviette den Mund ab. »Was hältst du von diesem Nachbarn?«

»Baumann? Seltsamer Typ. Hat ständig das Haus von der Schwarz beobachtet«, sagte Schröder.

»Hältst du ihn für verdächtig?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wir überprüfen ihn, aber mein Instinkt sagt mir, wie können ihn von der Liste streichen. Er hatte nie Kontakt zu ihr, genauso wenig wie die anderen Nachbarn.«

Julia nippte wieder an ihrem Weinglas. »Aber vor irgendjemandem hatte sie Angst. Vielleicht vor einem der Nachbarn? Wäre nicht so abwegig.«

Schröder nahm sein Glas in die Hand und hielt es wie ein Weinkenner, der den Glyzeringehalt prüfte. Julia schüttelte lachend den Kopf.

»Entweder war sie eine Sicherheitsfanatikerin, oder sie hatte tatsächlich Angst. Gut möglich, dass sie in der Vergangenheit Opfer eines Einbruchs oder Überfalls geworden ist. Wir prüfen das noch. Sich so zu verbarrikadieren, ist eher ungewöhnlich, sie wohnte ja in einer guten Gegend. Zumindest, wenn man Spießer und Spanner für gute Nachbarschaft hält«, sagte er, stand auf, legte auf einem alten Plattenspieler eine Scheibe mit Rock’n’Roll-Klassikern auf und ging etwas im Zimmer umher. »Sie hat nach fast dreißig Jahren keinen Kontakt zu den Nachbarn, keine Verwandten, keine Freunde, die sie besuchen. Dann taucht plötzlich ein Mann auf, und zwei Tage später ist sie tot. Was wollte der von ihr?«, sagte Schröder und musterte Julia. Jetzt erst fiel ihm auf, was sie für ein raffiniertes Kleid anhatte. Ein langer Schlitz ging vom Oberschenkel hinunter und gab den Blick auf ihre langen Beine frei. »Hübsches Kleid.«

Julia lächelte.

»Danke. Aber warum hätte er die Frau erst zwei Tage später töten sollen? Warum nicht sofort, wenn er schon mal da ist?«

Schröder setzte sich wieder. »Vor allem, wenn er schon mal im Haus ist. Ich frage mich, wie der Mörder in diese Festung kam und warum die Kellertür offen stand?« Er griff nach dem Weinglas.

»Der Täter wird durch diese Tür geflüchtet sein und hat sie in der Hektik offen stehen lassen.«

Schröder schüttelte den Kopf. »Wir haben keine fremden Fingerabdrücke daran gefunden.«

»Handschuhe?«, mutmaßte Valentini.

»Eher nicht. Es gab auch keine typischen Handschuhspuren an der Tür, auch keine Wischspuren. Möglich wäre nur, dass der Täter die Tür von innen geöffnet hat. Aber wie kam er dann in das Haus?«

»Wenn es derselbe Mann war wie zwei Tage zuvor, warum sollte sie ihn dann nicht ein zweites Mal hereinlassen?«, sagte Valentini.

»Also hat sie ihren Mörder gekannt oder erwartet. Dementsprechend deutet alles darauf hin, dass es derselbe Mann war.«

»Vielleicht hat der Mörder sie auch dabei überrascht, wie sie den Müll rausbrachte oder so?«

»Ihre Mülltonne steht in einem Unterstand direkt neben der Straße. Das Haus und der Keller sind hoch gesichert. So jemand lässt nicht einfach unachtsam die Kellertür auf und werkelt herum«, entgegnete Schröder.

»Ist es denkbar, dass sie beim Verlassen oder Betreten des Hauses überrumpelt wurde?«, fragte Julia.

»Daran habe ich auch bereits gedacht. Erscheint mir die einzig logische Erklärung, wenn man an die Sicherungsmaßnahmen im Haus denkt. Aber warum erschießt der Täter sie dann nicht im Hausflur? Warum geht er mit ihr in den Keller? Und ging sie ohne weiteres mit, ohne sich zu wehren?«

Julia trank einen Schluck und stellte das leere Glas ab. Schröder schenkte nach und lehnte sich nachdenklich im Sofa zurück.

»Die Position der Leiche«, sagte er.

»Was ist damit?«, fragte die Staatsanwältin.

Schröder nippte wieder am Rotwein, verzog abermals das Gesicht, und Julia lachte.

»Mich stört es nicht, wenn du dir eine Cola-light einschenkst.«

»Gute Idee«, sagte Schröder, stand auf, holte eine Flasche aus dem Kühlschrank, schob das Weinglas zur Seite und goss sich etwas Cola-light ein.

»Wo waren wir?«, fragte er.

»Die Position der Leiche.«

»Okay. Sie lag so, dass man annehmen muss, dass der Schuss aus Richtung der Kellertür erfolgte. Zumindest muss der Täter aus dieser Richtung an sie herangetreten sein.«

»Was die offene Tür erklären würde.«

»Richtig. Aber wie kam der Täter durch diese gesicherte Tür?«

»Ich glaube, das Opfer hat aus irgendeinem Grund die Tür geöffnet oder offen stehen lassen. Vielleicht war sie mit Gartenarbeit beschäftigt? Oder sie hat aus irgendeinem Grund das Haus durch die Kellertür betreten, und der Täter ist ihr bis hinunter gefolgt. Das würde auch die Lage der Leiche erklären. Vielleicht wollte sie etwas im Keller abstellen, bevor sie nach oben in die Wohnung ging«, mutmaßte Valentini.

»Wäre denkbar. Allerdings haben wir im Keller nichts auf dem Boden gefunden, das sie hat fallen lassen. Ihre Kleidung deutete auch eher daraufhin, dass sie nicht gerade erst nach Hause gekommen war. Sie hatte keine Jacke oder eine Handtasche dabei.«

»Kannst du dich noch erinnern, Jan, was sie für Schuhe trug?«

Schröder dachte nach. Im Bericht waren alle Kleidungsstücke aufgeführt, die Helga Schwarz getragen hatte, als sie aufgefunden wurde. Aber er konnte sich nicht an die Schuhe erinnern. »Nein. Muss ich noch mal in der Akte nachsehen. Ich bin mir aber sicher, dass es keine Hausschuhe waren. Ich glaube, eher so leichte Schuhe. Wie Sportschuhe.«

»Also hat der Täter gewartet, bis sich eine Tür geöffnet hat, und ist dann eingedrungen«, war sich die Staatsanwältin sicher.

»Würde aber bedeuten, dass der Täter vorm Haus gewartet hat, bis sich irgendwo eine Tür öffnete. Das kann ich mir nicht vorstellen in einer Nachbarschaft, in der Leuten schon fremde Autos auffallen. Er muss irgendwie schnell dort reingekommen sein.«

»Du musst den Mann finden, der sie besucht hat. Das ist die heißeste Spur«, sagte Valentini und nippte an ihrem Rotweinglas. »Sie war anscheinend immer allein«, begann sie und machte eine unbestimmte Handgeste. »Das bedeutet, fremde Spuren im Haus könnten theoretisch direkt dem Täter zugeschrieben werden.«

Schröder nickte zögerlich. »Vermutlich ja.«

»Gut. Dann lassen wir den kompletten Kellerraum, wenn nötig das komplette Haus auf Faserspuren und DNS untersuchen«, sagte Valentini.

Schröder sah überrascht auf. »Alles? Okay, du hast das Sagen.«

Julia stellte das Glas ab und umarmte Schröder. »Offiziell habe ich das Sagen, aber hat dich das schon mal bei deinen Alleingängen interessiert?«, flüsterte sie und biss ihm sanft ins Ohr.

Schröder lächelte. »Was macht eigentlich deine Scheidung?«

»Frag besser nicht«, antwortete sie und beschäftigte sich weiter mit seinem Ohr. »Und deine Beförderung zum Kripochef?«

»Frag besser nicht«, antwortete Schröder und wandte sich ganz Julia zu.

3

Ole Jansen beugte sich zu dem röchelnden Mann hinunter und packte ihn an der Schulter.

Der Mann stöhnte auf. Oles Blick wanderte zu den zwei Wunden in Brust und Hals, aus denen das Blut quoll, viel zu schnell. Er hatte vermutlich nicht mehr viel Zeit, um alles von ihm zu erfahren, was er so dringend wissen musste. Würde der Mann vorher sterben, wäre alles komplizierter. Vielleicht wären sogar alle Spuren für immer verwischt. Ole ging ganz nah an das Ohr des Verwundeten heran. »Zum letzten Mal. Reden Sie«, drohte er.

Der Mann stöhnte und bewegte die Lippen etwas. Es kamen aber keine Worte heraus, nur blutiger Schaum.

»Wenn Sie endlich reden, gebe ich Ihnen das«, sagte Jansen und hielt ein Telefon vor das Gesicht des Verwundeten. Der Mann fixierte mit trüben Augen das vielleicht rettende Telefon und versuchte, einen Arm zu heben, um nach dem Hörer zu greifen, gab aber stöhnend wieder auf und schloss die Augen.

»Na los, komm schon. Mach das Maul auf«, knurrte Ole und beugte sich noch näher zu dem stark Blutenden. Dieser öffnete die Augen wieder und schien zur Decke zu starren. Abermals versuchte er zu sprechen. Versuchte, den Mund zu bewegen. Seine Augen wanderten zum Telefon, so dass das Weiße, das gelb getrübt war, zu sehen war. Der Mund begann sich langsam, fast schon rhythmisch zu bewegen. Wort für Wort formte er mit zittrigen Lippen.

»Weiter. Rede weiter«, flüsterte Ole und blickte dabei auf das Blut, das aus den Wunden floss und dem Mann mit jeder Sekunde etwas mehr Leben nahm. »Ich brauche einen Namen, los!«, forderte Ole und stieß den Mann an die Schulter.

Wieder bewegte der Verletzte die Lippen, und Ole Jansens Ohr berührte diese beinahe, so dicht war er am Mund des Mannes, wohlwissend, dass dieser bald keinen Ton mehr sagen würde.

Nach einiger Zeit richtete sich Ole auf und sah auf den Verwundeten hinab. Er verzog den Mund, tippte eine Nummer in das Telefon und betätigte die Anruftaste. »Hier. Viel Glück«, sagte er und legte den Hörer auf die Brust des Mannes. Ole stand auf, eilte zur Tür und sah sich noch mal zu dem Mann um, der versuchte, in das Gerät zu sprechen. Immer wieder formten seine Lippen lautlose Worte.

Ole wandte sich ab und verließ das Haus mit schnellen Schritten.

»Fahr los«, sagte er, noch bevor er richtig auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

4

Die Sicherheitsfirma betrieb ein Ladenlokal am Ende einer Geschäftsstraße, die mit alten Häusern bebaut war. Eine endlose Schlange Fahrzeuge schob sich durch die enge Straße und hinterließ an den Fassaden der Gebäude ihre Spuren. Überall war der Putz schmutzig und bröckelte an vielen Stellen ab.

Durch die Tür betrat man direkt den Verkaufsraum, in dem die aktuellste Sicherheitstechnik ausgestellt war. Nach hinten hinaus ging es zu einer Werkstatt, einer kleineren Lagerhalle und den Parkplätzen für die Firmenfahrzeuge, zumeist Lieferwagen und Kombis.

Schröder fuhr am Gebäude vorbei, bog in die Nebenstraße ein und warf beim gemächlichen Vorbeituckern einen Blick in den Hinterhof. Hundert Meter weiter wendete er, fuhr zurück und parkte die Harley auf dem Gehweg vor einem der Schaufenster. Beim Absteigen bemerkte er, wie zwei Mitarbeiter zu ihm heraussahen.

Lorenz war im Büro geblieben und recherchierte im Netz über den Betrieb und seinen Inhaber. Sollte er etwas Auffälliges entdecken, würde er ihn anrufen.

»Guten Tag«, sagte Schröder, als er den Laden betrat.

Inzwischen war einer der beiden Mitarbeiter wieder im rückwärtigen Bereich verschwunden, und der andere stand hinter einer breiten Theke, an deren linker und rechter Seite Verkaufsständer mit kleinen Sicherheitsartikeln für Schlüsselanhänger oder die Handtasche standen.

»Hallo. Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mitarbeiter.

Schröder zog seinen Dienstausweis heraus und hielt ihn dem Mann entgegen. »Schröder, Kripo. Ich möchte den Eigentümer sprechen. Das ist doch Falk Homberger, oder?«

»Ja. Und seine Frau Petra Homberger. Heute ist aber nur der Chef da.«

Der Hauptkommissar steckte den Ausweis weg, und der Mann hinter der Theke blickte auf die Schusswaffe, die Schröder in einem Gürtelhalfter trug. »Können Sie ihn holen?«

»Wie bitte?«, fragte der Mann und hob seinen Blick wieder.

»Ob Sie eventuell den Chef holen könnten?«, wiederholte Schröder.

»Ach so, sicher. Moment«, sagte der Mitarbeiter und verschwand.

Kurz darauf betrat ein untersetzter Mann den Geschäftsraum. Er trug eine Lesebrille an einem goldenen Kettchen um seinen Hals, die vor seiner Brust im Takt der Schritte wippte. »Homberger. Schönen guten Tag. Sie sind von der Kripo, hat Jakub gesagt. Stimmt das?«

»Wenn er Jakub ist«, sagte Schröder und deutete zu dem Mann, der wieder hinter dem Verkaufstresen stand und die beiden beobachtete.

Homberger sah zu seinem Mitarbeiter und machte eine Kopfbewegung, die den Mann dazu veranlasste, den Verkaufsraum zu verlassen.

»Wissen Sie, ich beschäftige schon immer Menschen aus Osteuropa, hauptsächlich aus Polen, um genau zu sein«, sagte der Eigentümer und begann zu lachen. »Aber nicht, weswegen Sie vielleicht denken. ›Kaum gestohlen, schon in Polen.‹ Nein, nein. Meine Mutter und mein Großvater mütterlicherseits stammten aus Polen. Deshalb greife ich den Landsleuten unter die Arme und helfe, wo ich kann. Ich habe sogar einen Verein zur Unterstützung von Spätaussiedlern gegründet. Zwei Jungs von denen machen eine Lehre bei mir. Anständige Kerle, kann ich Ihnen sagen«, führte Homberger aus und zog plötzlich die Augenbrauen zusammen. »Weswegen sind Sie eigentlich hier? Doch nicht wegen einem meiner Mitarbeiter? Oder braucht die Polizei Sicherheitstechnik? Haben wir alles da. Schauen Sie mal hier, ganz neu. Verdammt gut. Damit können Sie …«

»Herr Homberger?«

»Ja?«, sagte der Mann und sah von der Schachtel auf.

»Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Ach so. Ja, sicher«, bestätigte er und stellte den Karton wieder ins Regal.

»Sagt Ihnen der Name Helga Schwarz etwas?«